Nimmt sich das Europa der Union, ohne es zu wissen, vielleicht seine wohlige Müdigkeit übel, auf die als Anrecht es sonst besteht? (Bild: Manu Fernandez / AP)

Nimmt sich das Europa der Union, ohne es zu wissen, vielleicht seine wohlige Müdigkeit übel, auf die als Anrecht es sonst besteht? (Bild: Manu Fernandez / AP)

Gastkommentar

Europa verwaltet bloss noch seinen vergangenen Ruhm. Nie fragt es sich, wo es heute steht

Der Beobachter von aussen fragt sich: Woher kommt so viel Unzufriedenheit, Dysphorie und Ressentiment in einem riesigen Gemeinwesen wie Europa, das die Vorteile des Wohlfahrtsstaats doch so erfolgreich verwirklicht hat?

Hans Ulrich Gumbrecht
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Dr. Kurt Fina, dem Lateinlehrer, lag Europa am Herzen – im Herbst 1958, am Beginn unserer Gymnasialzeit, acht Jahre nachdem der französische Aussenminister Robert Schuman mit grosszügiger Geste dem deutschen Kanzler Konrad Adenauer eine aktive Zusammenarbeit zwischen ihren seit Jahrhunderten unversöhnlichen Nationen angeboten hatte. Lateinische Grammatik, sagte Dr. Fina, sollten wir lernen, um uns anhand des römisch-antiken Reichs ein Europa der Zukunft als geeinten Erdteil vorstellen zu können.

So einleuchtend diese Worte schon für uns Zehnjährige klangen, wirklich faszinierend an der lateinischen Kultur fanden wir eher das, was ganz verschieden von der eigenen Welt wirkte: die bunten Götter und ihre bizarren Geschichten, Gladiatorenkämpfe mit tödlichem Ende oder Cäsar, der seine Legionen durch Wälder und Sümpfe mitten in unserem Europa geführt hatte. Dr. Fina, erfuhr ich später, war 1924 als «Sudetendeutscher» geboren worden und gehörte so zu einer Minderheit in der damaligen Tschechoslowakei, die nach Kriegsende nicht bleiben durfte. Leute wie er hatten allen Grund, sich nach einer neuen europäischen Heimat zu sehnen.

Aus freundlicher Distanz

Für mich hingegen blieb diese Idee immer nur auf freundlicher Distanz. Als ich über das letzte Gymnasialjahr auf ein Lycée in Paris gehen durfte, wünschte ich mir nichts mehr als ein Frankreich, das anders als mein Zuhause schmeckte. Weil aber solche Alternativen in Europa immer weniger zu haben waren, bin ich 1989 nach Kalifornien gezogen. Am Pazifik vermisst niemand Europas diskret dunkelblaue Flagge und die an sie gehefteten Bilder von angenehmer Zukunft. Aus dem Silicon Valley, unserer Intensitätswirklichkeit des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts, blicken wir nach Osten zurück – aus freundlicher Distanz eben und oft mit Erstaunen.

Immer weniger Universitäten von Weltrang sehen wir – von ein paar Schweizer Ausnahmen abgesehen – auf dem alten Kontinent, der sich weiter für das intellektuelle Zentrum des Planeten hält, immer weniger Entdeckungen, welche die Welt verändern, kaum Autoren, Künstler und Musiker, die uns provozieren, so wie Dante, Hodler oder Beethoven ihre Zeitgenossen aufgeweckt haben, immer weniger Bereitschaft vor allem, in Institutionen und Prozesse der Bildung zu investieren. Mit jedem grossen Europäer, der stirbt, scheint eine Epoche zu Ende zu gehen, es folgen bloss Kuratoren, die vergangenen Ruhm in Museen und Gedenktagen zu Tode verwalten. Keiner fragt in den schwelgenden Feiern dieses Bauhaus-Gedenkjahrs, wo denn das Bauhaus von heute steht. Stattdessen wärmt man sich am Feuerchen der Schadenfreude, wenn Tesla als möglicher Konkurrent der europäischen Autoindustrie in die finanzielle Bredouille gerät oder der amerikanische Präsident vom orangen Haar wieder einmal sein Land und dessen Bürger blamiert.

Inzwischen setzen die Medien und viele Vordenker Europas ohnehin auf China. Jeder statistische Indikator, der dokumentiert, wie die Volksrepublik in Wirtschaftsvolumen, militärischer Schlagkraft oder Potenzial bei elektronischen Entwicklungen den Vereinigten Staaten näher kommt, wird mit Euphorie ohne Ambivalenz begrüsst. Länder mit nationalen Geschichten wie Italien, Spanien oder Deutschland halten sich für Horte der Demokratie und mithin für berechtigt, das Fehlen öffentlichen Raums und demokratischer Institutionen in China zu übersehen. Wen würde denn die Europäische Union, fragen wir ehemalige Europäer, heute unterstützen, wenn es zu einem militärischen Konflikt in der Weltpolitik käme (einmal vorausgesetzt, ihre Nationen könnten sich überhaupt zu einer Intervention entschliessen)?

Gigantische Mechanismen der Umverteilung

Falls wir nicht nach Hawaii in die Strandferien fliegen, buchen wir gerne europäische Kulturferien, um wieder einmal überwältigt zu werden von der einzigartigen Vielfalt der Sprachen und Stile im vergleichsweise begrenzten Raum. Anders als zwischen unseren Küsten gibt es in Italien eben nicht überall Pizza; Bier schmeckt in Pilsen anders als in Dortmund oder München; und der Tag fängt in Spanien viel später an als in Portugal. Doch wissen die europäischen Institutionen den Schatz solcher Differenzierung zu erhalten oder gar für die Zukunft zu nutzen? Hat die berüchtigte Bologna-Reform nicht alle Ausbildungssysteme beschädigt, die sich auf sie eingelassen haben – und deshalb langfristig auch die Kulturen, zu denen sie gehören? Ansteckenden Überdruss an den Klassikern hat Bologna verbreitet statt neuer Leidenschaft.

Ihre wahre Stärke allerdings, die Matrix der politischen Einheit, liegt in einem breiten Konsens unter den Bürgern der Europäischen Union, der von innen oft übersehen wird. Weitgehend unabhängig von den eher schlapp zentrifugalen Diskursen der alten und neuen Parteien, ist die wirkliche Einigkeit eine Option für den Sozialstaat. Gigantische Mechanismen der Umverteilung sorgen weitgehend erfolgreich dafür, dass sich nur wenige um ein menschenwürdiges Leben sorgen müssen, während Reichtum kaum über die Grenzen der Vorstellung schiesst. Sozialdemokratie – ich sage gerne «Sozialdemokratismus», weil der Status kaum mehr von Parteien dieses Namens abhängt – ist heute der Fall in Europa. Und über die vergangenen Jahrzehnte hat sich Sozialdemokratismus mit einer Priorität ökologischer Werte und mit den Massnahmen ihrer Durchsetzung fusioniert. Trennmüll, Nachhaltigkeit, Gesundheitsprävention.

Hans Ulrich Gumbrecht, Publizist und Literaturprofessor an der Stanford University. (Bild: NZZ)

Hans Ulrich Gumbrecht, Publizist und Literaturprofessor an der Stanford University. (Bild: NZZ)

Keine Form von Staatlichkeit und Gesellschaft vielleicht hat je so breite durchschnittliche Zufriedenheit beschert wie der Ökosozialstaat, und längst ist er zu der als «Ethik» (ein Lieblingswort heute) zementierten Norm des Lebens in Europa geworden. Gelitten hat dabei die Bereitschaft, andere Rhythmen und Prioritäten des Lebens wenigstens (als «Stress» oder «Risikobereitschaft») hinzunehmen, wenn man sie schon nicht akzeptieren kann. Wehe jener schmalen Mehrheit von Wählern im Vereinigten Königreich, die für den Brexit stimmte! Man hat festgestellt, dass sie weder jung ist noch in grossen Städten lebt – und zur Strafe ihre politische Urteilsfähigkeit infrage gestellt.

Als umso erstaunlicher und tatsächlich rätselhafter beeindruckt uns freundlich geneigte Ausländer deshalb der massive Eindruck, dass die EU-Europäer – ganz im Gegensatz zu den Skandinaviern an ihrer Peripherie, die Jahr für Jahr den Uno-Wettbewerb um die «glücklichsten Gesellschaften» gewinnen – derart dysphorisch und paradoxerweise unzufrieden mit dem Leben sind, an dem als Idee und Form sie doch so hängen. Positiv schätzen sie in der EU allein «Schengen» ein, die Aufhebung aller Grenzkontrollen – und die permanente Erweiterung ihres Arbeitsmarkts. Aber wer schimpfte in den Mitgliedsländern eigentlich nicht über den teuren «Wasserkopf» der EU-Bürokratie und über das «Gestrüpp» von Gesetzen und Verordnungen, das sie erlassen hat. Wirtschaftspolitisch hängen die Wähler in den zentralen und vergleichsweise starken Nationen der EU (in Deutschland und Frankreich vor allem) dem Eindruck an, Länder wie Griechenland (vor allem), Portugal und sogar Italien «durchfinanzieren» zu müssen, während mir andererseits auf Plakaten zur Europawahl in Portugal auffiel, dass dort alle Parteien die nationale Ökonomie gegen die Grossen zu schützen versprachen.

Wohlige Müdigkeit

Woher kommt so viel Unzufriedenheit, Dysphorie und Ressentiment in einem riesigen Gemeinwesen, das die Vorteile des Wohlfahrtsstaats wahrscheinlich flächendeckender und qualitativ erfolgreicher verwirklicht hat als irgendeine Vorgängerinstitution in der Menschheitsgeschichte? Nimmt sich das Europa der Union, ohne es zu wissen, vielleicht seine wohlige Müdigkeit übel, auf die als Anrecht es sonst besteht? Könnte das individuelle und kollektive Streben nach «stressfreiem» Leben zu einem Absinken der existenziellen Intensitäts-Amplituden unter ein Niveau geführt haben, das man zu glücklichem Leben braucht? Immerhin haben der Versorgungsstaats-kritische Diskurs von Emmanuel Macron und sein Verweis auf die «Müdigkeit Frankreichs» dort die Protestbewegung der «gilets jaunes» heraufbeschworen, deren Energie, Innovationskraft und Entschlossenheit man bewundern musste, wenn man ihre Ziele nicht billigte.

Es scheint, wie man sieht, kaum vermeidbar, sich auf dem Niveau von Stammtischspekulationen zu verlieren, wenn man nach den Gründen der EU-Dysphorie fragt. Als Ausweg kommt mir eine dialektische Reaktion von Peter Sloterdijk in den Sinn, die an meine Kindheitserinnerung von der schon damals eher müden Reaktion auf Europa anschliesst. Die Stärke der EU, sagt Sloterdijk, liege gerade in ihrer Mittelmässigkeit, hinter der sie mit unsichtbarer Effizienz den politischen und wirtschaftlichen Alltag ihrer Gesellschaften abwickelt, ohne jene leidenschaftlichen Gefühle und Visionen zu wecken, die in der Vergangenheit Millionen von Individuen in die Verzweiflung getrieben und Weltkriege ausgelöst haben. Diese Pointe hat beträchtlichen Erklärungswert – aber hilft noch lange nicht aus der Dysphorie.

Der Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Referats, welches Hans Ulrich Gumbrecht am NZZ-Podium Bayern vom 22. Mai 2019 gehalten hat.



«Europa hat die beste Lebensqualität der Welt und trotzdem herrscht Untergangsstimmung. Wie passt das zusammen?»

Untenstehend finden Sie fünf Antworten aus dem NZZ-Podium vom 22. Mai im Literaturhaus München. Es sprechen der Literaturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht, der frühere CSU-Politiker Peter Gauweiler, der Wirtschaftsprofessor Hans Gersbach, der Schriftsteller Jonas Lüscher sowie die grüne Politikerin Katharina Schulze.