Wer nicht ins Bild passt, wird fotografiert und gepostet: Was die App Nextdoor mit Nachbarschaften in San Francisco macht

Nextdoor heisst die weltweit grösste Nachbarschafts-App. Wenn sich die Menschen gegenseitig helfen, ist dies eine tolle Sache. Doch aus der Hilfe für Nachbarn wird schnell eine Überwachung aller Nichtnachbarn: In San Francisco lässt sich beobachten, wie sich die Stadt in homogene Gruppen auseinanderdividiert.

Adrian Daub
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Beobachter beobachten die Beobachter: Szene in einem Quartier in San Francisco, Kalifornien. (Bild: Preston Gannaway/ Getty)

Beobachter beobachten die Beobachter: Szene in einem Quartier in San Francisco, Kalifornien. (Bild: Preston Gannaway/ Getty)

Die Suburbanisierung der USA ist eine dominante soziologische Entwicklung der Nachkriegszeit. Während des Booms der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts verlagerten sich der Reichtum des Landes, seine Ober- und Mittelschicht und der politische Schwerpunkt aus den langsam zerfallenden Städten in die sich um sie bildenden Speckgürtel. Im 21. Jahrhundert hat sich diese Entwicklung weitgehend umgekehrt – Amerikas Städte wachsen wieder, die Suburbs verlieren vielerorts an Prestige und Bevölkerung. Und doch: Auf kultureller Ebene hat die Suburbanisierung nie aufgehört.

Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete eine grosse Nivellierung. In den Suburbs wurde das Lokale grossgeschrieben, aber zugleich wurden die Suburbs im ganzen Land immer austauschbarer. Die Werte, Hoffnungen und Ängste einer Familie in den Suburbs von Houston ähnelten denen in einer Suburb von Trenton oder San Diego mehr als jenen der sie direkt umgebenden Dörfer und Städte.

Diese Suburbanisierung hat die Balkanisierung der USA durch das Internet vorweggenommen. Genauso wie Erstere disparate Gegenden miteinander gleichschaltete, hat das Internet Lebensmuster universell übertragbar gemacht. Die Rückübertragung suburbaner Werte und Ängste auf urbane Räume: So kann man Gentrifizierung beschreiben. Dass Gentrifizierung gerade im Zeitalter der Digitalisierung an Tempo zunimmt, wäre dann kein historischer Zufall.

Nextdoor, der neue Traum

Rezensionsplattformen wie Yelp stülpen dem quirligen urbanen Raum eine suburbane Gleichförmigkeit über: Alles wird danach beurteilt, wie es auf jenen Typ Mensch wirkt, der Zeit und Musse hat, sich über einen schlechten Burrito oder eine unfreundliche Bedienung online das Maul zu zerreissen. Und das bedeutet in den USA immer auch, dass die Werte der weissen Mittelschicht jenen Quartieren wieder übergestülpt werden, die diese Mittelschicht in den Nachkriegsjahren fluchtartig in Richtung Suburbs verliess.

Das Startup Nextdoor ist eine Art Facebook nur für Menschen, die nachweislich in derselben Nachbarschaft leben. «Das private soziale Netzwerk für Ihre Nachbarschaft», so preist sich das in San Francisco angesiedelte Unternehmen selbst an. Und obwohl die App in dichteren urbanen Räumen besser funktioniert, bemühte Nextdoor von Anfang an die Bilderwelt der Suburbs: um das Lebensgefühl der amerikanischen Sitcom «Leave it to Beaver» («Erwachsen müsste man sein») gehe es, so der Mitgründer und frühere CEO des Startups, Nirav Tolia. «Leave it to Beaver» hat in den fünfziger Jahren den USA den Traum einer ethnisch homogenen, sterilen Suburb auf die Fernsehbildschirme gebannt.

Nicht nur Bürger nutzen die Plattform, auch die städtische Polizei nahm sie gerade in der technophilen Bay Area früh als Gelegenheit wahr, mit den Bürgern in direkten Kontakt zu treten. Nur, dass als Bürger in diesem Fall nur jene gelten, die über ein Smartphone, die nötige Zeit und die nötigen Englischkenntnisse verfügen, um sich auf Nextdoor tummeln zu können. In Seattle gab es gar virtuelle «town halls», also Treffen mit der Gemeinde – repräsentiert wiederum durch jene Mitbürger, die ein Konto bei der App oder auf der Website haben. Presse durfte nicht dabei sein, denn das Event war privat und nur für jene zugänglich, die auch in der Neighborhood wohnten.

Überwachung durch die Crowd

Die App und die Website lassen sich für Kauf und Verkauf, für nachbarliche Hilfe nutzen, aber eben auch zum Zweck der Überwachung: Menschen, die nicht aussehen, als gehörten sie in die Nachbarschaft, werden schnell abfotografiert, und das Bild wird bei Nextdoor gepostet, im Sinne einer Personenkontrolle via Crowdsourcing. Oder als Warnung an die Gemeinde, wiederum repräsentiert durch die User der App. Selbsternannte Hilfssheriffs mit Extra-Freizeit nehmen sich dann sehr gern der als Aussenseiter Gekennzeichneten an – oder gleich die Polizei.

Es wird keinen überraschen, dass Nextdoor schnell die in den USA unterirdisch grassierenden Rassismen der eigenen User zutage förderte. Jene Nutzer, die die Zeit und Energie aufbrachten, auf Nextdoor die Nachbarschaft zu überwachen, waren tendenziell wohlhabend und etabliert. Und jene, um die sie sich Gedanken machten, waren zumeist Afroamerikaner oder Latinos, sie waren jung und sahen eben nicht so aus wie die User-Basis der App. Das bedeutete im Endeffekt, dass Menschen in ihrer eigenen Stadt unter Observierung durch Mitbürger standen, ohne dies zu wissen. Schöne neue App-getriebene Zivilgesellschaft!

Gerade in Gegenden wie San Franciscos Mission District führt dies dazu, dass wohlhabende Neuankömmlinge Alteingesessene observieren und als potenzielle Eindringlinge behandeln, die die gewünschte Ruhe und Ordnung stören. Die dazwischengeschaltete Technologie nobilitiert diese paradoxe Konfiguration: Dank Nextdoor werden die Ängste der Hinzugezogenen zu den Ängsten aller Bürger schlechthin. Wer die Deutungshoheit über die Ängste hat, hat die gesellschaftliche Macht.

Es gibt mittlerweile Dienste, die einen über in der eigenen Gegend lebende Straftäter informieren. Andere verticken Festnahmebilder. Dank den überall vorhandenen digitalen Sicherheitskameras – wie zum Beispiel denen der Google-Tochter Nest – lassen sich Bilder von misstrauisch stimmenden Menschen schnell und bequem in sozialen Netzwerken verbreiten und sind dann dank Nextdoor schnell von anderen Menschen kommentierbar. Eine online geformte Monokultur arbeitet sich so an der Realität der multiethnischen amerikanischen Stadt ab – und macht diese ein weiteres Stück irrealer.

Suburbane Ängste wirkten schon immer homogenisierend: Sie bezogen sich auf das Fremde, also auf das, was nicht in die Nachbarschaft passte. Und die Stadtplanung der kalifornischen Suburbs, mit ihren undurchsichtigen Strassenführungen, mit ihren gleichlautenden und nichtssagenden Strassennamen und ihrer beharrlichen Abwehr des öffentlichen Nahverkehrs, sollte ebenjenes Fremde fernhalten. Das Internet erlaubt es nun, dieses Homogenitätsbedürfnis auf urbane Räume auszudehnen.

Die Macht der Angst

Durch bürgernahe Dienste und drakonische Gesetze hat San Francisco längst das Leben seiner geschätzt 8000 Obdachlosen in einen Spiessrutenlauf verwandelt – das Herumliegen auf öffentlichem Raum ist verboten, doch wird das Verdikt praktisch nur auf Obdachlose angewandt. Und wenn ein Hausbesitzer demonstrativ nicht die Ordnungshüter anruft, weil es ihn nicht stört, dass ein Obdachloser vorm Eigenheim schläft, dann rückt ihm schnell die Nachbarschaft auf die Pelle – per Nextdoor. Eine Lösung, wohin die Obdachlosen denn sollen, bietet keiner an – nur da, wo sie gerade sind, dürfen sie nicht sein. Weil eben die Angst der einen mehr zählt als die Angst und Not der anderen.

Wenn wir die Privatsphäre anderer spasseshalber verletzen, dann ist das Problem relativ leicht erkennbar. Es kann gut sein, dass sich die Gepflogenheiten von Privatheit und Öffentlichkeit unter dem Druck der sozialen Netzwerke langsam ändern, aber generell verstehen wir, dass wir nicht andere ohne ihre Erlaubnis abfotografieren und die Bilder ins Netz stellen dürfen. Es sei denn . . . ja, es sei denn, wir tun es aus Angst. Angst nobilitiert Voyeurismus. Wenn wir nur genug Angst haben, dürfen wir alles.

Angst kann in den USA fast alles legitimieren, weshalb das Recht, Angst zu haben, auch eifersüchtig gehütet wird. Wenn Angst einem eigentlich alles erlaubt, wer würde sie sich also abgewöhnen wollen? Derjenige, der Nextdoor nur für Heimwerkertipps verwendete, derjenige, der seine Nest-Kameras nur auf den eigenen Garten richtete, derjenige, der den Obdachlosen ohne Panik begegnete, ist eigentlich der Dumme. Denn die Technologien der Angst erlauben ihm viel mehr.

Man hört häufig von Politikern, dass man die Ängste der Menschen ernst nehmen müsse. Aber umgekehrt lehrt die technologische Armatur, die unsere Ängste bewirtschaften hilft, etwas anderes: Wer definiert, wessen Angst zählt und wessen Angst nichts gilt, hat die gesellschaftliche Macht.

Adrian Daub ist Professor für Literaturwissenschaften an der Stanford University.