Kolumne

Der Mythos von Europas Macht

Wer die Welt – bis zum Zweiten Weltkrieg – beherrscht hat, waren europäische Staaten. Aber nicht als Kollektiv, sondern als Konkurrenten.

Ulrich Speck
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Ulrich Speck arbeitet als Senior Visiting Fellow beim German Marshall Fund (GMF) in Berlin. In seiner Kolumne lässt er sich von der Komplexität der Weltpolitik nicht einschüchtern.

Ulrich Speck arbeitet als Senior Visiting Fellow beim German Marshall Fund (GMF) in Berlin. In seiner Kolumne lässt er sich von der Komplexität der Weltpolitik nicht einschüchtern.

Man liest es mittlerweile täglich: Europa hat eine existenzielle Entscheidung zu treffen – will es ein Spieler in der neuen Weltordnung bleiben oder lässt es sich zum Objekt der Machtpolitik von China, Russland und Amerika degradieren? An dieser Fragestellung ist einiges Wahres, aber auch einiges Falsches daran. Zutreffend ist, dass die Europäer sich überlegen müssen, wie viel sie in den Erhalt einer freiheitlichen und offenen internationalen Ordnung investieren wollen. Wahr ist auch, dass in einer Welt, die sich immer mehr in Richtung Mächtekonkurrenz bewegt, Europa in Gefahr gerät, zum Objekt von Machtkämpfen zu werden.

Falsch dagegen ist, Europas Entscheidung so darzustellen, als ginge es um die Bewahrung von kollektiver europäischer Macht. In Wahrheit hat «Europa» nie die Welt beherrscht, schon gar nicht in den letzten Jahrzehnten. Wer die Welt – bis zum Zweiten Weltkrieg – beherrscht hat, waren europäische Staaten. Aber nicht als Kollektiv, sondern als Konkurrenten. Auf dem amerikanischen Kontinent stritten sich Spanier, Portugiesen, Franzosen und Briten um die Vormacht. Um Afrika gab es ein Gerangel, zunehmend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, an dem zudem Belgier, Italiener und Deutsche teilnahmen.

In Asien waren die Briten, Franzosen und Niederländer führend. Zwar gab es gelegentlich Abmachungen, oft genug aber auch Konflikte unter den europäischen Mächten um die Abgrenzung von Einflusszonen, also um den Zugriff auf Bodenschätze, sogenannte Kolonialwaren, und die Kontrolle von Verkehrswegen, man denke nur an die sogenannte Kanonenbootpolitik des deutschen Kaiserreichs. Darüber hinaus ist der Imperialismus gewiss nicht das Kapitel europäischer Geschichte, an das man im explizit postkolonialen 21. Jahrhundert anknüpfen möchte.

Der Imperialismus ist gewiss nicht das Kapitel europäischer Geschichte, an das man im explizit postkolonialen 21. Jahrhundert anknüpfen möchte. Eine Delegation aus Namibia nehmen an der Zeremonie zur Übergabe von Gebeinen an Namibia teil, Berlin, August 2018. (Bild: Adam Berry / Getty Images)

Der Imperialismus ist gewiss nicht das Kapitel europäischer Geschichte, an das man im explizit postkolonialen 21. Jahrhundert anknüpfen möchte. Eine Delegation aus Namibia nehmen an der Zeremonie zur Übergabe von Gebeinen an Namibia teil, Berlin, August 2018. (Bild: Adam Berry / Getty Images)

Europas jüngere geschichtliche Erfahrung ist, in Ost und West geteilt zu sein und dominiert zu werden von den Mächten, deren weltweite Vorherrschaft der Zweite Weltkrieg mit sich brachte: von Amerika und der Sowjetunion. Es war Hitler-Deutschland, das mit seinen Hegemonial- und Vernichtungskriegen den Abstieg der europäischen Mächte beschleunigte und die beiden stärksten «Flügelmächte» dazu brachte, in Europa dauerhaft präsent zu sein, in einander belauernder Konkurrenz.

Frankreich und Grossbritannien, ausgezehrt durch den Zweiten Weltkrieg, waren nicht mehr in der Lage, ihren Einfluss in Afrika und Asien aufrechtzuerhalten; ihnen blieb nur die Juniorpartnerschaft mit Amerika, die sie – Frankreich unter deutlich vernehmbarem Gegrummel – akzeptierten. Die Überwindung der Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten, die schliesslich zur EU führte, war nur möglich, weil amerikanische Dominanz die europäischen Machtkonkurrenzen beendete.

Wenn nun Europa, das einen gemeinsamen Raum des Ökonomischen aufgebaut hat, ernsthafte Ambition entwickeln sollte, auch im Bereich von Aussen- und Sicherheitspolitik gemeinsam zu agieren, dann ist das keine Rückkehr zu einem vormaligen Zustand, sondern etwas vollkommen Neues. Es setzt voraus, dass die europäischen Staaten, insbesondere die Mächtigeren unter ihnen, entweder eine höhere Autorität akzeptieren, was höchst unwahrscheinlich ist.

Oder aber sie beschliessen, gemeinsame Strategien zu verfolgen, weil sie erwarten, damit auf Dauer mehr zu erreichen als durch Alleingänge. Das aber setzt einen langen Atem voraus und den Willen, sich dauerhaft zu verpflichten. In Zeiten von Populismus und einer neuen, durch soziale Netzwerke geprägten Öffentlichkeit ist das eine ganz besondere Herausforderung.

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