Kommentar

Es ist Zeit für neue Integrationsmodelle für den Balkan

Die Erweiterung der EU auf dem Balkan steckt fest. Der Moment ist gekommen, über neue Konzepte nachzudenken. Sie müssen schneller umsetzbar und flexibler sein.

Andreas Ernst
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Illustration: Peter Gut

Illustration: Peter Gut

«Ok, wir sind blöd, aber so blöd auch nicht. Alle wissen: Nichts wird passieren.» So prophezeite im Mai der serbische Präsident Vucic die Beschlusslage des EU-Gipfels im Juni. Er behielt recht. Die Integration der sechs Länder des westlichen Balkans (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien) bleibt blockiert. Die «europäische Perspektive», die der Region 2003 in Thessaloniki versprochen worden war, bleibt für sie genau das: eine Perspektive. Nach dem Beitritt von Slowenien 2004 und Kroatien 2013 führen nur Serbien und Montenegro Verhandlungen, und diese gehen im Schneckentempo voran. Die andern Länder stehen weit draussen vor der Tür.

Das sorgt bei vielen Bürgern der Region für Frustration. Denn die EU-Kommission und einige Mitgliedstaaten haben immer wieder Versprechungen gemacht, die sie nicht halten wollen oder können. Zum Beispiel mit Blick auf Kosovo. Mit knapp zwei Millionen Einwohnern ist es das einzige Land der Region, das keine Visafreiheit geniesst, während die 44 Millionen Ukrainer seit 2017 frei in die EU einreisen dürfen. Und dies, obwohl Pristina nachweislich alle technischen Auflagen erfüllt, die zuvor als «Eintrittsbillett» verkauft worden waren. Zwar gab die Kommission grünes Licht, ebenso das Europäische Parlament, aber die Mitgliedstaaten sind uneins. Unfair ist auch die Behandlung Albaniens. Tirana wurde signalisiert, dass eine Justizreform, bei der die gesamte Richterschaft auf ihre Einkommensverhältnisse und Effizienz überprüft wurde, die Voraussetzung für den Beginn von Beitrittsgesprächen sei. Doch am Gipfel wollten einige Mitgliedstaaten davon nichts mehr wissen. Stattdessen stellten die Niederlande den Antrag, die Visaliberalisierung für Albanien wieder rückgängig zu machen.

Gebrochene Versprechen

Mit Nordmazedonien war der Umgang noch weniger zimperlich: Das Land hat den neuen Namen einem Kompromiss mit Griechenland zu verdanken. Die Einigung nach drei Jahrzehnten wurde massgeblich wegen der Zusicherung erzielt, das Land dürfe danach Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Die Brüsseler Diplomatie engagierte sich und drückte selbst dann ein Auge zu, als die parlamentarische Bestätigung des Abkommens in Skopje mit der Erpressung einiger Abgeordneter durchgezogen wurde. Brüssel pries den Namensvertrag als historisch. Doch als am Juni-Gipfel der Zahltag für die Nordmazedonier kam, waren die Franzosen gegen Beitrittsverhandlungen. Auch die Niederländer fanden, es sei zu früh, und die Deutschen erklärten, sie hätten zu wenig Zeit gehabt, die entsprechenden Berichte zu studieren. Man darf ruhig von einem Wortbruch sprechen.

Aber Jammern hilft nicht weiter. Es ist nun einmal so, dass Erweiterungsschritte nur im Konsens aller Mitgliedstaaten möglich sind und die integrationsfreundliche Kommission nur begrenzten Einfluss hat. Was als meritokratischer Prozess inszeniert wird – dass die Reformen von Kandidatenländern mit Integrationsschritten honoriert werden –, ist in Wahrheit ein hochpolitisches Abwägen, bei dem die Regierungen der Mitgliedstaaten vor allem ihre Wähler im Auge haben. Und diese sind – mit Ausnahme einiger osteuropäischer Länder – skeptisch bis ablehnend, wenn es um die Erweiterung geht.

Weil das so ist, erfanden europäische Politiker allerlei Ersatzprogramme wie den «Berlin-Prozess», die mit ihrer Betriebsamkeit den Stillstand kaschieren. Man trifft sich zu Konferenzen, gibt Bekenntnisse zu Reformen ab, spricht über Infrastrukturprojekte und Versöhnungsarbeit mit Jugendlichen. Das alles bleibt weitgehend folgenlos.

Moment der Wahrheit

Auch in der Politik gibt es Momente, wo Ehrlichkeit weiterhilft. Ein solcher ist für die Balkanpolitik der EU gekommen: Es wird auf absehbare Zeit keine Erweiterung auf dem westlichen Balkan geben. Dafür fehlt der politische Wille in der EU, die stark mit sich selber beschäftigt ist. Aber er fehlt auch auf der Seite der Kandidaten, die nur eingeschränkt echte Reformen anstreben. Es gibt zwar in manchen Ländern wirtschaftspolitische Fortschritte, aber in vielen Bereichen fehlt der Veränderungswille. Das hat Gründe. Eine unabhängige Justiz, eine effiziente Verwaltung oder eine vielfältige Medienlandschaft liegen nicht im Interesse der politischen Eliten. Sie könnten der Macht der «Stabilokraten» (Srdja Pavlovic) gefährlich werden. Die Langlebigkeit ihrer Regime beruht auf der Stärke klientelistischer Netzwerke. Von ihnen profitieren viele Tausende – aber nicht dank Leistung, sondern dank Loyalität.

Was wir sehen, ist ein zynisches Spiel: Die EU gibt vor, die Kandidaten aufnehmen zu wollen, und diese tun, als würden sie sich darauf vorbereiten. Beide Seiten durchschauen einander und wissen, dass sie durchschaut werden. Was tun? Die schlechteste Option ist weitermachen wie bisher. Glaubwürdigkeit ist ein knappes Gut in diesen Beziehungen, und sie droht bald vollständig erschöpft zu sein.

Stattdessen sollte jetzt über neue Integrationsmodelle diskutiert werden, die innerhalb von Jahren, nicht von Jahrzehnten, umsetzbar sind. Ein zeitnahes Ziel ist wichtig, um den Einfluss der Europäer in der Region wieder zu stärken. Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach: Eine bald erreichbare Teilanbindung motiviert stärker als eine ferne, ungewisse Vollmitgliedschaft. So lässt sich auch der Einfluss anderer Mächte auf dem Balkan begrenzen, der Chinesen, der Russen und der Türken, die jetzt von der europäischen Glaubwürdigkeitslücke profitieren.

Diese Modelle müssen primär bei der Wirtschaft ansetzen, um den Lebensstandard in absehbarer Zeit an jenen in der EU anzunähern und die Abwanderung von gut Ausgebildeten zu bremsen. Die Region ist demografisch seit Ende der Kriege um einen Viertel geschrumpft. Dusan Reljic von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik schlägt vor, die Länder schon heute wirtschaftlich in die EU zu integrieren. In mancher Hinsicht sind sie es: 75 Prozent des Handels finden mit der EU statt. Und dennoch beträgt das Bruttoinlandprodukt nur einen Drittel des EU-Durchschnitts.

Neue Formen der Mitgliedschaft

Die Region ist wirtschaftlich eine billige Werkbank der Europäer, in der die Zulieferer für italienische und deutsche Firmen nur geringe Wertschöpfung erzielen. Was nottut, ist die Verlängerung der Wertschöpfungsketten. Dazu muss die Infrastruktur ausgebaut, Verkehrswege und digitale Netzwerke effizient gemacht und mit Investitionen ins Bildungswesen Humankapital gebildet werden. Dafür, so Reljic, sollen die Länder bereits jetzt in die Struktur- und Kohäsionsfonds der EU eingebunden werden.

Die EU-Länder profitieren durchaus schon heute von den Wirtschaftsbeziehungen mit dem Balkan: dank einem riesigen Handelsüberschuss, den umfangreichen Zinszahlungen an europäische Banken und den Fachkräften, die in der Region ausgebildet werden und dann in die EU abwandern.

Und wo bleiben Demokratie und Rechtsstaat? Die autoritären Regime auf dem Balkan gedeihen, weil starke Bürgergesellschaften fehlen. Die EU hat über Jahrzehnte versucht, mithilfe von NGO eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Das ist gescheitert. Es ist wahrscheinlicher, dass mithilfe einer Wachstumspolitik in wenigen Jahrzehnten wieder eine Mittelklasse entstünde, die selbstsicher und stark genug ist, Recht und Teilhabe am politischen Prozess in den Ländern einzufordern. Dann käme auch der Moment, sich für eine volle Mitgliedschaft in der EU zu bewerben.

Präsident Macron begründete seine Ablehnung der Erweiterung damit, dass die EU sich erst reformieren müsse, bevor sie erweitert werden könne. Doch die beiden Prozesse sollten aufeinander bezogen werden: Die Reform bestünde darin, die EU nicht mehr als unvollendeten Bundesstaat anzusehen, sondern als ein Vertragswerk, das in konzentrischen Kreisen wachsen kann. Und zwar so, dass die Tiefe der Beziehung angepasst ist an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Partner und Mitglieder. Eine solche Idee mag dem Ordnungssinn französischer Staatsrechtler zuwiderlaufen. Aber eine EU als flexibles Netzwerk von Verträgen würde wahrscheinlich nicht nur den Balkanländern entgegenkommen, es könnte die Integrationskraft der Union insgesamt stärken.