14 Millionen User haben den Film «Kolyma» von Juri Dod bereits gesehen. (Bilder: Screenshots aus dem Film)

14 Millionen User haben den Film «Kolyma» von Juri Dod bereits gesehen. (Bilder: Screenshots aus dem Film)

Youtuber Juri Dud: Ein Hipster klärt jetzt in Russland über den Gulag auf

Der russische Youtuber Juri Dud tritt mit seinem Filmprojekt «Kolyma» gegen moderne Stalinisten an. Und trifft einen Nerv der Zeit, da der Gulag landläufig weiterhin als «Tragödie» empfunden wird, die einfach über das russische Volk gekommen ist. Die Schuldfrage? Wird ausgeblendet.

Inna Hartwich, Moskau
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Jeder, der auch nur ein wenig mit dem Geist der sowjetischen Ideologie in Berührung gekommen ist, kennt Sätze wie: «Sei aufmerksam und vorsichtig», «Fall bloss nicht auf», «Wir sind doch ganz einfache Menschen, von uns hängt nichts ab». Vor allem aber kennt er den Imperativ «Misch dich nicht ein!». «Ne les», heisst er im Russischen, was auch «Krieche nicht hinein» oder «Klettere nicht hin» bedeutet. «Ne les» wirkt wie eine Benimmformel, die sich tief in das Bewusstsein der Menschen im postsowjetischen Raum eingebrannt hat, wie ein lästiges Erbe, das nicht einfach abzuschütteln ist. Sie nimmt indes der Auseinandersetzung mit tabuisierten Themen den Diskussionsrahmen, spricht unausgesprochen ein von allen verstandenes Verbot aus.

Auch Juri Dud kennt ein solches «Ne les», mag er auch erst fünf Jahre alt gewesen sein, als die Sowjetunion zugrunde ging. Eltern, Grosseltern, ja auch der Staat haben sich von dieser Regel all die Jahre nicht abgewendet. Dud aber, heute 32 und erfolgreicher Youtuber im Land, wollte der Furcht, die in dieser Formel steckt, auf den Grund gehen, «kroch» hinein in die «Heimat der Angst». Er brach für zwölf Tage in die Kolyma auf, das Land des Goldes und das Land der Lager. Eine Region, die von Historikern zuweilen als Hölle bezeichnet wird.

Über zwei Stunden dauert die Doku von Juri Dud. (Bild: Screenshot aus Film)

Über zwei Stunden dauert die Doku von Juri Dud. (Bild: Screenshot aus Film)

Mitten im Winter fuhr er mit seinem Team 2000 Kilometer auf dem Kolyma-Trassee von Magadan nach Jakutsk – auf der Suche nach einer Verbindung zwischen stalinistischer Vergangenheit und der heutigen Gegenwart im Land, das Stalin teilweise immer noch lobpreist. Sein Ziel: die Angst erklären und ein Porträt der Region liefern, in der bis heute die Nachkommen der Opfer Tür an Tür mit den Nachkommen der Täter von damals leben. Bei Temperaturen von unter 40 Grad im Winter und einer abscheulichen Mückenplage im Sommer.

Herausgekommen ist eine über zweistündige Dokumentation, die in vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist. Dud ist ein Moskauer Hipster, mit perfekt sitzendem Haar, lässiger Kleidung, immer das Smartphone in der Hand. Vor mehr als zwei Jahren startete er, der bereits mit 16 Karriere als Sportjournalist machte, seinen Youtube-Kanal, der ganz klassisch auf das Interview setzt.

Mit bewusst naiven, teilweise giftigen und stets direkten Fragen holt er Rockgrössen, Showbiz-Sternchen, Politiker vor die Kamera – und auch Menschen in seine Sendung, die im staatlich kontrollierten russischen Fernsehen lediglich als Zielscheibe von Diffamierung taugen, wie den Antikorruptionsblogger Alexei Nawalny oder den einstigen Oligarchen Michail Chodorkowski. Von etablierten Journalisten wird er für seine Clips nicht selten belächelt, und doch klicken seine Interviews manchmal mehr als zehn Millionen User an.

Der «Internet-Tschechow»

Dud setzt gekonnt auf den Tabubruch, setzt bewusst auf Mat, diese russische Vulgärsprache, die in der Öffentlichkeit mittlerweile gesetzlich verboten ist, doch schon immer ihre Kraft aus dem Anrüchigen bezogen hat. Er setzt auf Geldfragen und auf Sex. Selbst der Name seines Formats – «wDud» – klingt, ausgesprochen, wie eines der russischen Wörter für «ficken». Der Videoblogger gefällt sich in der Rolle des schrägen Vogels und weiss sehr genau, dass er mit eben dieser Herangehensweise – Clips gespickt mit effektvollen Einblendungen, mit forschen Schlagwörtern und integrierten Werbespots für allerlei Gadgets – die Herzen der Jugend gewinnt. Einer Jugend, die laut einer Untersuchung des staatlichen Umfrageinstituts Wziom so gut wie nichts über die Verbrechen der Ära Stalin weiss.

Frieren für die Wahrheit: Juri Dud. (Screenshot)

Frieren für die Wahrheit: Juri Dud. (Screenshot)

Und hier überrascht Dud, da er mit seinem «Kolyma» – gewohnt unterhaltsam, samt bekannten Einblendungen, Unterstreichungen, lustig wirkenden Experimenten – so ernst wird wie kaum zuvor. Einen «Internet-Tschechow» hat ihn ein russischer Politiker nach dem Erscheinen der Youtube-Dokumentation genannt, weil der Blogger nach teilweise flachen, frohgemuten Sendungen sich nun eines erstaunlich gewichtigen Sujets annehme. Was für Tschechow «Die Insel Sachalin» gewesen sei, sei für Dud nun «Kolyma».

Einerseits will der 32-Jährige schlicht «informieren», andererseits einfach nur «erinnern». Mit einer eigenartigen Mischung aus Leichtigkeit und Schwere sticht er mit seinen eigenen Stilmitteln in dem ungewöhnlich langen Beitrag geradezu ins Nichtwissen seiner Generation hinein. Er spricht mit den Nachkommen der damals Betroffenen, spricht mit jungen Menschen, die in der Kolyma gross geworden sind und gegen den heutigen Zerfall ankämpfen, spricht mit Museumsfrauen, Fahrern, Sammlern dessen, was vom Lagersystem heute noch übrig ist.

Er erzählt, wie er trotz mehreren Lagen Funktionskleidung fürchterlich friert, zeigt wunderbarste Landschaftsaufnahmen einer Gegend, die lebensfeindlich ist. Er lässt sich Fotoalben bringen und stampft durch aufgegebene Verwaltungsgebäude. Er hört Sätze von Stalin als Idol und Sätze von Stalin als Bestie. Er streitet nicht, er verurteilt nicht, er reisst lediglich die Augen weit und ungläubig auf, wenn die, deren Vorfahren durch das Regime des «roten Zaren» gebrochen und vernichtet worden waren, nun das vermeintlich Gute in diesem Regime zu finden bereit sind. Es gibt nichts Pathetisches in diesen zwei Filmstunden, nichts Reisserisches, sondern lediglich einen jungen Mann, der nie die Frage scheut: «Warum?»

Der Ansatz zeigt Wirkung

Gerade weil die Dokumentation nicht auf Wissenschaftlichkeit setzt und lediglich Basisinformationen zum Gulag-System liefert, manchmal gar etwas wikipediamässig daherkommt, wirkt sie besonders – weil sie diejenigen in Russland erreicht, die mit Schulbüchern aufwachsen, in denen der Diktator Stalin als «effektiver Manager», «grossrussischer Patriot» und «bedeutender Modernisierer» dargestellt wird.

Der Youtuber Juri Dud versucht in Gesprächen, der Vergangenheit auf die Spur zu kommen. (Screenshot)

Der Youtuber Juri Dud versucht in Gesprächen, der Vergangenheit auf die Spur zu kommen. (Screenshot)

«Kolyma» trifft den Nerv der Zeit, weil der Film sich so unaufdringlich gegen die Rechtfertigungsversuche moderner russischer Stalinisten stellt. Gegen all die zynischen Bemerkungen, mit denen die Getöteten von damals mit den Strassentoten von heute in Bezug gesetzt werden, mit denen die Verbrechen des Grossen Terrors mit den Verbrechen im Nationalsozialismus aufwogen werden sollen. Auch gegen die Bestrebungen, Stalin einfach ruhen zu lassen, indem man ihn, ähnlich wie bei Mao in China, in eine 70-zu-30-Formel presst. 70 Prozent sollen für das Gute seiner Taten stehen, 30 für das Schlechte. Fertig ist die Diskussion.

Die offizielle Politik, die einen zwiespältigen Umgang mit den Opfern des Stalinismus pflegt, nutzt das stalinistische Erbe zur Stärkung einer «nationalen Identität». Der Ansatz zeigt Wirkung: In einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums in Moskau bewerteten jüngst 70 Prozent der Befragten die Taten des Schlächters Stalin als positiv, so viele wie kaum zuvor seit dem Ende der Sowjetunion. Fast jeder Zweite fand dabei, die Verbrechen Stalins seien legitimiert durch die «grossen Ziele und Ergebnisse seiner Zeit».

Bei der längst vom Staat vereinnahmten Aktion «Unsterbliches Regiment», die zu Anfangszeiten ein persönliches Gedenken an die Gefallenen im Zweiten Weltkrieg möglich machen sollte, trugen zum Weltkriegsgedenken am 9. Mai in diesem Jahr einige Feiernde auch Stalin-Plakate quer durch die russischen Städte. Jahrelang hatten sich die Organisatoren dagegen gewehrt, die Konterfeis Stalins nun aber doch zugelassen. Er sei schliesslich auch ein Kriegsteilnehmer gewesen, sagten diejenigen, welche die Plakate mit dem Bild des Diktators hochhielten.

14 Millionen User

Die Sehnsucht, die «historische Epoche mit einem grossen Volk, den Heldentaten und eben Stalin», wie es Russlands nicht unumstrittener Kulturminister Wladimir Medinski bei der Eröffnung eines Stalin-Museums einst sagte, populär zu machen und das «Know-how Stalins» zu erlernen, ist gross im Land. Olga Wasiljewa, die Ministerin «für geistige Aufklärung» (bis vor kurzem noch Bildungsministerium genannt), hält die historische Wahrheit nicht immer für die beste und Stalin für einen «Segen für unser Land». Die Aufarbeitung von Verbrechen der Sowjetzeit findet lediglich im kleinen Kreis statt, ein Wort für «Vergangenheitsbewältigung» gibt es im Russischen nicht.

Der Gulag wird offiziell als «Tragödie» empfunden, die einfach über das russische Volk gekommen ist. Damit blenden die Menschen die Schuldfrage aus. Der Blogger Dud bricht die russische Schweigeformel und redet bewusst nüchtern über die Brutalität des Diktators, über die Opferzahlen, die Vertreibungen ganzer Völker, die Kollektivierung der Landwirtschaft, über die Hungerkatastrophen und den Massenterror der 1930er Jahre. Die Erklärungen untermalt er mit Ton- und Filmeinblendungen aus der damaligen Zeit, setzt auch flotte Musik ein, unterstreicht mit Pfeilen und Kreisen Aussagen aus historischen Dokumenten.

So mancher Dissident von damals sieht in dem «schlecht komponierten Film» ein oberflächliches, nahezu banales Werk und schaut herab auf den Youtuber und sein Ansinnen, obwohl er dieses grundsätzlich für richtig hält. Duds Roadmovie mag in der Tat wie ein flotter Videoclip daherkommen, bedient damit aber die Sehgewohnheiten seiner Zielgruppe – und mehr. Das staatliche Gulag-Museum in Moskau meldete nach Erscheinen der Dokumentation prompt um ein Viertel gestiegene Besucherzahlen.

66 Jahre nach Stalins Tod ist es Zeit, dass die Russen genauer hinschauen, meint Juri Dud.

66 Jahre nach Stalins Tod ist es Zeit, dass die Russen genauer hinschauen, meint Juri Dud.

Mehr als 14 Millionen User haben «Kolyma» mittlerweile aufgerufen, den Film gibt es nun auch mit englischen Untertiteln. Das Konzept widersetzt sich dem gewohnten russisch-postsowjetischen «Nicht nötig. Es gehört sich nicht. Ist nicht unsere Mentalität». Duds «Kolyma» ist ein zweistündiges dringliches Plädoyer, das zwar nicht die Angst erklärt, die der Blogger im Fernen Osten seines Landes zu suchen aufgebrochen war, das aber erahnen lässt, welche Wucht an Emotionen diese Angst formt und die Gesellschaft prägt, 66 Jahre nach Stalins Tod.

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