Kolumne

Radio Erewan sendet wieder

Humor hilft, die Widrigkeiten eines ungerechten Systems auszuhalten und anzuprangern. Das war in der Sowjetunion so – und das gilt längst auch für Russland unter Präsident Putin.

Andreas Rüesch
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Achtung, Witz! (Bild: Pavel Golovkin / Reuters)

Achtung, Witz! (Bild: Pavel Golovkin / Reuters)

Russen sind grossartige und ausdauernde Erzähler von Witzen. In einer geselligen Runde, besonders nach ein paar Gläschen Wodka, dürfen «anekdoty» nicht fehlen. Das sind keine Anekdoten, wie der Name vermuten lässt, sondern eben Witze, und wer als Gast nicht in Verlegenheit kommen will, sollte ebenfalls ein paar auf Lager haben. Bill Clinton ist wohl der einzige amerikanische Präsident, der bei einem Staatsbesuch vor laufenden Kameras einen Lachanfall bekam – die Tränen waren die Folge einer träfen Pointe seines Amtskollegen Boris Jelzin. Der russische Humor dreht sich oft um ähnliche Themen wie der westliche: um nationale Stereotypen, um Sex, um die Unzulänglichkeiten von Mann und Frau. Aber eine besondere Kategorie ist der politische Humor. Er gibt Einblick darin, wie Russen mit den Absurditäten in ihrem Alltag umgehen.

Eine subversive Medizin

Zur Sowjetzeit kursierte folgender rabenschwarze Witz: Zwei Polizisten sind auf Patrouille. Plötzlich erschiesst einer einen Passanten. Der andere ruft: «Weshalb schiesst du, die Sperrstunde beginnt doch erst in zwanzig Minuten!» Der Schütze rechtfertigt sich: «Das war ein Freund von mir, ich weiss, wo er wohnt – er hätte es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft.» Ein solcher Witz erfüllt wohl eine doppelte Funktion. Zum einen ist der darin ausgedrückte Galgenhumor eine Medizin, um mit dem Ausgeliefertsein in einem zynischen System besser fertigzuwerden. Zum andern hat die Erzählung, indem sie den Übereifer der Staatsmacht karikiert, eine subversive Note. Flüsterwitze galten einst als derart aufschlussreiches Stimmungsbarometer, dass selbst der amerikanische Geheimdienst «anekdoty» zusammentrug. Eine kleine Sammlung wurde kürzlich aus dem Archiv der CIA freigegeben.

Je autoritärer der Kreml regiert, desto stärker beginnen die heutigen Witze den sowjetischen zu gleichen. Ein Revival erlebt sogar die «Frage an Radio Erewan», obwohl Erewan längst Hauptstadt des unabhängigen Armenien ist. Wie eh und je beantwortet der fiktive Sender Hörerfragen so staubtrocken wie entlarvend: «Worin besteht die Ähnlichkeit zwischen dem russischen Staatswesen und einem Fahrrad?» – «Beide haben oben einen Lenker und unten Ketten.»

Während sich die Ironie dieses Witzes auch Aussenstehenden erschliesst, ist der russische Humor oft nur etwas für Insider: «Laut einer Umfrage glauben 25 Prozent der Russen, dass sich die Sonne um die Erde dreht. – Eigentlich erstaunlich, dass es nicht 86 Prozent sind!» Die Pointe spielt darauf an, dass nach der Krim-Annexion die Popularitätsrate von Präsident Wladimir Putin monatelang bei 86 Prozent lag. Die Botschaft lautet also, dass Putins Anhänger so einfältig sind, dass man ihnen selbst den Glauben an eine sonnenumkreiste Erde zutraut.

Wer lacht, bekennt

Verklausuliert ist die Ironie auch in einem neuen Witz über Ministerpräsident Dmitri Medwedew: «Als Medwedew auf Inspektionsreise in der Arktis weilte, krächzten die Eismöwen: ‹Wir wollen auch ein Häuschen haben!›» Was soll daran lustig sein? Die Auflösung kennen nur jene Russen, die heimlich den Korruptionsskandal um ihren Regierungschef verfolgt haben. In einem Video des Oppositionsführers Alexei Nawalny über Medwedews schlossartige Wochenend-Residenz ist auch ein Teich mit Entenhäuschen zu sehen. Spielzeug-Enten sind seither zum informellen Signet der Anti-Korruptions-Bewegung geworden. Der erwähnte Witz erfüllt damit mehr als nur den Zweck, andere aufzuheitern. Er zwingt den Zuhörer, Farbe zu bekennen. Wer über den harmlosen Satz lacht, gesteht unwillkürlich ein, Dinge zu wissen, über die man in den Staatsmedien nie etwas erfahren würde.