«Ich akzeptiere prinzipiell keine Niederlage» – das atemberaubend abenteuerliche Leben der Alexandra David-Néel

In einer Galerie der starken Frauen des 20. Jahrhunderts darf die Schriftstellerin und Tibetforscherin Alexandra David-Néel keineswegs fehlen. Vom «Reisedämon» besessen, gelangte sie als weisse Frau über beschwerliche Wege nach Lhasa. So bewegt, wie ihr Leben war, so tief und witzig sind ihre zahlreichen Bücher.

Ludger Lütkehaus
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Das Leben von Alexandra David-Néel «abenteuerlich» zu nennen, kommt einer Untertreibung gleich. Der Titel ihrer deutschen Autobiografie «Mein Weg durch Himmel und Höllen» kommt der Sache näher. Das ist keineswegs zu viel gesagt. Ein Vierteljahrhundert war sie, meistens zu Fuss, durch die Wüsten und Steppen, in den Gebirgen Zentralasiens und Chinas unterwegs. Auf fast 101 Lebensjahre «bei durchaus klarem Verstand» hat sie es gebracht.

Am 24. Oktober 1868 wird Alexandra David-Néel in St-Mandé bei Paris geboren. Ihre – ungeliebte – Mutter ist eine katholisch bigotte Frau. Der geliebte Vater, der seiner Tochter zugetan bleibt, auch als sie sich auf Wege macht, die aus familiärer Sicht Abwege sind, ist weniger konventionell, ein linker Demokrat, Sozialist, mit engen Kontakten zum Anarchismus. 1873 zieht die Familie nach Brüssel um. Frühe Fluchten sind auch charakteristisch für das kleine Mädchen. Alexandra wird in einer Klosterschule erzogen. Sie distanziert sich von Kirche und Christentum. Besser ist sie für die östlichen Religionen vorbereitet, die auf das «Nichtanhaften», die Befreiung von Gier, Hass und Verblendung setzen.

Ein wacher, kritisch-nüchterner Geist: Alexandra David-Néel. (Bild pd)

Ein wacher, kritisch-nüchterner Geist: Alexandra David-Néel. (Bild pd)

Im Westen haben östliche Weisheitslehren um diese Zeit Hochkonjunktur. In London wird die Zwanzigjährige mit allerlei Spiritisten bekannt. Das wird ein Impuls ihres Interesses zumal am tibetischen Buddhismus mit seinen magischen Praktiken sein. Aber sie ist noch mehr ein wacher, kritisch-nüchterner Geist. Eine rationale Mystikerin ist sie und wird das ihr Leben lang bleiben. Zurück in Paris, an der Sorbonne, dem Collège de France, intensiviert sie ihre Buddhismus-Studien. In ihnen findet sie das, was sie braucht: nicht eigentlich eine Religion und keinen neuen oder alten Götterglauben, sondern eine Philosophie der Selbsterlösung. Das Mantra, das sie künftig unablässig murmelt, lautet: «Sei dir dein eigenes Licht! Sei dir deine eigene Zuflucht!»

Bühnenkarriere und Eheschliessung

Von 1891 bis 1893 reist sie erstmals nach Asien, nach Ceylon und Indien. Nach der – vorläufigen – Heimkehr nimmt ihr Leben erst einmal eine scheinbar überraschende Wendung. Alexandra folgt ihrer Neigung zur Musik, zum Klavierspiel, vor allem zum Gesang. In Brüssel und Paris schliesst sie ihre Gesangsausbildung ab. Wie bei allem, was sie anpackt, tut sie das auch hier mit Entschiedenheit, Hingabe und Erfolg. Sie wird zwar nicht von einer der grossen europäischen Bühnen engagiert. Doch umso besser für ihre Reiselust, wenn exotische Bühnen sie verpflichten. Sie feiert Triumphe in den französischen Kolonien des Fernen Ostens, in Vietnam, von Hanoi über Hue und Da Nang bis nach Saigon. Ihre Gesangskarriere wird sie wegen einer Stimm-Erkrankung schliesslich abbrechen müssen.

Der Beruf einer Sängerin ist um diese Zeit noch mit gewissen erotischen Assoziationen verbunden. Die meisten Sängerinnen werden von einem hochmögenden Aristokraten oder Grossbourgeois ausgehalten. Und Alexandra ist trotz ihrer kleinen Statur von 156 Zentimetern attraktiv und begehrt, ein hübsches Gesicht, ein «interessanter» Charakter. Sie scheint auch keineswegs prüde zu sein. Aber die Rolle einer Mätresse im Harem eines Patriarchen gedenkt sie als emanzipierte Frau, als Publizistin, als Wissenschafterin nicht zu spielen.

In Tunis begegnet sie dem französischen Eisenbahningenieur Philippe Néel, einem bestens aussehenden, äusserst gepflegten, überaus charmanten Mann in wohldotierter Position. Und auch Alexandra erliegt seinem Charme. Die beiden heiraten 1904. Sie lieben sich, noch mehr zanken sie sich. Und doch harren sie ungeschieden 37 Ehejahre aus. Allerdings ist wohl auch selten eine so eigentümliche, so eigenwillige Ehe geführt worden. Die eigentliche Ehe findet auf dem Papier statt. Es ist eine Art von Korrespondenz-Ehe. Denn an Philippe gehen jene zahllosen Reisebriefe, die unter allen Büchern Alexandras ihr Hauptwerk sind, brillant geschrieben, witzig, ironisch, drastisch, geistreich, tiefsinnig, voll von Abenteuern, Beobachtungen, Reflexionen, Porträts, Geschichten von Göttern und Menschen. Oft scheint es so, als sei diese Ehe geschlossen worden, um diese Briefe zu ermöglichen: Inspiration durch Distanz.

Besessen von «Reisedämon»

Dann bricht Alexandra David-Néel auf, für ein paar Monate, vielleicht ein Jahr. Fast fünfzehn Jahre sind es geworden, fast eine Reise ohne Wiederkehr. Alexandras eigentliches Leben beginnt mit 43. Sie ist vom «Reisedämon», vom nomadischen Trieb förmlich besessen. «Das Abenteuer ist mein einziger Daseinszweck. Ich habe immer einen Greuel vor endgültigen Dingen gehabt. Es gibt Leute, die vor der Unbeständigkeit Angst haben, bei mir trifft das Gegenteil zu.»

In Indien stösst sie sich immer mehr am Kastensystem. Sie flieht in den Himalaja, nach Sikkim. Von dort aus liegen Tibet, das verbotene Lhasa nicht just in Reich-, aber in Wanderweite. Und Lhasa ist ihr eigentliches Lebensziel, ihr «Grosser Plan» nach Analogie des «Grossen Spiels», das Rudyard Kipling in seinem Roman «Kim» so faszinierend inszeniert. Im autobiografischen Rückblick auf die «Reise einer Pariserin nach Lhasa» gibt sie sich zwar betont cool: «Ich habe den oft vereitelten Wunsch der meisten Reisenden, Lhasa, die heilige lamaistische Stadt, zu erreichen, lange Zeit nicht geteilt [. . .] Mein Hauptansporn [. . .] war ganz einfach das strenge, unsinnige Verbot, Zentraltibet zu betreten.» Aber schon die sehnsuchtsvollen Träume von 1912 sprechen eine ganz andere Sprache.

Die wichtigste Begegnung ist die mit dem Abt des Klosters Lachen. Hier erlebt Alexandra ihre «initiation lamaîque». Dieser Mönch, Asket und Lehrer, unterweist sie in zwei entsagungsreichen Jahren in den esoterischen Lehren des tibetischen Buddhismus. Sie wird mit den Ritualen, den Mantras und Mandalas, der üppigen Götter- und Bilderwelt, den Himmeln und Höllen des Lamaismus bekannt. Unter anderem lernt sie das «Lung-gom», das «In-Trance-Gehen», und das «Tumöme», das «Tumo-Atmen», kennen, eine Meditation über das «innere Feuer», die es gestattet, selbst in extremster Kälte eine körpereigene Hitze autogen, autosuggestiv, zu erzeugen.

Meditation heisst hier nicht nur zu lernen, sich zu versenken, sondern jederzeit und unter allen Bedingungen einen gelassenen Beobachterstandpunkt ohne Gier, Hass und Verblendung einzunehmen. Die stoische Philosophie und die Weisheit des Eurobuddhisten Schopenhauer gehen mit der buddhistischen Achtsamkeitsmeditation eine intime Verbindung ein: Aber selbst Alexandra würde die Strapazen dieser anderthalb Jahrzehnte nicht überstanden haben, wenn sie nicht einen unersetzlichen Begleiter gehabt hätte. Es ist der dreissig Jahre jüngere Lama Yongden. Er ist genauso klein und genauso zäh wie sie. In Sikkim lernt sie ihn kennen. Und er wird ihr fortan bis zu seinem Lebensende zur Seite stehen, als Diener, Koch, Wäscher, Schneider, Träger, als Experte für Lamaismus, als Übersetzer und als Sekretär. Kein erotisches Verhältnis verbirgt sich hinter der Beziehung, sondern es ist das von Meisterin, Herrin und Jünger, schliesslich das von Mutter und Adoptivsohn. Wobei die Schattenseiten nicht verhehlt werden sollen. Alexandra ist eine strenge Herrin. Sie kommandiert Yongden rigoros herum. Manchmal schlägt sie ihn sogar.

8000 Meilen zu Fuss

Alexandra und Yongden wandern durch Zentralasien, insgesamt sind es an die 8000 Meilen, die sie in diesen Jahren zurücklegen. Die grossen europäischen Fusswanderer lassen sie weit hinter sich. Und dann scheint es endlich so weit zu sein: Das eigentliche Ziel wird anvisiert, das heilige, das verbotene Lhasa. Ein erster Versuch, möglichst auf direktem Weg dahin vorzudringen, scheitert. «Das war das Ende des Abenteuers. Das Ende für dieses eine Mal, ich dachte nicht im Traum daran aufzugeben. Ich akzeptiere prinzipiell keine Niederlage.» Dieser entschlossene Satz könnte über ihrem ganzen, mit beispielloser Zähigkeit und Zielstrebigkeit geführten Leben stehen.

Mit der Geduld derjenigen, die für ein grosses Ziel warten können, nähert sich Alexandra mit Yongden schliesslich über Südwestchina von neuem der Grenzregion. Und im Oktober 1923 setzen sie alles auf eine Karte: Sie versuchen Lhasa auf einer bisher von Weissen nicht begangenen Route durch das sagenhafte Land Po zu erreichen. Manchmal scheint die Lage aussichtslos, wenn sie im letzten Licht des vergehenden Tages auf einem Fünftausenderpass umherirren oder sich im Schneesturm verlieren. Der Weg durch die tibetischen «Höllen» hat nicht zu viel versprochen. Aber es gibt auch die «Himmel», die grossen Momente, so dass Alexandra, ohne es zu bemerken, enthusiastisch die berühmteste Formel Kants umformuliert: «[. . .] den unendlichen Raum vor mir und den gewaltigen blauen Himmel über mir [. . .] Ich blieb lange sitzen, fast bis zum Morgengrauen, unbeweglich, und genoss das Glücksgefühl, das mir die Einsamkeit und die tiefe Ruhe gaben, die vollkommene Stille dieser unwirklichen weissen Gegend; von allem losgelöst, in unsäglicher Heiterkeit.»

Die Quelle des Po-Tsangpo wird von den beiden entdeckt. Und Ende Januar 1924 wird Lhasa erreicht, jenes Ziel, das Sven Hedin immer verschlossen blieb. Diese triumphale Pointe lässt sich die nun als Abenteurerin und Forschungsreisende praktizierende Alexandra nicht entgehen: «Ich habe Regionen durchquert, die noch nie von einem Reisenden weisser Hautfarbe besucht worden sind . . . Wir sind in Lhasa, Sieg den Göttern, die Dämonen sind besiegt.»

Ernsthaftere Gefahr droht von einer anderen Seite. Denn war Lhasa nun wirklich die Erfüllung – oder war nur der Weg das Ziel? Just auf dem Gipfel ihres Wanderlebens macht Alexandra die Erfahrung, die das Zentrum der Lehre von der Leere aller Dinge, der Ziellosigkeit aller Wünsche, der Nichtigkeit aller Erfüllungen ist: «Ich war überhaupt nicht neugierig auf Lhasa. Ich bin hingegangen, weil die Stadt am Wege lag und auch weil es ein echt pariserischer Scherz jenen gegenüber war, die es mir verbieten wollten.»

Triumphaler Empfang

Nach nur zwei Monaten Aufenthalt brechen Alexandra und Yongden von Lhasa auf. Nach einem weiteren Reisejahr in Indien kehren sie dann 1925 nach Europa zurück. Halbwegs versöhnlich ist nur der triumphale Empfang, den ihr die französische Öffentlichkeit bereitet. Nach einigem Suchen findet sie 1928 in Digne in der Hochprovence ein Anwesen, das zu ihr und Yongden passt. «Samten Dzong», die «Feste der Meditation», bald im Stil eines tibetischen Klosters ausgebaut, bietet die meditative Ruhe, die beide brauchen.

Alexandra wertet ihre Reise als Wissenschafterin, als Tibetologin von Weltrang, die im Gegensatz zu den meisten Kollegen vor Ort war, wie als Reiseschriftstellerin in etlichen Büchern und unzähligen Artikeln aus. Die «Reise einer Pariserin nach Lhasa» wird zum vielfach übersetzten Welterfolg. Als die «Frau auf dem Dach der Welt» und «Bezwingerin der verbotenen Stadt» wird sie von den Zeitungen, den Akademien bis hin zum französischen Präsidenten gefeiert. Die hübscheste Ehrung kommt von der Akademie für Frauensport: Sie verleiht ihr den Grossen Preis für eine hervorragende athletische Leistung.

Nach einem Jahrzehnt relativer Sesshaftigkeit melden sich der «Reisedämon», der nomadische Trieb indessen 1937 wieder zurück. Die nun 68-jährige Alexandra bricht mit Yongden noch einmal auf. Und es ist wie beim ersten Mal: Eine grosse, aber nicht zu lange Reise soll es werden – und es werden neun Jahre daraus. 1941 erhält sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes. Sie trauert um ihn, der ihr nicht Lebensgefährte, aber verlässlicher Lebensfreund war. 1946 kehren beide nach Digne zurück. Wieder liegt ein Weltkrieg zwischen Abreise und Rückkehr. Wieder hat sich die Welt entscheidend verwandelt. Und wieder ist sie friedloser, hässlicher, inhumaner, technischer, kommerzieller, widernatürlicher geworden. «Die Erde wird immer hässlicher, unter der Herrschaft der ‹zivilisierten Völker. [. . .) Es bleibt Tibet, das letzte noch fast jungfräuliche Land.»

Aber von neuem nimmt Alexandra ihr publizistisches und ihr meditatives Leben wieder auf. Was folgt, sind fast unglaubliche weitere Lebensjahrzehnte. Der böse Humor der Götter hat sich mit ihr etwas besonders Perfides, etwas Tragisch-Ironisches ausgedacht: Die grösste Wanderin zwischen den Welten wird gehunfähig. Sie muss getragen werden. Tags und nachts wechselt sie mit fremder Hilfe nur ihren Stuhl. Nach Philippe stirbt auch Yongden vor ihr. Alt werden heisst viele überleben, heisst einsamer und einsamer werden.

Manchmal meinen es die Götter mit den Menschen aber auch gut. 1959 findet Alexandra in Marie-Madeleine Peyronnet die Helferin, Gesellschafterin und Freundin freilich auch Kritikerin ihres letzten Lebensjahrzehnts. Mit 90 macht Alexandra den Führerschein, mit 100 lässt sie sich den Pass verlängern. Sie schreibt weiterhin vorzügliche, unterhaltsame, geistreiche, witzige und gelehrte Bücher. Auch politisch bleibt sie sperrig. Sie macht sich keinerlei Illusionen über den chinesischen Expansionismus. Und sie tritt für die Sache Tibets ein. Aber sie weiss auch, dass die historischen Beziehungen zwischen beiden Ländern komplex sind und dass man nach einem Ausgleich suchen muss. Bei dem Besuch des 14. Dalai Lama 1962 ist sie ebenso wenig wie früher in die Knie gegangen. Im September 1969 erkrankt sie. Ein schweigsamer Todeskampf – und dann ist der unglaubliche Traum ihres Lebens zu Ende geträumt.

Anmerkung der Redaktion: In der ersten Fassung hiess es im Lead, dass Alexandra David-Néel als «erster weisser Mensch» Lhasa erreicht habe. In der Tat war dies 1661 der in Linz geborene Jesuit Johann Grueber. Die bedauerliche Fehlinformation wurde korrigiert.