Michel Foucaults letzte Blicke auf den Sex und in die Seele

Auch die Sexualität hat ihre Geschichte, und keiner hat sie besser geschrieben als Michel Foucault. Endlich ist seine grosse Studie zum Thema komplett – unlängst ist der vierte Band von «Sexualität und Wahrheit» aus dem Nachlass auf Deutsch erschienen.

Claudia Mäder
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Seit den 1970er Jahren hat Michel Foucault an seiner grossen «Histoire de la sexualité» gearbeitet, 35 Jahre nach seinem Tod ist das Werk nun vollständig zugänglich. (Bild: Françoise Viard / Gamma)

Seit den 1970er Jahren hat Michel Foucault an seiner grossen «Histoire de la sexualité» gearbeitet, 35 Jahre nach seinem Tod ist das Werk nun vollständig zugänglich. (Bild: Françoise Viard / Gamma)

Es kommt nicht alle Tage vor, dass von einem toten Autor ein neues Werk erscheint. Und noch seltener erscheinen neue Werke von richtig grossen toten Autoren. Insofern ist es für einmal nicht als Verkaufsfloskel abzutun, wenn der Verlag dieses Buch als «Sensation» ankündigt: Im Jahr 2019 den vierten und letzten Band von Michel Foucaults Reihe «Sexualität und Wahrheit» lesen zu können, ist tatsächlich ein kleines Wunder.

In seinem Testament hat der 1984 gestorbene französische Philosoph postume Publikationen verboten. Vor einiger Zeit rückten die Rechteinhaber aber von ihrer bis dahin strikt gehaltenen Position ab und gaben das Manuskript zur Veröffentlichung frei. Foucault hatte es bereits 1982 beim Verlag deponiert, wollte es jedoch vorerst zurückbehalten, da er dem Buch zwei weitere Bände voranzustellen plante. Diese kamen im Jahr 1984 heraus; Foucault machte sich sogleich an die Überarbeitung des zuvor abgelieferten älteren Texts, der die Serie nun beschliessen sollte. Doch er starb, bevor er die Korrekturen vollenden konnte.

So ist das Manuskript, ediert vom Philosophen Frédéric Gros, schliesslich erst über 30 Jahre später an die Öffentlichkeit gekommen – im Februar 2018 ist es im französischen Original bei Gallimard erschienen, und vor wenigen Wochen hat Suhrkamp die deutsche Übersetzung publiziert.

Eine neue Erfahrung

Der Text kommt denkbar trocken daher. Ohne heranführende Erläuterungen steigt der Autor direkt mit Quellenanalysen ein und wirft den Leser unvermittelt in die ersten Jahrhunderte unserer Zeit. Das Buch untersucht in drei Kapiteln die frühchristlichen Buss- und Geständnispraktiken, das Aufkommen des Jungfräulichkeitsideals und theologische Auseinandersetzungen mit der Ehe – dies alles mit dem Ziel, die «neue Erfahrung» begreifbar zu machen, die das Christentum im Bereich der Sexualität mit sich brachte.

Die ganze Tragweite dieser Erfahrung ist freilich nur im Zusammenspiel mit den anderen Teilen von Foucaults Sexualitätsprojekt zu ermessen. Seit dem ersten Band seines Werks ging der Philosoph davon aus, dass unsere abendländischen Gesellschaften einen ausserordentlich engen Bezug zwischen Sexualität und Identität ausgebildet haben: «Eine bestimmte Falllinie hat uns im Laufe einiger Jahrhunderte dahin gebracht, die Frage nach dem, was wir sind, an den Sex zu richten.» Und ebendiese «zentrale Stellung des Sexes bei der okzidentalen Subjektivität» sieht Foucault im Denken der frühen Christen angelegt.

So aktuell wie eh und je

Anders als bei Griechen und Römern, denen je ein früherer Band der Reihe gewidmet war, ging es bei den ersten christlichen Theologen in sexuellen Fragen nicht mehr bloss darum, ein Set an gesellschaftlichen Regeln und Geboten zu beachten. Vielmehr waren die Christen laut Foucault gehalten, den Sex als sündhaften Teil ihrer Seele zu verstehen und also ihr ganzes Dasein vom Sex her zu denken, das heisst: ihre sexuellen Ideen und Gelüste dauernd zu problematisieren und auch zu artikulieren. Denn die «Geständnisse des Fleisches» sollten den sündigen Subjekten zumindest temporär Reinigung und Befreiung verschaffen.

Es stimmt, was Kritiker monieren: Foucault geht an keiner Stelle seines Buches auf den grösseren historischen Kontext ein, er blendet jüdische Traditionen weitgehend aus und wählt und liest seine Quellen äusserst selektiv. Das ist offensichtlich. Doch gerade diese Zuspitzungen lassen die zentralen Thesen seiner Sexualitätsgeschichte umso schärfer hervortreten – und die haben auch 35 Jahre nach Foucaults Tod nichts an Aktualität verloren.

Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit, Band 4. Herausgegeben von Frédéric Gros, aus dem Französischen übersetzt von Andrea Hemminger. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 557 S., Fr. 49.90.