Eine Form von Mobbing? Der Schulsportklassiker Völkerball steht in der Kritik

Schüler schiessen sich mit Bällen gegenseitig ab: Stärkt das den Charakter – oder ist es eine Demütigung für die Schwachen? Kanadische Forscher haben eine heftige Debatte ausgelöst.

Simon Hehli
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Ein Zeitvertreib mit langer Tradition: Französische Kinder spielen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Völkerball. (Bild: Imago)

Ein Zeitvertreib mit langer Tradition: Französische Kinder spielen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Völkerball. (Bild: Imago)

Der Spielgedanke könnte kaum übler sein, schrieb ein St. Galler Sportlehrer in einem Leserbrief im «Bündner Tagblatt» schon vor sieben Jahren. Schliesslich gelte es, «das gegnerische Volk restlos ins Jenseits zu befördern, das heisst auszurotten». Was der Mann kritisierte, ist ein Klassiker des Schulsports: Völkerball. «Wird Völkerball harmlos, weil niemand an Völkermord denkt?», fragte der Lehrer rhetorisch. «Oder verhält es sich umgekehrt: Sickert die Ideologie, die hinter dem Spiel steckt, ungefiltert ins Unterbewusstsein, gerade weil nichts dabei gedacht wird?»

Bestätigt fühlen dürfte sich der Kritiker durch die Debatte, die in den sozialen Netzwerken derzeit hohe Wellen schlägt: Kanadische Forscher sind kürzlich zum Schluss gekommen, Völkerball sei eine institutionalisierte Form von Mobbing. Im Spiel geht es darum, die Mitglieder des gegnerischen Teams mit einem Ball zu treffen und sie so der Reihe nach auszuschalten. Aus Sicht der Wissenschafter ist das «entmenschlichend». Sie denke an das kleine Mädchen, das nach hinten renne und versuche, nicht getroffen zu werden, sagte Co-Autorin Joy Butler in einem Interview mit der «Washington Post». «Was lernt das Mädchen in dieser Schulstunde? Sich wegzuducken?»

«Wehrertüchtigendes» Spiel

Tatsächlich hat Völkerball martialische Wurzeln. Es entwickelte sich aus einem rituellen Kriegsspiel, es symbolisierte ursprünglich die Schlacht zwischen zwei Völkern, die ihre Territorien bis zum letzten Mann verteidigen. Der deutsche «Turnvater» Friedrich Ludwig Jahn schrieb dem Spiel zu Beginn des 19. Jahrhunderts «wehrertüchtigenden Charakter» zu. Dieser Aspekt ist in den vergangenen Jahrzehnten völlig in den Hintergrund getreten. Das Spiel soll die Kinder und Jugendlichen nicht mehr auf den Krieg vorbereiten, sondern sie zur Bewegung animieren – und Spass machen.

Lange nicht alle Schüler haben aber Freude am Spiel. Und prompt gibt es Stimmen, die ein Völkerballverbot fordern, zumal das Auswählen der Teams – wie in anderen Mannschaftssportarten auch – die Schwächeren blossstelle. So sagt ein deutscher Turnlehrer auf Bild.de: «Die Stärkeren nutzen dieses Spiel, um sich zu profilieren – und die Lehrer können nicht rechtzeitig intervenieren.» Der Kinder- und Jugendtherapeut Christian Lüdke widerspricht jedoch dezidiert: «Völkerball ist ein Persönlichkeitstraining. Es geht darum, aus Fehlern zu lernen und sich zu behaupten.»

Humanere Varianten

Und auch der Präsident des Schweizer Sportlehrerverbandes, Ruedi Schmid, will nichts von einem Verbot wissen. Das Spiel sei bei den Schülern beliebt, sagt er gegenüber dem Nachrichtenportal Nau.ch. Zudem werde Völkerball an vielen Schweizer Schulen so gespielt, dass am Schluss nicht mehr einzelne Spieler übrig bleiben, auf die die gegnerische Mannschaft Jagd machen kann. Schmid bricht das Spiel jeweils ab, wenn eine Mannschaft auf drei Spieler geschrumpft ist.

Ohnehin würden die Lehrer heute nach Formen suchen, die es ermöglichten, die Ausgrenzung einzelner Schüler zu vermeiden. So gibt es eine Völkerballvariante, in der die Kinder vom gegnerischen Team bewachte Kegel abschiessen müssen statt die Mitschüler. Und die Lehrer können selber die Equipen zusammenstellen – und damit verhindern, dass immer am Schluss die gleichen sportlich schwachen Schüler übrig bleiben, die ein Teamcaptain dann eben unwillig in seine Mannschaft aufnehmen muss.