Woher der Hass auf Schwule kommt – und was er mit machoiden Kulturen zu tun hat

Attacken auf Homosexuelle sorgen derzeit für Empörung. Die Frage, wie weit die Gewalt auch mit der Zuwanderung aus machoiden Kulturen im Zusammenhang steht, ist dabei besonders delikat – und umstritten.

Lucien Scherrer
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Hass auf Schwule: Was die Ursachen für die heutigen Übergriffe angeht, gibt es verschiedene Erklärungen, aber bis jetzt keine systematisch erhobenen Belege. (Bild: Clemens Bilan / EPA)

Hass auf Schwule: Was die Ursachen für die heutigen Übergriffe angeht, gibt es verschiedene Erklärungen, aber bis jetzt keine systematisch erhobenen Belege. (Bild: Clemens Bilan / EPA)

Der Mann brennt lichterloh, rennt über die Strasse und stürzt in ein Restaurant, immer wieder schreit er «Helft mir!», «Helft mir!». Das Personal reagiert schnell, schüttet dem 34-Jährigen kübelweise Wasser über den Kopf. «Seine Finger waren wie Krallen, sein Gesicht verkohlt», berichtet der Wirt einige Tage danach einem «Blick»-Reporter. Später stellt sich heraus, dass der junge Baselbieter an jenem 9. April 1989 Opfer einer schwulenfeindlichen Attacke geworden ist: Eine Gruppe betrunkener Jugendlicher aus der Basler Steinenvorstadt hat ihn auf der Herrentoilette bei der Heuwaage überfallen, als «schwuli Sau» beschimpft, mit Benzin bespritzt und angezündet – es sei, so erklären die drei Haupttäter vor Gericht, «eine Art Zeitvertreib» für sie gewesen, Homosexuelle anzugreifen.

Zielscheibe für gelangweilte Jugendliche

Heute, dreissig Jahre später, ist Schwul- oder Lesbischsein eigentlich nichts mehr, was man lieber für sich behalten sollte. Es gibt eine Gay SVP, es gibt «rosarote Polizisten» («pink cops»), und ein Outing im Trachtenverein ist genauso normal wie Rivella am Schwingfest. Trotzdem ist der Hass auf Homosexuelle, Bisexuelle und Transgender nicht einfach aus der Welt verschwunden. Im offiziell toleranten und weltoffenen Zürich etwa ist ein Paar nach der Gay-Pride-Demonstration von Jugendlichen geschlagen und beschimpft worden; einige Tage zuvor zerstörten junge Männer in Trainerhosen und Kapuzenkluft einen LGBT-Informationsstand vor dem Lochergut. Auch in anderen Städten wie Genf verbreiten jugendliche «casseurs de pédés» immer wieder Angst und Schrecken.

Woher, so fragt man sich nicht nur in der Szene, kommt dieser Hass? Den Basler Schwulenaktivisten Peter Thommen beschäftigt diese Frage schon seit Jahrzehnten. «Ich verstehe es einfach nicht», sagt er, «wir Schwulen wollen doch niemanden umdrehen, und so viele sind wir nun auch wieder nicht! Wussten Sie, dass in Schwulenpornos viele Heteros mitspielen, weil da zu wenige von uns mitmachen würden?» Thommen muss es wissen: Er hat 1977 in Basel den ersten Schwulenbuchladen in der Schweiz eröffnet, streng beobachtet von der Sittenpolizei, die anfänglich regelmässig Filme und Heftchen beschlagnahmte. Als sich Thommen Ende der 1960er Jahre outet, gilt gleichgeschlechtlicher Sex unter 20 noch als Straftatbestand. Später, als er sich 1996 mit einer schwulen Liste in die Politik einmischte, wurden seine Plakate mit Hakenkreuzen verschmiert. An den Vorfall bei der Heuwaage erinnert er sich noch gut. «Für manche Jugendliche waren Schwule schon immer Underdogs und damit ein beliebtes Angriffsziel», sagt er, «statt solidarisch zu sein, wollen sie sich über andere stellen.» Andere fühlten sich durch Schwule provoziert, in ihrer eigenen Männlichkeit verletzt oder herausgefordert, eigene homosexuelle Neigungen zu bekämpfen.

Ein Heiratsantrag, Hunderte Hass-Postings

Was die Ursachen für die heutigen Übergriffe angeht, gibt es verschiedene Erklärungen, aber bis jetzt keine systematisch erhobenen Belege. Denn Straftaten gegen Homosexuelle werden nicht separat erfasst, auch wenn das jetzt mehrere Kantone nachholen wollen. Wieweit bei Gewalttaten homofeindliche Motive im Spiel sind, ist aber oft unklar. In Basel etwa gab es 2015/16 mehrere Überfälle im Schützenmattpark, die nach Auskunft der Staatsanwaltschaft jedoch finanziell motiviert waren – zumal Schwule, die auf der Suche nach einem Abenteuer allein durch einen Park streifen, unter Kriminellen als leichte Beute gelten.

Homophobie, so lautet eine erste Erklärung für die jüngsten Vorfälle, ist auch in scheinbar toleranten Gesellschaften immer noch weit verbreitet. Die Rudelbildung in sozialen Netzwerken und populistische Wüteriche wie Donald Trump tragen gemäss dieser Theorie das ihrige dazu bei, dass sich reaktionäre Geister dazu animiert fühlen, sexuelle Minderheiten öffentlich zu beschimpfen.

Welche Aggressionen und Ekelgefühle Schwule bis heute bei angeblich harmlosen Bürgern auslösen können, zeigt das Beispiel des TV-Moderators Sven Epiney: Nachdem er seinen Freund vor laufender Kamera mit einem Heiratsantrag überrascht hatte, hagelte es Hasskommentare, inklusive Schweinevergleichen und Erinnerungen an Sodom und Gomorrha. Genährt werden derartige Ressentiments unter anderem von religiös-konservativen Kreisen, die Homosexuelle wie heilbare «Kranke» betrachten oder für schlechtes Wetter beten, wenn Lesben oder Schwule irgendwo feiern wollen.

Noch übler treiben es Rechtsextreme, die sich in einem «demografischen Krieg» der Europäer wähnen – einem Krieg, in dem Homosexuelle als «demografische Deserteure» zu betrachten sind, wie ein Exponent der Partei national orientierter Schweizer (Pnos) kürzlich erklärte. Auch einzelne SVP-Politiker fallen immer wieder mit abschätzigen Bemerkungen auf. So stellte Christoph Mörgeli 2012 die sarkastische Frage, wann die Linken wohl ein Adoptionsrecht für Haustiere fordern würden.

«Schwuchtel, ich verteil Hiebe!»

Für die Tatsache, dass gleichgeschlechtliche Paare auch auf der Strasse immer wieder aggressiv angepöbelt werden, gibt es noch eine weitere Erklärung, die politisch jedoch weniger korrekt ist. Die «Sonntags-Zeitung» schrieb 2017 in einem Report über den «heimlichen Hass», die Täter seien gemäss einer Umfrage im Milieu «fast durchweg männlich und von konservativer, machoid geprägter Herkunft». Etwas weniger verklausuliert heisst das, dass diese Männer oft einen Migrationshintergrund hatten, was gemäss Zeugenaussagen auch bei der jüngsten Attacke auf ein schwules Paar der Fall war.

Die Frage, ob der offen zelebrierte Schwulenhass auch mit der Zuwanderung aus Ländern zu tun hat, in denen Homosexualität geächtet oder gar mit dem Tod bestraft wird, ist ebenso delikat wie umstritten. Schnell ist der Vorwurf zur Hand, «Minderheiten gegen Minderheiten» auszuspielen, «den Rechten» zu helfen oder gar Rassismus zu schüren. Als der Zürcher FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann kürzlich in der NZZ sinngemäss erklärte, «Gruppen mit Migrationshintergrund» seien für die zunehmende Homo-Feindschaft massgeblich mitverantwortlich, wurde prompt der Vorwurf laut, man wolle wieder einmal alles auf die bösen Ausländer abschieben.

Wie beim Thema Antisemitismus unter muslimischen Einwanderern schwingt bei solcher Kritik oft Ideologie mit, etwa dass Vielfalt stets bereichernd ist und Angehörige von Minderheiten im Grunde nur Unterdrückte sein können (selbst wenn sie, wie das Vertreter des multikulturell geprägten deutschen Gangsta-Rap gerne tun, Verse dichten wie: «Ich hab keine Liebe für dich, Schwuchtel, ich verteil Hiebe!»). Das musste auch die deutsche Dragqueen Nina Queer erfahren. Nachdem in Berlin ein schwules Paar von mehreren türkischsprachigen Jugendlichen geschlagen worden war, schrieb sie auf Facebook: «Es ist doch zum Kotzen! Sofort abschieben!» Prompt wurde ihr wegen dieser emotionalen Reaktion Rassismus vorgeworfen, sie musste sich entschuldigen, und die SPD distanzierte sich von ihrer ehemaligen «Toleranzbotschafterin».

Dabei können derartige Vorfälle zumindest in Berlin kaum noch unter der Kategorie «Einzelfall» abgehakt werden. «Manche Schwulenpaare», so schrieb kürzlich die «B. Z.», «meiden offenes Auftreten in bestimmten Gegenden, etwa weil sich dort viele arabisch- und türkischstämmige Jugendliche mit Homosexuellen-feindlichen Einstellungen aufhalten.»

«Alex Eidgenoss» pöbelt gern per Mail

So weit ist es in der Schweiz zum Glück nicht. Hier deckt sich die Migrationsthese bei manchen Homosexuellen denn auch nicht mit den eigenen Erfahrungen. «Was Hans-Peter Portmann erzählt, kann ich nicht bestätigen», sagt SP-Nationalrat Angelo Barrile, der schon lange in Zürich lebt. «Zumindest jene, die mich anpöbeln, sprechen gut Schweizerdeutsch.» Und Barrile ist schon oft angepöbelt worden. Per Mail erhält er Schmähungen von Leuten, die sich «Alex Eidgenoss» oder «Peter Weber» nennen.

Auch auf der Strasse wird der gebürtige Sizilianer immer wieder belästigt: Das letzte Mal an der Gay Pride, wo sich ein Mann über die «nervenden Schwulen» beklagte, das erste Mal vor zwanzig Jahren, als er beim Grossmünster von jungen Männern umzingelt wurde, die ihn beschimpften, mit Bier übergossen und seinem Freund eine Bierdose an den Kopf warfen. Barrile räumt indes ein, dass Migration aus homophoben Ländern in Einzelfällen negative Effekte haben könnte: «Ich weigere mich, in Staaten zu reisen, in denen Homophobie Staatsideologie ist», sagt er, «und glauben Sie mir, sehr viele Destinationen bleiben da am Ende nicht übrig.»

Hilferufe aus der Flüchtlingsunterkunft

Dass die kulturelle Prägung ein Problem sein kann, zeigt sich in Flüchtlingsunterkünften, wo Homosexuelle oft über Belästigungen und Attacken klagen. So rief die Genfer Schwulenorganisation Dialogai die Community 2014 öffentlich dazu auf, Asylbewerber in Privatwohnungen zu beherbergen. Denn für die Betroffenen sei das Leben in den überfüllten Unterkünften schlicht «die Hölle». «Die Situation hat sich nicht gebessert», sagt Dialogai-Direktorin Juliette di Giorgio, «diese Leute erleben in den Unterkünften oft dasselbe wie in ihrer Heimat, egal, ob sie aus Syrien, Zentralafrika oder dem Maghreb kommen.»

Schwulenaktivist Peter Thommen hat zum heiklen Thema Migration eine eigene Theorie: «Für Ausländer, die in der Schweiz als ‹minderwertig› galten, waren Attacken auf Schwule oft ein Mittel, um in der Hierarchie nicht ganz unten zu stehen. Das galt in den 1960er Jahren für manche Süditaliener und später für Maghrebiner.» Thommen betrachtet Homophobie – er selber spricht lieber von Antihomosexualität, weil längst nicht alle Täter unter einer Angststörung leiden – jedoch als gesamtgesellschaftliches Problem, das immer wieder durch Aufklärung und Sensibilisierung therapiert werden muss, von Generation zu Generation. Die heutige Situation empfindet er als absurd: «Die Gesellschaft ist mittlerweile völlig verschwult», spottet er, «so wie die heterosexuellen Männer heute herumlaufen, hätte man sie früher zusammengeschlagen. Und doch verschwindet der Hass auf Schwule offenbar nie.»

Die drei jungen Basler, die 1989 einen Mann angezündet haben, erhielten vom Jugendgericht bedingte Freiheitsstrafen von bis zu elf Monaten. Der Haupttäter wurde wie folgt beschrieben: feines, mädchenhaftes Gesicht, roter Pullover und mittellange blonde Haare. Was aus ihm geworden ist, ist nicht bekannt.

Der ganz normale Wahnsinn

Weg vom konservativen, intoleranten Land, rein in die weltoffene Stadt: Das dachte sich einst auch Livio Terribilini, ein 30-jähriger Homosexueller aus dem Kanton Solothurn. Heute lebt er in Zürich, engagiert sich in der Schwulenbewegung, nimmt an Demonstrationen teil und spaziert mit seinem Partner gerne Hand in Hand durch die Stadt. Mittlerweile ist er sich jedoch nicht mehr ganz sicher, ob der urbane Raum wirklich noch jener tolerante Ort ist, den er einst erwartet hat. «Mein Partner und ich werden regelmässig angepöbelt», erzählt er, «der Tonfall ist oft aggressiv und bedrohlich.» Das Muster ist laut Terribilini stets ähnlich, «meist sind es Gruppen von jungen Männern, die uns aus dem Auto heraus oder auf der Seepromenade als ‹huere Schwuli› und anderes beschimpfen.»

Vor einem Jahr wurde das Paar am helllichten Tag angepöbelt, als es Hand in Hand an einer Pizzeria im Kreis 3 vorbeiging. «Sie haben uns zugerufen, wir sollten unsere Scheisshände loslassen, als hätten wir ihr Blickfeld gestört mit unserem unmännlichen Verhalten. Einer hat dann noch gesagt, sie dürften uns Schwule beleidigen, aber man dürfe sie nicht als Ausländer diskriminieren. Der kennt offenbar die Rechtslage.» Der Vorfall hat Terribilini zwar erschüttert, aber auch seinen Widerstandsgeist geweckt: «Die ganze Gesellschaft muss sich gegen diese Vorfälle wehren, jeder, der eine solche Situation beobachtet, soll eingreifen.» Er selber hat in der Homosexuellen Arbeitsgruppe Zürich eine Aktion initiiert: Homosexuelle gehen extra händehaltend durch die Stadt, um den Leuten zu zeigen, dass dies ganz normal ist. Die Erfahrungen sind bis jetzt positiv.