Auch für die Menschen gibt es eine artgerechte Haltung: Worüber sich Anthropologen gegenwärtig streiten

Sind wir von Natur aus gut oder böse, also zur friedlichen Gemeinschaft fähig? Wissenschafter greifen in eine Debatte ein, die im Westen seit Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau tobt.

Markus Schär
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Der Mensch ist halb Eigenbrötler und halb soziales Wesen: Christo's Installation auf dem Iseo-See in Norditalien im Jahre 2016. (Bild: Julian Castle / Imago)

Der Mensch ist halb Eigenbrötler und halb soziales Wesen: Christo's Installation auf dem Iseo-See in Norditalien im Jahre 2016. (Bild: Julian Castle / Imago)

Was ist den grossen Denkern gemein, die seit dem 17. Jahrhundert über das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft nachdachten, also René Descartes, Thomas Hobbes, Baruch de Spinoza, John Locke und Immanuel Kant? Sie hatten alle keine Kinder, sagt Yoram Hazony. Der konservative Philosoph aus Jerusalem stellt deshalb fest: «Der Rationalismus der Aufklärung ist das Konstrukt von Männern, die nie erfuhren, was es braucht, um in einer Familie zu leben.»

Das politische Denken im Westen kreise heute um die Theorie vom unabhängigen Individuum, das nur Verpflichtungen eingehe, wenn es ihnen zustimme. Und weiter schreibt der Kritiker: «Diese Theorie erfanden Männer, die weitgehend so lebten. Alle Menschen mit Kindern wissen aber, dass die Theorie nicht stimmt.» Denn oft erfüllten sie einfach ihre Pflicht, nicht nur gegenüber ihrem Nachwuchs, sondern auch in ihrem Staat. «Wie lange dauert es noch», fragt Yoram Hazony darum, «bis unsere Schulen und Universitäten etwas Lebensnäheres bieten als die Fantasien von lebenslangen Junggesellen in der Aufklärung?»

Der Mensch, ein soziales Wesen

Die erfolgreichen Männer, die eine Gesellschaft als Summe von Individuen sehen, die nach selbstbestimmten Regeln zusammenleben, geraten nicht nur unter den Beschuss von konservativen Philosophen. Die Populisten aller Länder beschuldigen die liberalen Eliten, die auf den globalen Austausch von Gütern, Diensten und auch Menschen setzen, sie zerstörten die Gemeinschaften der Einheimischen, also ihre Heimat. Und selbsternannte Progressive aller Couleurs verdammen den freien Markt der Ideen wie der Produkte als soziales Konstrukt des imperialistischen, kapitalistischen Patriarchats.

Alle Kritiker des Glaubens an das freie Individuum können sich jetzt von wichtigen Neuerscheinungen bestätigt fühlen: Diese Werke zeigen den Menschen als soziales Wesen, das nur in der Gemeinschaft seine Bestimmung findet. Sie stammen allerdings alle von Wissenschaftern, die sich auf die Evolution, also auch auf naturgegebene Gesetze und angeborene Wesenszüge berufen: von erfolgreichen Männern fortgeschrittenen Alters, die sich ihren Namen als Anthropologen machten.

Michael Tomasello, 69, bis letztes Jahr Co-Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, spürt in «Becoming Human. A Theory of Ontogeny» der Frage nach, was die Menschenkinder unter den Primaten einzigartig macht. Richard Wrangham, 71, Professor am Department of Human Evolutionary Biology in Harvard, stellt «The Goodness Paradox» dar: dass sich die Menschen selbst zu einer friedlicheren Spezies domestizierten, aber gerade deshalb auch zu Imperialismus und Genozid fähig machten. Und David Sloan Wilson, 70, Professor an der Binghamton University, zeigt in «This View of Life. Completing the Darwinian Revolution» auf, wie die Evolution menschliche Gesellschaften erfolgreich macht.

Zu den Anthropologen stösst der ebenso namhafte Soziologe Nicholas Christakis, 57, der an der Yale University lehrt und in seinem Human Nature Lab dazu forscht, wie Menschen sich in Netzen austauschen. Wie seine Kollegen aus der Anthropologie glaubt er aufgrund seiner Laborexperimente an das Gute, also Gesellschaftsfähige im Menschen. Sein neuer Bestseller heisst denn auch: «Blueprint. The Evolutionary Origins of a Good Society».

Gut oder böse?

Diese Forscher führen eine Debatte fort, die im Westen seit Jahrhunderten tobt: Ist der Mensch von Natur gut oder böse? Thomas Hobbes meinte in seinem «Leviathan» von 1651, im Naturzustand herrschten Gesetzlosigkeit und Gewalt, also der «Krieg aller gegen alle»; nur ein starker Souverän könne die Menschen, die sich Wölfe seien, voreinander schützen. Jean-Jacques Rousseau dagegen prägte in seinem «Discours sur l’inégalité» von 1755 das Ideal der edlen Wilden, also der von Geburt guten Menschen, die friedlich zusammenlebten, und meinte, erst die Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft verderbe die menschliche Natur.

Die Neuerscheinungen zeigen: Für die Anthropologen ist diese Debatte entschieden. Die Funde der Paläontologen, die die Entwicklung des Menschen seit zwei Millionen Jahren aufzeigen; und die Feldstudien der Ethnologen, die den Jägern und Sammlern von heute nachspüren; aber auch die Laborexperimente von Primatologen oder Psychologen, die das einzigartige Verhalten von Menschenkindern erforschen, lassen nur einen Schluss zu: Rousseau hatte recht.

Denn auch das Verhalten der Menschen von heute prägt die Evolution. Die Spezies Homo lebte seit je in kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern, zwar mit biologisch bestimmter Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, aber mit egalitärer Ordnung und reziproken Beziehungen: Alle brauchten einander zum Überleben – ein einsamer Jäger ist ein todgeweihter Jäger.

Und eine Eigenheit machte die Menschen erst zu Wesen mit überlegener Intelligenz, wie die Zürcher Anthropologen um Carel van Schaik meinen: Sie pflegen das «cooperative breeding», also die gemeinsame Aufzucht der Kinder, bei der auch Grossmütter, Geschwister und sogar Väter mithelfen. Die Menschen bekommen also viel mehr Gelegenheiten zum Lernen und zum Lehren; die Jungen können sich von verschiedenen Bezugspersonen Fertigkeiten aneignen und Kenntnisse aufschnappen, gerade in ihrer Peer Group.

Darauf komme es beim «becoming human» an, stellt Michael Tomasello im Labor fest: «Zweijährige Kinder sehen unsere physische Welt gleich wie Affenjunge, aber im sozialen Umgang sind sie weit voraus. Wir Menschen sind also nicht intelligenter, wir haben einfach eine ganz spezielle Intelligenz. Wir lernen vom Wissen und Können der anderen, indem wir beim Kooperieren und Kommunizieren ihre Perspektive einnehmen.» Deshalb rät der Forscher, Kinder sollten sich mehr in unbeaufsichtigten Gruppen bewegen, um selber Regeln zu setzen und Konflikte zu lösen, also «ihren eigenen moralischen Kompass zu finden».

Das empathische Moment

Liesse sich so aber tatsächlich eine gute Gesellschaft schaffen?, fragt sich Nicholas Christakis. Der Soziologe weiss natürlich, dass es unethisch wäre, Kinder zum Testen dieser Hypothese ohne Betreuung und Zuwendung aufwachsen zu lassen, wie es früher Herrscher gelegentlich aus Neugier machten. Aber er fand ein natürliches Experiment, wie Menschen ohne vorgegebene Regeln ihr Zusammenleben gestalten: die Gemeinschaften von Schiffbrüchigen.

Die Forscher stiessen in ihrer Datenbank auf zwanzig Fälle, in denen eine grössere Gruppe mehr als zwei Monate auf einer zuvor unbewohnten Insel überlebt hatte. Und sie sahen, dass sich solche unfreiwilligen Gemeinschaften halten konnten, wenn sie in einer flachen Hierarchie weisen Anführern vertrauten, Freundschaften pflegten, für Kranke und Verletzte sorgten und bei der Suche nach Wasser und Nahrung oder beim Bau von Rettungsbooten zusammenarbeiteten – wenn sie sich also verhielten wie die Jäger und Sammler.

Dieses Verhalten, stellt Nicholas Christakis beim Aufarbeiten der anthropologischen Literatur wie beim Erforschen von freiwilligen Gemeinschaften wie Kommunen oder Sekten fest, ist offenbar eine universale Eigenheit der Menschen, «angeboren wie die Fähigkeit zum aufrechten Gang». Der Soziologe nennt sie «The Social Suite»: ein Ensemble aus der Liebe für Partner und Nachwuchs, der Fähigkeit zu Freundschaft, Zusammenarbeit und sozialem Lernen und Lehren, aber auch der Neigung, die eigene Gruppe anderen vorzuziehen. «Allzu lange hat die Wissenschaft auf die dunkle Seite unseres biologischen Erbes fokussiert, also auf Tribalismus, Egozentrik, Gewalt und Grausamkeit», meint Nicholas Christakis. «Die helle Seite hat nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient.»

Woher kommen denn die Greuel, zu denen die Menschen ebenso fähig sind? Einerseits sehen die Anthropologen Kriegszüge und Massenmord, Despotismus, Patriarchat und Sklaverei als Folge der neolithischen Revolution vor zehntausend Jahren, als die Menschen zur Landwirtschaft übergingen und in Städten zusammenlebten, sich also nicht mehr in überschaubaren Gruppen begegneten. Das Zusammenwirken in den heranwachsenden Staaten liess sich nur durch Religionen mit einem allmächtigen und allwissenden Gott erzwingen, in der Neuzeit von Nationen, immer in der Abgrenzung von Leuten mit anderem Glauben oder anderer Herkunft. Diese Zwangsgemeinschaften brechen heute auf – die Menschen suchen aber immer noch in kleinen Gruppen ihren Halt.

Anderseits führt Richard Wrangham mit seinem «Goodness Paradox» das Böse gerade auf das Gute im Menschen zurück: «Unsere Tendenzen als Dämonen kommen von unserer Domestikation zu Engeln. Dank unserer Fähigkeit zur Zusammenarbeit können wir organisiert und methodisch Gewalt gegen unsere Mitmenschen ausüben. Es gibt also keinen Widerspruch zwischen Hobbes und Rousseau.»

Übrigens knöpft sich Yoram Hazony bei seiner Kritik an den kinderlosen Denkern auch Jean-Jacques Rousseau vor. Der Philosoph aus Genf lehrte zwar mit seinem «Emile» die Erziehung des von Natur aus guten Menschen, er gab aber seine eigenen Kinder ins Waisenhaus.

Michael Tomasello: Becoming Human. A Theory of Ontogeny. Harvard University Press, Cambridge 2019. 379 S., Fr. 47.90.
Richard Wrangham: The Goodness Paradox. How Evolution Made Us Both More and Less Violent. Profile Books, London 2019. 400 S., Fr. 27.90.
Nicholas Christakis: Blueprint: The Evolutionary Origins of a Good Society. Little, Brown Spark, New York 2019. 544 S. Fr. 54.90.

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