Mit den ersten Staaten entstand die Sklaverei, sagt der Politologe James C. Scott. Vielleicht wären wir besser Nomaden geblieben

Getreide pflanzen, sesshaft werden, Staaten bilden: Das nennt man Fortschritt. James C. Scott erzählt, wie die ersten Stadtstaaten entstanden sind. Und bürstet den Zivilisationsmythos gegen den Strich.

Thomas Ribi
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Heute sind in der Weite der irakischen Wüste nur noch Mauerreste zu sehen. Aber die Gründung der Stadt Uruk am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. bezeichnet den Anfang der Staatengründung in Mesopotamien. (Bild: Robert Harding / Imago)

Heute sind in der Weite der irakischen Wüste nur noch Mauerreste zu sehen. Aber die Gründung der Stadt Uruk am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. bezeichnet den Anfang der Staatengründung in Mesopotamien. (Bild: Robert Harding / Imago)

Ab und zu bei Rot die Strasse überqueren, das muss einfach sein. Warum geduldig am Strassenrand warten, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist, nur weil die Ampel gerade nicht auf Grün zeigt? Für James C. Scott gehören solche kleinen Übertretungen zur mentalen Hygiene, die jeder Mensch pflegen sollte. Mehr noch, sie sind ein politisches Statement. «Anarchistische Freiübungen» nennt der amerikanische Politologe das. Jeden Tag, empfiehlt er, sollte man gegen irgendein belangloses Gesetz verstossen. Als Übung im selbständigen Denken. Als Pflicht, sich bei jedem Verbot zu überlegen, ob es vernünftig und gerecht ist.

Nur so sei man bereit für den grossen Tag, sagt der 81-jährige Yale-Professor. Den Tag, an dem der Staat uns vielleicht einmal auffordert, etwas zu tun, das grundlegenden menschlichen Geboten widerspricht, vielleicht sogar unter Androhung von Gewalt. Dann braucht es Widerspruchsgeist. Und wie, fragt Scott, solle man sich dem Zwang des Staates entziehen können, wenn man sich immer rückhaltlos allen Gesetzen und Verordnungen fügt, die er erlassen hat? Bei Rot die Strasse überqueren als Zeichen der Distanz also gegenüber dem Staat, der dazu tendiert, Bürger als Untertanen zu betrachten und immer weitere Bereiche des Lebens zu reglementieren, wenn man ihm keine Grenzen setzt.

Auch Jäger pflanzen Gerste

Nun endet James C. Scotts Staatsskepsis natürlich nicht bei Rotlichtern. Sie geht tiefer. Jahrelang hat er sich mit Praktiken des Widerstands gegen den Staat beschäftigt, unter anderem mit denen von Bauern in Asien. Er hegt Sympathie für die Unangepassten, die sich keiner Macht und keiner Verwaltung beugen wollen – Menschen, deren Ziel darin besteht, in den Archiven der staatlichen Verwaltung gar nicht präsent zu sein. In seinem neuen Buch «Die Mühlen der Zivilisation» geht er die Frage nach dem Wesen der Staatlichkeit an, indem er sich an die historische Wegmarke begibt, an der die ersten Stadtstaaten entstanden: ins Mesopotamien des 4. Jahrtausends v. Chr.

«Against the Grain» lautet der Titel des Buches im englischen Original, und Scott hält, was der Titel verspricht. Er bürstet die Urgeschichte der Staatenbildung gegen den Strich und rückt die fast zum Dogma erstarrten Vorstellungen von den Anfängen der Getreidewirtschaft zurecht. Scott ist Politologe. Aber er kennt die archäologischen Untersuchungen genau, die in den letzten zwei Jahrzehnten im Zweistromland durchgeführt wurden. Und ihre Befunde zeigen: Wer Getreide anbaute, musste nicht zwingend sesshaft leben. Rund viertausend Jahre lang betrieben Menschen in der Schwemmlandebene Mesopotamiens Ackerbau, mit Gerste oder Emmer, bevor die ersten festen Siedlungen entstanden.

Die Menschen bestellten zwar Äcker und hielten Haustiere, gaben aber ihre nomadische Lebensweise nicht auf. Und zwar, weil der Ackerbau nicht so viele Vorteile bot, dass sich das gelohnt hätte. Den Nomaden sei es meist besser gegangen als den sesshaften Bauern, sagt Scott. Sie hatten einen vielseitigeren, ausgewogeneren Speisezettel und lebten gesünder. Ackerbau war arbeitsintensiv und anstrengend. Die Skelette von Frauen aus frühen agrarischen Siedlungen zeigen charakteristische Verformungen an den Zehen – eine Folge von Arthritis, die davon herrührt, dass die Frauen zum Mahlen des Getreides auf den Zehen sassen. Auch Infektionskrankheiten wurden zum Problem, weil die Menschen auf engem Raum mit ihren Nutztieren lebten.

Städte brauchen Krieger

Kein angenehmes Leben also. In vielem deutlich weniger angenehm als das Leben der nomadisierenden Jäger, auch wenn man dessen Gefahren nicht verkennen darf. Aber dass sich Menschen ohne äusseren Zwang dazu entschlossen, in festen Siedlungen zu leben, hält Scott für unwahrscheinlich. Welcher Zwang sie dazu bewog, darüber lässt sich nur spekulieren. Eine Dürre vielleicht, die dazu führte, dass man sich in der Nähe von Wasser niederliess. Vielleicht gingen die Wildbestände zurück, oder die Bevölkerung stieg an – jedenfalls war man darauf angewiesen, höhere Erträge aus dem Boden zu holen.

Aber grosse Siedlungen wie die Stadt Uruk, die Ende des 4. Jahrtausends in Mesopotamien entstand, sind anfällige Gebilde. Wo viele Menschen auf so engem Raum leben, braucht es politische Strukturen. Arbeiten müssen zentralisiert werden, es braucht Verwalter, Priester und Schreiber, die Inventare, Gesetze und Verträge verfassen – in Uruk wurden die ältesten bekannten Keilschrifttafeln gefunden. Es braucht Arbeiter, welche die Lebensgrundlagen für die Menschen schaffen, die nicht mehr selber für ihre Nahrung sorgen.

Städte brauchen aber auch Krieger. Die Siedlungen mit ihren Getreidespeichern waren für marodierende Banden ein gefundenes Fressen und mussten verteidigt werden. Man musste sie befestigen. Nach der Legende baute König Gilgamesch selber die gewaltigen Mauern von Uruk – in Wirklichkeit wird es wohl, wie überall, Baumeister, Maurer und Handlanger gebraucht haben. Für einen grossen Teil der Einwohner, schliesst Scott, bedeutete das Leben in einem Stadtstaat also Zwangsarbeit, Wehrpflicht und Steuern.

Sesshaft sein ist kein Naturgesetz

Nicht alle wollten sich der Macht des Staates fügen. Es ist auffällig, dass in der ältesten bekannten Gesetzessammlung der Welt, dem Codex Hammurabi aus dem 18. Jahrhundert v. Chr., Bestimmungen zur Bestrafung von Flüchtlingen breiten Raum einnehmen. Mit den Siedlungen entstand für Scott auch die Sklaverei, denn die Stadtstaaten mussten Menschen von aussen aufnehmen, um existieren zu können, und das hiess oft: entführen und versklaven. Die Menschen, die sich dem Zwang des Staates widersetzten, sind in der Geschichtsschreibung allerdings nur selten präsent.

James C. Scott rüttelt mit Lust, aber fundiert an einem Narrativ, das Sesshaftigkeit als höchste Lebensform des Menschen versteht und Staatenbildung einhellig als Erfolgsgeschichte präsentiert. Ob wir besser Nomaden geblieben wären? Scott weist jedenfalls darauf hin, dass das Leben ausserhalb des Einflussbereichs von Staaten seine Vorteile hat. Und dass eine gewisse Distanz zum Staat guttun kann. Auch wenn sie sich nur in kleinen Übertretungen äussert. Übrigens schränkt James C. Scott seine Empfehlung, bei Rot über die Strasse zu gehen, in einem wichtigen Punkt ein – tun Sie es bitte nur, wenn keine Kinder in der Nähe sind. Sie wären ein schlechtes Beispiel. Vielleicht nicht in politischer Hinsicht, aber ganz sicher, was die Verkehrssicherheit betrifft.

James C. Scott: Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Aus dem Amerikanischen von Horst Brühmann. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 329 S., Fr. 46.90.