Sexualität wird zum Superproblem

Studien zeichnen ein erschreckendes Bild: Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt scheinen omnipräsent. Was sagt das über unsere Gesellschaften aus – und wie soll der Staat auf solche Befunde reagieren?

Claudia Mäder
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«Am Anfang ist der Zweifel. Vor jedem Satz, jedem Wort gibt es diese Schwelle: Ist das richtig? Woher weisst du, dass es zutrifft? Ist es gerecht?» Doch, ich glaube, das ist der richtige Einstieg. Carolin Emcke hat mit dieser Passage ihr jüngstes Buch begonnen, und sie passt für den folgenden Text nicht minder: Über Fragen der sexuellen Belästigung und Gewalt zu schreiben, ist immer mit fundamentalen Bedenken verbunden – darf ich das? Soll ich das? Und wenn man sich schliesslich äussert, dann nur, weil man wie Emcke glaubt, dass es die «Vielfalt der Stimmen» und das Reflektieren verschiedener Positionen braucht.

Die deutsche Philosophin setzt sich in ihrem für die Bühne geschriebenen Buch («Ja heisst ja und . . .», S. Fischer) mit Aspekten der #MeToo-Bewegung auseinander und hebt mit spitzer Feder gegen die Kritik an, die dieser erwuchs. Mehr als einmal trifft Emcke dabei ins Schwarze. Dass Frauen anderswo auf der Welt vor ganz anderen, ungleich grösseren Probleme stehen, ist beispielsweise kein Argument, das respektlosen Umgang in unseren Breiten entschuldigt oder harmlos macht. Ebenso unredlich ist es, den Anklägerinnen Prüderie zu unterstellen oder der ganzen Bewegung «Tugendterror» vorzuwerfen – wer gewisse Handlungen in gewissen Kontexten ablehnt, sagt deshalb nicht grundsätzlich Nein zur Lust.

Ja, Emcke ist eine sehr präzise Denkerin. Liest man ihre losen Episoden und Reflexionen, stimmt man vielem zu. Schaut man aber aufs Ganze, kommt man ins Stutzen. Übergriff und Übertretung, falsche Scham und echte Schuld sind auf jeder Seite des Buches präsent. «Das, was geschehen kann, das, was immer wieder geschehen ist, das, was Generationen von Mädchen und Frauen vor uns geschehen ist, das, was immer noch geschieht» – die Gefahr der sexuellen Gewalt ist laut Emcke in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Doch werde sie zugleich totgeschwiegen: «Anstatt die Tat zu unterdrücken, wird das Reden darüber unterdrückt.»

Die Autorin selber bricht also ein Schweigen. Ihre Äusserung aber ist beileibe nicht die einzige. Eher hat man den Eindruck, dass heute taub sein müsste, wer die beklagte Stille noch vernehmen wollte. Just ein Tag vor Emckes Buch etwa ist in der Schweiz eine Studie zu sexueller Belästigung und sexueller Gewalt an Frauen erschienen, das mediale Echo war riesig. Wenig später folgte eine Umfrage, die die Missstände in der Medienbranche beleuchtete, auch darüber wurde breit berichtet. Und gerade solche Erhebungen sind durchaus keine neuen Phänomene, europaweit wurde schon 2014 über ein Papier der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte diskutiert, das in allen Ländern die (sexuelle) Gewalt gegen Frauen untersucht hatte.

«Junge Leute beim Flirten» – das meldet die Bildagentur. Was die Beteiligten in dieser Szene jedoch wirklich wollen, ist von aussen nicht festzustellen. (Bild: Philippe Lopparelli / Tendance Floue)

«Junge Leute beim Flirten» – das meldet die Bildagentur. Was die Beteiligten in dieser Szene jedoch wirklich wollen, ist von aussen nicht festzustellen. (Bild: Philippe Lopparelli / Tendance Floue)

Sensibilisierung . . .

Die Schweiz war in der Messung nicht dabei, würde aber nach der jüngsten Studie etwa im Schnitt der 28 EU-Staaten liegen: 55 Prozent der befragten Frauen gaben dort an, schon Belästigungen erlebt zu haben, in der Schweiz bewegten sich die Werte zwischen 50 und 59 Prozent. Interessant sind aber vor allem die Ausschläge der europäischen Tabelle – während satte 81 Prozent der Schwedinnen Belästigungen rapportierten, gaben gerade einmal 24 Prozent der Bulgarinnen an, schon unter unangenehmem Starren gelitten zu haben, von sexuell suggestiven Kommentaren verletzt worden zu sein oder sich wegen aufdringlicher Fragen zum Privatleben schlecht gefühlt zu haben.

Das sind nur einige von elf vorgeschlagenen Belästigungsformen, die indes alle eines gemeinsam haben: Ein Akt ist hier nie per se eine Belästigung, es ist erst seine Beurteilung durch die befragte Frau, die ihn zum Übergriff macht und also in der Statistik auftauchen lässt – hat sie sich wegen des Blicks, des Spruchs oder der Umarmung verletzt gefühlt? So dürften sich auch die extremen Länderunterschiede erklären: Es gibt keinen vernünftigen Grund zur Annahme, dass die Bulgaren dreimal weniger aufdringlich starren als die Schweden. Aber scheinbar nehmen die Schwedinnen dieses Verhalten sehr anders wahr als die Bulgarinnen.

Ganz offensichtlich hängt die Einschätzung der Belästigung nicht zuletzt davon ab, wie stark eine Gesellschaft für das Thema sensibilisiert ist und wie wach es verfolgt wird – im Norden sind Fragen der Geschlechtergleichheit bekanntlich von grosser Bedeutung und im öffentlichen Diskurs stark vertreten. Und so berichten denn zum Beispiel auch ähnlich viele Däninnen (80 Prozent) wie Schwedinnen von sexuellen Belästigungen. Insofern könnte die These von der omnipräsenten Gefahr der sexuellen Tat und der unterdrückten Rede über sie auch gerade andersherum lauten: Das Reden über sexuelle Missstände ist omnipräsent – und bringt die bedrohlichen Gesten mit hervor, weil nunmehr alles, was zwischen zwei Menschen geschieht, im Rahmen dieses Diskurses gedeutet wird.

Es sei zur Sicherheit betont: Sexuelle Belästigungen sind selbstverständlich nicht einfach diskursive Produkte, sondern unter Umständen unhaltbare Vergehen, die rechtlich geahndet gehören. Es geht auch keineswegs darum, subjektive Empfindungen zu negieren, kleinzureden oder ihnen ihre Bedeutung abzusprechen. Wer sich etwa von Blicken, Kommentaren oder Berührungen verletzt fühlt, soll das artikulieren dürfen und damit ernst genommen werden. Die persönliche Erfahrung steht nicht zur Debatte. Die Diskussion, die zu führen ist, ist eine andere: Welche überindividuellen Tendenzen sollen wir aus diesen Empfindungen herauslesen, und welche Massnahmen soll ein Rechtsstaat daraufhin ergreifen?

. . . und Kriminalisierung

Die erschreckend hohen Zahlen unserer stark sensibilisierten Gesellschaften suggerieren, dass die Dinge zwischen den Geschlechtern ganz grundsätzlich im Argen liegen – oder gar immer ärger werden. Das jedoch könnte eine Verzerrung sein, die nach dem berühmten Tocqueville-Paradox funktioniert: Der Franzose hat im 19. Jahrhundert festgestellt, dass die Bevölkerungen dort, wo die sozialen Ungleichheiten am stärksten abnehmen, am empfindlichsten auf die verbleibenden Ungerechtigkeiten reagieren. Natürlich lässt sich das nicht direkt auf unseren Bereich übertragen, nur schon, weil in der langen Dauer die Daten fehlen. In Deutschland aber gingen Experten um 2008 davon aus, «dass die Zahl der Verstösse gegen die sexuelle Selbstbestimmung seit langem zurückgeht» – derweil die Leute in Befragungen schätzten, dass sich gewisse Sexualverbrechen verdoppelt hätten.

Dementsprechend haben viele Länder auf der Ebene der Gesetze gehandelt. Die Kriminalisierung sexueller Sachverhalte hat in diversen Staaten zugenommen, Strafmasse wurden erhöht, Ordnungen verschärft. So ist etwa Schweden nicht nur Spitzenreiter in der zitierten EU-Statistik von 2014. Das Land hat 2017 auch als eines der ersten eine Ja-heisst-Ja-Regelung in seinem Sexualstrafrecht verankert: Findet Geschlechtsverkehr ohne explizite (verbale oder nonverbale) Einwilligung statt, gilt er als «unachtsame Vergewaltigung».

Dass diese Norm den Schutz der Menschen erhöht (das Strafrecht also eine präventive Wirkung hätte) oder zu mehr Verurteilungen führt, bezweifeln Sachkenner – schliesslich scheitern schon in Staaten, die sich bei Vergewaltigungen an objektiveren Kriterien wie Gewalt oder Druck orientieren, sehr viele Verfahren an der schwierigen Beweisführung. Trotzdem wird die Ja-heisst-Ja-Norm seit Publikation der Studie zur sexuellen Belästigung und Gewalt auch in der Schweiz weitum gefordert: Man müsse ein Zeichen setzen, heisst es.

Nun müsste man nicht nur fragen, ob das Strafrecht der geeignete Ort ist, um Symbolpolitik zu betreiben. Auch die Bedeutung dieses Zeichens wäre vertiefter zu ergründen: Welche Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität vermittelt es jenseits des von jedem vernünftigen Menschen geteilten Wunsches nach Konsens?

Zeichen lesen

Vielsagend ist schon der Umstand, dass die Schweizer Studie (wie die meisten in diesem Bereich) nur Frauen befragte – wie Männer die Probleme im Sexuellen erleben, wurde nicht erhoben. Folglich ist auch die geforderte Verschärfung des Rechts als Akt zum Schutz der Frau zu verstehen: eines Wesens, das vom triebhaften Mann vergewaltigt wird, sofern es den Verkehr nicht vorgängig abnickt.

Man fühlt sich hier im wahrsten Sinn ins Mittelalter versetzt: Ob der prinzipiell schuldbehaftete Beischlaf nach kirchlichen Geboten in gewissen Momenten vollzogen werden durfte, hing laut einer Richtlinie für Beichtväter aus dem Jahr 1317 davon ab, ob die schamhaft-schüchterne Frau «mit deutlichen Worten oder aber auf eine andeutende Weise wie z. B. mit anschaulichen Zeichen» darum gebeten hatte. Der Mann, der sowieso dauernd Begierige, hatte daher theoretisch stets den weiblichen Körper zu entziffern und auf positive Signale zu lauern.

Anstatt alte Stereotype zu verabschieden, hat unsere Gesellschaft den Hang, sie zu verstärken. Carolin Emcke hofft in ihrem Buch das Gegenteil: Je mehr man von Belästigungsfällen höre, desto mehr würden sich die Perspektiven ändern, meint sie. «Ressentimentgesättigte Phantasien» könnten zurückgehen und differenzierteren Bildern von männlichen wie weiblichen, christlichen oder muslimischen Opfern wie Tätern Platz machen. In der Realität zu beobachten ist aber vielmehr das, wovor sie warnt, nämlich «dass wir wieder Eigenschaften koppeln an Bilder von Männern und Frauen, dass wir wieder festschreiben und zuschreiben, was männlich oder weiblich sein soll».

Zuletzt und im Kern wird heute noch etwas ganz anderes festgeschrieben: Die ganzen Diskurse und alle daraus abgeleiteten Regulierungen suggerieren wie weiland die Theologen, dass der sexuelle Bereich direkt an die menschliche Seele rühre. Akribische Studien zur persönlichen Wahrnehmung von Raubüberfällen, Drohungsdelikten oder Körperverletzungen sind vergleichsweise selten zu lesen. Sie betreffen auch nicht das Intimste des Menschen!, wird man nun empört monieren. Aber wer sagt denn, dass das Sexuelle das tut?

Wir überfrachten die sexuelle Sphäre mit sozialer Bedeutung: Das Dominanzverhältnis der Geschlechter soll sich in ihr spiegeln, den Kern eines Individuums soll sie konstituieren – und es im Fall von Gewalt auch im Innersten treffen und destabilisieren. Diese kulturell geformten Paradigmen prägen unsere hochalerten Gesellschaften immer stärker aus: In unserem unaufhörlichen Reden wächst das Sexuelle zum Superthema und zum Überproblem, das es, nüchtern betrachtet, kaum zu sein verdient.