In Syrien sitzt der Tod mit am Tisch

Feinkost für Schöngeister – das gilt für Lyrik schon lange nicht mehr. Im Gegenteil: Die ins Exil getriebenen syrischen Dichterinnen und Dichter führen vor, wie facettenreich sich die Erfahrung von Krieg und Gewalt gerade in dieser Kunstform fassen und transformieren lässt. Drei von ihnen stellen wir vor.

Angela Schader
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Wer den Hunger stillen will, setzt sein Leben aufs Spiel: Mit einem Beutel Brotfladen kämpfen sich zwei Kinder nach einem Luftangriff durch Ost-Ghouta. (Bild: Amer Almohibany / Reuters)

Wer den Hunger stillen will, setzt sein Leben aufs Spiel: Mit einem Beutel Brotfladen kämpfen sich zwei Kinder nach einem Luftangriff durch Ost-Ghouta. (Bild: Amer Almohibany / Reuters)

Das Grässlichste am Krieg? Nicht die zerfetzten Opfer, nicht die trostlosen Trüppchen der Vertriebenen und die Misere in den Flüchtlingslagern, nicht die Verrohung und der Zynismus der Kriegsparteien. Das Grässlichste am Krieg ist, «dass er beim Essen Geräusche macht».

Seltsam, dass die Formulierung nicht leichtfertig anmutet, dass man leer schluckt, statt zu lachen. Ramy al-Asheqs Gedicht «Briefe aus dem Innersten», dessen letzte Zeile hier zitiert wird, ruft in den voraufgehenden Strophen das Grauen des syrischen Bürgerkriegs auf – in Bildern, die zwar das Geschehen verfremden und Motive kühn verschränken, die aber den Schlusssatz mit einer tiefen Widerwärtigkeit aufladen.

Vergiftete Liebe

Al-Asheq, 1989 im palästinensischen Flüchtlingslager Yarmuk in Damaskus geboren, ging in der Revolte von 2011 auf die Barrikaden, wurde verhaftet, floh zunächst nach Jordanien, dann nach Deutschland. «Gedächtnishunde» heisst sein erster auf Deutsch veröffentlichter Lyrikband, in dem die Kriegsgedichte nur ein schmales Segment ausmachen.

Allerdings usurpieren die Bilder von Gewalt und Tod auch die Liebeslyrik, die eigentlich nur unter umgekehrten Vorzeichen als solche gelten kann. Am radikalsten bürstet «Massaker» das Thema gegen den Strich, indem der eisige Zynismus – «Ich wünschte, sie würden alle sterben / Auf welche Art auch immer / Wie grässlich ihr Tod ist, das kümmert mich nicht» – erst in der letzten Zeile aufgelöst wird: Mit «sie» sind lediglich die Augenblicke gemeint, die das Paar nicht gemeinsam verbrachte.

Scheinbar mühelos und oft mit eigenwilligen Bildern wechseln al-Asheqs Beziehungsgedichte zwischen männlicher und weiblicher Perspektive: wenn sich Entfremdung in Gestalt «einer Schar Katzen, die mich nicht kennen», im gemeinsamen Bett breitmacht, wenn eine betrogene Ehefrau sich mit einem zu eng gewordenen Kleidungsstück vergleicht, im Schrank verborgen «wie eine erhängte Schuld / Die deine Finger zitternd überspringen». Eine glückliche Begegnung wird erst unter dem Schutz des geschriebenen Wortes möglich: Das spinnt al-Asheq mit feinem Humor aus, wenn sich der Lyriker und die Geliebte am Ende eines Gedichts «hinter dem Tintenschleier» treffen.

Zurück in die Steinzeit

Hintersinn und tintenschwarzen Witz setzt auch Khalaf Ali Alkhalaf ein, um in «Tagebücher eines Krieges» den syrischen Horror auf Armeslänge zu halten. Sein Gedichtband ist unter den drei hier vorgestellten der zugänglichste: fast erzählerisch im Aufbau, betont schlicht im Sprachduktus, aber oft gerade dadurch hart treffend oder berührend. Krieg tritt im Band meist ohne Artikel auf – als Person, als Gast, den man aus der Winterkälte freundlich ins Haus bittet, als Nimmersatt, der sich an jedem Tisch bedient und erst von dannen zieht, «wenn er keinen mehr findet, der / ihm die eigene Leiche zum Frass vorwirft».

Alkhalaf lebt schon seit 1993 mehrheitlich ausserhalb seiner Heimat, und die Stationen, an denen die Gedichte entstanden, übergreifen nebst seinem syrischen Geburtsort Rakka die Türkei, Ägypten, Griechenland und Schweden. Aber er hält den Fokus insistent auf dem Kriegsgeschehen und schafft, um den Preis gelegentlicher kleiner Wiederholungen, ein eindrückliches Spektrum von Reflexionen und Bildern.

Die entsetzlichen Brotmassaker – Attacken der Regierungskräfte auf Hungrige, die sich vor Bäckereien scharten – schildert er aus der Sicht des Brotes; «Brot stirbt nicht», heisst es, aber den Fladen, der blutbesudelt im Dreck liegen bleibt, wird niemand mehr essen wollen. Wie mit grober Kohle gezeichnet ist auch die «Moderne Malerei in einer alten syrischen Höhle». Bitter spricht das Gedicht davon, wie die Menschen, «zum Ursprung zurückgeführt», in Höhlen hausen und sich von Kräutern nähren; wie sie «uralte Waffen / und Kriegsmethoden neu entdecken»: Messer und Stein, Schwert und Hackebeil.

Die ätzende Ironie, die einen versehrten Soldaten im Spital als Erstes nach dem Militärstiefel an seinem abgerissenen Bein fragen lässt – ist er verloren, dann muss er dem Staat Schadenersatz zahlen –, gleicht der Lyriker an anderen Stellen mit sanfteren Noten aus: Wenn einer im Testament um ein geräumiges Grab mit Tür und Stuhl, Kocher und Kaffeegeschirr bittet, damit ihn Freunde gelegentlich besuchen kommen, oder wenn der Dichter seinen Landsleuten rät: «Leg dein Erbe, gehüllt in die / Wiegenlieder der Kindheit, zu Bett und geh.»

«Ich bin hier nichts»

Als farbenreichste Stimme im Terzett tritt Lina Atfah an, die schon in «Deine Angst – Dein Paradies», einer 2018 erschienenen Anthologie mit Gedichten aus Syrien, auf sich aufmerksam machte. Mit wunderbarer Selbstverständlichkeit bewegt sich die 1989 geborene Lyrikerin zwischen Internetzeitalter und vorislamischer Dichtung, zwischen brutaler Kriegsrealität, geistvollen Phantasiestücken und Texten, die exquisit sinnlich Liebe und Weiblichkeit umspielen.

Die in der Anthologie erschienenen Gedichte wurden im neuen Buch integral übernommen. Fünf davon figurieren in jeweils zwei von profilierten deutschen Literaturschaffenden besorgten Nachdichtungen, die zum Teil ganz unterschiedlich ausfallen; die arabischen Originale sind ebenfalls abgedruckt.

Auch Atfah wirft Schlaglichter auf die syrische Kriegslandschaft – im Wissen, dass «das Töten die Vollendung unserer Entwicklung ist». Anderseits zeigt die seit 2014 in Deutschland lebende Lyrikerin, wie die Geflüchteten ihrer Sprache, ihrer Identität, ihrer Kompetenzen entkleidet werden. Im Deutschkurs nimmt sie nach aussen hin artig den Beifall entgegen, wenn sie korrekt um ein Glas Wasser oder einen Tee gebeten hat; im Innersten aber weiss sie: «Ich bin hier nichts, ausser dass ich vor dem Tod gerettet wurde.»

Diesem «nichts» setzt Atfah ihre hinreissenden Frauenfiguren entgegen. Eine umwirbt in Katzengestalt König Salomo und setzt ihm mit ihren Schmutzpfötchen «ein bisschen fröhliche Erde» aufs kühle, reine Laken. «Obst auf Stoff» spielt virtuos mit Licht, Form und Farbe, so dass man kaum mehr weiss, was in diesem bewegten Stillleben wohin gehört. Ist das Obst real, ist es als Dessin auf den Stoff gedruckt, der den Leib der Frau umschmeichelt, oder sind die Früchte, wie die Sprecherin behauptet, allesamt nur Metaphern für sie selbst? «Ich bin ein rollender Pfirsich / ich bin ein Apfel auf der Suche nach Lust und Sünde / . . . / ich bin Trauben, wenn alle Wege zum Meer führen / schwer beladen mit Zeit, gefärbt von Abendröte / und ich bin Datteln . . .» Ein armes, ein abgrundtief elendes Land, das solche Dichterinnen ins Exil verbannt.

Ramy al-Asheq: Gedächtnishunde. Deutsch von Lilian Pithan, Nachworte von Lilian Pithan und Monika Rinck. Sujet-Verlag, Bremen 2019. 76 S., Fr. 22.90.

Khalaf Ali Alkhalaf: Tagebücher eines Krieges. Deutsch von Leila Chammaa. Verlag Hans Schiler, Berlin 2018. 160 S., Fr. 26.90.

Lina Atfah: Das Buch von der fehlenden Ankunft. Vorwort von Nino Haratischwili. Deutsch von Dorothea Grünzweig, Mahmoud Hassanein, Brigitte Oleschinski, Hellmuth Opitz, Christoph Peters, Annika Reich, Joachim Sartorius, Mustafa Slaiman, Suleman Taufiq, Julia Trompeter, Jan Wagner, Kerstin Wilch, Osman Yousufi. Pendragon-Verlag, Bielefeld 2019. 144 S., Fr. 30.90.

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