Wie die Ehe für alle die Reformierten spaltet

Segnungen für Schwule und Lesben bietet die reformierte Kirche schon lang an. Doch sollen Homosexuelle auch «richtig» heiraten dürfen? Konservativen Kreisen graut vor dieser Vorstellung.

Simon Hehli
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Ein lesbisches Paar heiratet – dieses Bild könnte in der reformierten Kirche bald zum Normalfall werden. (Bild: Reuters)

Ein lesbisches Paar heiratet – dieses Bild könnte in der reformierten Kirche bald zum Normalfall werden. (Bild: Reuters)

Die Frage ist heikel, und sie hat das Potenzial, «unsere Kirchgemeinschaft langfristig zu belasten und zu schädigen». Das schreibt die Führungsriege des Evangelischen Kirchenbunds (SEK) zur innerkirchlichen Auseinandersetzung über die Ehe für alle. Das nationale Parlament treibt die Reform voran, die Homosexuelle in Sachen Ehe den Heterosexuellen gleichstellen soll. Die entsprechende Vernehmlassung lief vor einigen Wochen ab. Doch die Reformierten haben es nicht geschafft, dazu eine Position zu finden, weshalb sie eine Fristverlängerung beantragen mussten. Das überrascht, gerade auch aus historischer Perspektive.

Denn die Protestanten sind den Katholiken in Fragen der gesellschaftlichen Öffnung weit voraus. Segnungen für homosexuelle Paare sind in der reformierten Kirche seit den 1990er Jahren gang und gäbe. Doch nun geht es um die Frage, ob man den Lesben und Schwulen die gleiche Zeremonie zugestehen will wie Mann und Frau. Die Debatte auf dem politischen Parkett einfach zu ignorieren, ist keine Option. Die Reformierten, für die die Ehe kein Sakrament ist, haben sich stets an den staatlichen Vorgaben orientiert: Wer zivil geheiratet hat, darf sich kirchlich trauen lassen. Kommt die Ehe für alle, muss die Kirche entscheiden, ob sie nachzieht.

Die Ehe und die Fortpflanzung

Dagegen wehren sich konservative Kreise vehement. So die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA), die aus landes- und freikirchlichen Mitgliedern besteht. Eine absolute Gleichbehandlung und somit eine Neudefinition der Ehe sei nicht angebracht, schreibt sie. Denn nur heterosexuelle Paare könnten Nachkommen zeugen: «Die Ehe als Rechtsinstitut ist nicht bloss langfristig für die Fortpflanzung des Menschengeschlechts, sondern schon mittelfristig für diese und die nächste Generation unerlässlich.» Die SEA spricht sich erst recht gegen Adoptionsrechte für Homosexuelle und den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin aus. Es sei für Kinder nicht gut, wenn sie entweder auf einen Vater oder eine Mutter verzichten müssten.

Diese Meinung deckt sich weitgehend mit jener des konservativen Flügels innerhalb der Landeskirche. Offenkundig wird dies in einem Bericht zu den Themenkomplexen Familie, Ehe, Partnerschaft und Sexualität, den eine vom SEK eingesetzte Arbeitsgruppe verfasst hat. Das Papier ist zwar keine direkte Folge der politischen Diskussion um die Ehe für alle, dennoch steht diese im Zentrum. Auf einen gemeinsamen Standpunkt konnte sich die Arbeitsgruppe nicht einigen, was angesichts der Zusammensetzung kein Wunder ist. So vertritt etwa Sabine Scheuter, Präsidentin der Frauenkonferenz des SEK und Diversity-Beauftragte der Zürcher Landeskirche, völlig andere Ansichten als Regula Lehmann von der konservativen Stiftung Zukunft CH oder der Thurgauer Pfarrer Jürg Buchegger.

Homofeindliche Bibel

Die Verfechter der restriktivsten Position lehnen die Ehe für alle ab und wollen in der innerkirchlichen Debatte sogar hinter die heutige Regelung zurückgehen: Weil sich die Bibel ablehnend zu homosexueller Praxis äussere, dürfe es auch keine Segnungen geben. Pfarrer Buchegger hält es für falsch, für ein «verschwindend kleines Grüppchen von Homosexuellen, die überhaupt den kirchlichen Segen wünschen, eine 2000 Jahre alte christliche Tradition aufzugeben». Die Progressiven hingegen votieren dafür, gleichgeschlechtliche Paare kirchlich zu trauen und dies auch so zu nennen. Die Vertreter der Mittelposition plädieren für den Status quo: Segnung ja, Trauung nein.

Mitte Juni debattierten die Delegierten des Kirchenbundes über das Papier sowie über die Positionen, welche die Kirchenleitung daraus abgeleitet hatte. Sie strichen auf Antrag des Zürcher Kirchenratspräsidenten Michel Müller die meisten Passagen, darunter den Satz «Unabhängig von unserer sexuellen Orientierung begegnen wir homosexuellen Menschen mit Respekt». Kritiker meinten, diese Aussage klinge zu sehr nach «wir und die anderen, die Heterosexuellen». Stehen geblieben sind lediglich die homofreundlichsten Bekenntnisse: «Wir sind von Gott gewollt, so wie wir geschaffen wurden. Unsere sexuelle Orientierung können wir uns nicht aussuchen. Wir nehmen sie als Ausdruck geschöpflicher Fülle wahr.» Auf dieser Basis soll die Kirchenleitung demnächst ihre Stellungnahme zur Ehe für alle verfassen.

«Unterschiedliche Bibelverständnisse»

Die Reformierten müssten zur Gesellschaft sprechen, aber auch den innerkirchlichen Frieden wahren, sagt SEK-Vizepräsident Daniel Reuter. «Wir sind eine pluralistische Kirche, da ist es normal, dass es unterschiedliche Bibelverständnisse gibt.» SEK-Frauenkonferenz-Präsidentin Scheuter ist überzeugt, dass das reformierte Kirchenvolk in grosser Mehrheit für die Ehe für alle und für kirchliche Trauungen für Homosexuelle ist. Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe sei deshalb nicht repräsentativ gewesen.

Umstritten ist, wie stark der konservative Einfluss in der Pfarrerschaft ist. Progressive Kreise fürchten, dass in Zeiten der Säkularisierung immer weniger Personen mit einem kritischen Bibelverständnis an den staatlichen Universitäten Theologie studieren, während der Anteil der jungen Frauen und Männer mit einer evangelikalen Prägung steigt. Eine parallele Entwicklung könnte ebenfalls dazu führen, dass auf der Kanzel künftig mehr Konservative stehen: Schweizer Kirchenleitungen seien gegenüber Abgängern von privaten freikirchlich-evangelikalen Ausbildungsstätten durchaus positiv eingestellt, schreibt der Berner Theologieprofessor David Plüss in einem aktuellen Artikel. «Sie schätzen deren Engagement bezüglich Evangelisation und Gemeindeaufbau und vermissen dieses bei Absolventen eines universitären Theologiestudiums oft.»

Angst vor einer Zerreissprobe

Falls der theologische Nachwuchs konservativer auftrete als der Durchschnitt der Bevölkerung, könnte dies zu einem Auseinanderdriften zwischen Kirche und Gesellschaft führen, sagt Plüss auf Anfrage. Allerdings sehe er zurzeit und in naher Zukunft keine weiteren Indizien, die für eine solche Entwicklung sprächen. «Die Landeskirchen sind plural verfasste und insgesamt liberal gesinnte Biotope. Wer rigide Positionen vertritt, hat einen schweren Stand und passt sich rasch an.» Pfarrerinnen und Pfarrer sowie die Kirchenleitungen seien zudem im Schnitt deutlich liberaler eingestellt als der Schnitt der Mitglieder, betont Plüss.

In diesem Spannungsfeld muss sich der Kirchenbund zu einer Haltung zur Ehe für alle durchringen. «Eine allfällige Ausweitung des Ehebegriffes könnte für die Einheit der Kirche zur Zerreissprobe werden», mahnt Regula Lehmann von der Stiftung Zukunft CH. Das sieht Pfarrerin Scheuter anders. Sie hält auch die Ängste der konservativen Seite für unbegründet, dass eines Tages Pfarrer gegen ihren Willen Homosexuelle trauen müssten. «Ein schwules oder lesbisches Paar, das heiraten möchte, wird sich ja kaum ausgerechnet einen Pfarrer aussuchen, der ihre Beziehungsform ablehnt.»