Kiew fürchtet sich vor einem Brain drain. Doch der Weg ins Ausland ist beschwerlicher, als es scheint. (Bild: Taylor Weidman / Bloomberg)

Kiew fürchtet sich vor einem Brain drain. Doch der Weg ins Ausland ist beschwerlicher, als es scheint. (Bild: Taylor Weidman / Bloomberg)

Wird Deutschland bald von Ukrainern überrannt?

Das neue deutsche Gesetz zur Zuwanderung von Fachkräften schlägt in Osteuropa hohe Wellen. In der Ukraine und in Polen fürchtet man einen grossen Exodus von Arbeitskräften nach Deutschland. Doch wird es wirklich dazu kommen?

Matthias Benz, Kiew
Drucken

«Ich will in Deutschland studieren und später wohl da arbeiten.» Olena steht vor der Deutschen Botschaft in Kiew, lässt die Sommersonne auf ihr Gesicht scheinen und wartet auf das feierliche Ereignis. Gleich wird sie zusammen mit rund hundert weiteren ukrainischen Jugendlichen in der Botschaft ihr Sprachdiplom überreicht bekommen. Die jungen Menschen wirken freudig und hoffnungsfroh in ihren properen Schuluniformen. In ausgezeichnetem Deutsch erläutert Olena, dass viele ihrer Altersgenossen sich für Deutschland interessierten: «Es ist für Ukrainer ein begehrtes Ziel.»

Die Bundesrepublik findet nicht nur bei ukrainischen Sprachstudenten zunehmend Beachtung. Auch unter potenziellen Arbeitsmigranten ist das Interesse an Deutschland derzeit gross, wie einschlägige Beratungsstellen in der Ukraine berichten. Laut Google Trends wurde in den vergangenen Monaten besonders häufig nach «Arbeiten in Deutschland» gesucht. Und Wizzair, die grösste Billigfluggesellschaft Osteuropas, könnte ihrem Ruf, einen ausgezeichneten Riecher für Marktentwicklungen zu haben, wieder einmal gerecht werden: Ab Herbst wird die Airline die Zahl ihrer Flüge aus der Westukraine nach Berlin und Dortmund verdoppeln.

Berlin macht auf

Der Grund für die Aufregung trägt den sperrigen Namen «Fachkräfteeinwanderungsgesetz». Der Deutsche Bundestag hat jüngst beschlossen, den deutschen Arbeitsmarkt für Fachkräfte aus Drittstaaten (also Nicht-EU-Ländern) zu öffnen. Weil in Deutschland immer häufiger Stellen nicht besetzt werden können und die Gesellschaft längerfristig altert, soll das Land künftig mehr Fachkräfte aus Ländern wie der Ukraine anziehen. Das neue Gesetz wird Anfang 2020 in Kraft treten.

In Osteuropa werfen die deutschen Pläne bereits seit geraumer Zeit ihre Schatten voraus. So fürchtet man in der Ukraine, dass bald Landsleute in grosser Zahl nach Deutschland zum Arbeiten gehen könnten. Für die Ukraine geht es um viel: Das Land hat in den vergangenen Jahren eine grosse Welle an Auswanderungen vor allem ins benachbarte Polen erlebt, und das reiche Deutschland könnte jetzt ebenfalls viele Emigranten anziehen. Sorgen macht man sich auch in Polen: Hier hat die jüngste Einwanderung von über einer Million Ukrainern zwar den Fachkräftemangel gelindert. Wenn jetzt laut Schätzungen die Hälfte von ihnen nach Deutschland weiterwandert, würden diese dringend benötigten Arbeitskräfte in Polen fehlen. Schliesslich hegt die deutsche Politik die Erwartung, dass das neue Gesetz als Magnet für Fachkräfte aus Drittstaaten wirken wird.

Wird also Deutschland bald von ukrainischen Arbeitskräften überrannt? «Wir sehen ein stark steigendes Interesse an Deutschland. Aber wir denken nicht, dass sich dies in eine erheblich stärkere Emigration übersetzen wird», sagt Olga Pogarska von der ukrainischen Nationalbank. Die Kiewer Behörde beobachtet wie andere Notenbanken in der Region die Auswanderung mit Argusaugen und hat viel volkswirtschaftliche Expertise dazu aufgebaut. Das deutsche Fachkräfteeinwanderungsgesetz betrifft nämlich das Kerngeschäft der Notenbank, die Inflation stabil zu halten, ganz direkt.

«Es bleibt kompliziert»

In den vergangenen Jahren hat die grosse Auswanderung aus der Ukraine die Löhne im Heimatland kräftig nach oben getrieben und damit auch die Inflation angeheizt. So mussten etwa Baufirmen wegen fehlenden Personals deutlich bessere Löhne zahlen und haben die höheren Kosten auf die Preise überwälzt. Mit der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes kommt nun ein neuer Risikofaktor hinzu. Auch die polnische Notenbank, die die Abwanderung von Ukrainern fürchtet, misst diesem in ihren Prognosen für den Arbeitsmarkt und die Inflation viel Gewicht bei.

Das Ausland lockt Ukrainer mit mehr Lohn

Nettolöhne im Vergleich zur Heimat, Faktoren
Deutschland
Polen
Tschechien
Russland

Gegenwärtig leben rund 140 000 Ukrainer in Deutschland – eine überschaubare Zahl. Die Ökonomin Pogarska erwartet nicht, dass sie sich stark vergrössern wird. «Das neue deutsche Gesetz bringt zwar einige Lockerungen», meint sie. So können deutsche Unternehmen künftig Ukrainer auch ausserhalb von Mangelberufen anstellen, und sie müssen nicht mehr nachweisen, dass es keinen Deutschen oder EU-Ausländer für die entsprechende Stelle gibt («Vorrangprüfung»). «Aber die wichtigsten Beschränkungen bleiben aus unserer Sicht bestehen. Deshalb wird für die Ukrainer die Auswanderung nach Deutschland wohl kompliziert und bürokratisch bleiben», erklärt Pogarska. Fachkräfte müssen weiterhin nachweisen, dass sie eine gleichwertige Qualifikation wie in Deutschland mitbringen. Und es werden gute Deutschkenntnisse verlangt.

Abschreckende Hürden

Erfahrungsgemäss sind diese Hürden für potenzielle Zuwanderer nur schwer zu überwinden. Besonders die Prüfung der gleichwertigen Qualifikation gilt als Kernstück der deutschen Praxis. Wer eine Arbeitserlaubnis erhalten will, muss viel Zeit und Aufwand für die Anträge an die Anerkennungsstellen in Deutschland einkalkulieren. Viele probieren es erst gar nicht, weil ihre Abschlüsse wegen des speziellen deutschen Berufsbildungssystems ohnehin nicht vergleichbar sind. Deshalb wurden jüngst aus dem Ausland jährlich nur rund 3500 Anträge auf Anerkennung gestellt.

Laut dem renommierten deutschen Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) dürfte sich daran nicht viel ändern. «Im Grundsatz bleibt die wichtigste Hürde für die Einwanderung qualifizierter Fachkräfte unverändert bestehen», schreibt es in seiner Stellungnahme zum neuen deutschen Gesetz. Mithin bedeutet das auch: Jene ukrainischen Ärzte, Pflegekräfte und Ingenieure, die die komplizierte Anerkennung ihrer Qualifikation auf sich nehmen wollten, dürften bereits in Deutschland sein.

Nicht immer attraktiv

Aus ähnlichen Gründen müssen wohl auch die Polen nicht fürchten, dass ihnen bald ukrainische Arbeitskräfte in grossem Stil abhandenkommen. Hier kommen nämlich noch weitere Faktoren hinzu. Ukrainische Migranten finden sich in Polen besser zurecht: Die Sprache ist für sie einfach zu erlernen, man ist sich kulturell ähnlich und versteht sich grundsätzlich gut. Zudem wollen die meisten Ukrainer nicht «für immer» auswandern, sondern möchten temporär im Ausland arbeiten und regelmässig nach Hause zurückkehren. Beides wäre im «fremden» und weiter weg liegenden Deutschland schwieriger.

Ferner liegen die Löhne in Deutschland zwar um Faktoren höher als in Polen und in der Ukraine. Aber die Einkommensmöglichkeiten sind nicht mehr ganz so anziehend wie früher, weil es jüngst in Polen und in der Ukraine deutliche Lohnsteigerungen gegeben hat. Wenn man die Kosten einer Tätigkeit in der Fremde berücksichtigt – teurerer Lebensunterhalt, Reisen, Trennung von der Familien –, geht das Kalkül für manche nicht mehr auf. Das gilt etwa für die Polen selbst: Jüngst sind erstmals seit langem mehr Polen aus Deutschland in die Heimat zurückgekehrt als in die Bundesrepublik eingewandert. Auch für die Ukraine erwarten Experten, dass sich die Zahl der Arbeitsmigranten jetzt nicht mehr dramatisch erhöhen wird.

Suche nach dem Unmöglichen

Was bedeutet dies für Deutschland? Erstens dürften die hohen Erwartungen der Politik an das neue Einwanderungsgesetz überzogen sein. Zwar werden wohl durchaus mehr Ukrainer nach Deutschland kommen. Aber der grosse Ansturm von Fachkräften dürfte ausbleiben. Das liegt, zweitens, daran, dass Deutschland seinen Arbeitsmarkt nur sehr beschränkt öffnet. Die wichtigste Hürde für Zuwanderer aus Drittstaaten, eine gleichwertige Qualifikation nachzuweisen, bleibt grundsätzlich bestehen.

Mithin will die deutsche Politik das Unmögliche: den ausländischen Maler, der gut Deutsch spricht und gleich noch den Gesellenbrief mitbringt. Für ukrainische Arbeitsmigranten ist das kaum erfüllbar. Sie werden wohl weiterhin lieber in die leichter zugänglichen EU-Länder wie Polen zum Arbeiten gehen.

Weitere Themen