In Ägypten gingen die Machthaber brutal gegen die Anhänger der Muslimbruderschaft vor – ein Bild aus Kairos Stadtteil Nasr City, 14. August 2013. (Bild: Manu Brabo / AP)

In Ägypten gingen die Machthaber brutal gegen die Anhänger der Muslimbruderschaft vor – ein Bild aus Kairos Stadtteil Nasr City, 14. August 2013. (Bild: Manu Brabo / AP)

Kommentar

Der Tod des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mursi ist ein Sinnbild für das Scheitern des politischen Islam. Die arabische Welt braucht dringend ein neues Ordnungsmodell

Das Erwachen einer Zivilgesellschaft jenseits von Islamismus und Autoritarismus ist der grösste Albtraum arabischer Autokraten. Denn in Wahrheit sind auch die Eliten des Militärs und der Königshäuser heillos überfordert. Ein neues Modell muss her.

Daniel Steinvorth
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43 Wörter. Mehr war den ägyptischen Medien die Nachricht vom Tod des ersten demokratisch gewählten Präsidenten ihres Landes nicht wert. Dass Mohammed Mursi am 17. Juni in einem Gerichtssaal ohnmächtig zusammenbrach und kurz darauf starb, vermeldeten sie als Randnotiz. Ein peinlicher Versprecher im ägyptischen Fernsehen zeigte, dass die Anweisung dafür offenbar von oben kam: Nicht nur las eine Sprecherin vom Teleprompter den exakt selben Text ab, der in allen Zeitungen stand. Sie endete ihren Bericht auch mit den Worten: «Von einem Samsung-Gerät gesendet.»

Für das Regime von Abdelfatah al-Sisi, so die Botschaft, verdient der Muslimbruder Mursi auch nach seinem Tod keinen Respekt. Erst recht lässt man in Kairo keine Diskussion über die miserablen Bedingungen in ägyptischen Haftanstalten zu, die die Gesundheit des 67-jährigen Zuckerkranken erheblich verschlechtert haben dürften. Nur wenige Stunden nach seinem Ableben wurde der Ex-Präsident ohne grosses Aufsehen auf einem Friedhof in Kairo beerdigt. Und während man auf diese Nachricht im Rest der Welt mehrheitlich mit einem Schulterzucken reagierte – einzig der türkische Präsident Erdogan empörte sich über den angeblichen «Mord» an seinem Freund Mursi –, ging das Regime schnell zur Tagesordnung über.

Fruchtbarer Boden für islamistische Heilsversprechen

Den gegenwärtigen Herrscher am Nil dürfte freuen, dass mit dem unrühmlichen Ende Mursis ein weiterer Schlussstrich unter den gescheiterten Arabischen Frühling gezogen werden kann. Eine neue Unruhewelle erboster Muslimbrüder muss Präsident Sisi nicht fürchten. Der Generalissimo hat, mehr noch als jeder seiner Vorgänger, der grössten und ältesten Bewegung des politischen Islam den Garaus gemacht. Die zur Terrororganisation erklärte Bruderschaft ist sechs Jahre nach dem Sturz Mursis keine Massenbewegung mehr. Traumatisiert durch das Massaker vom August 2013, bei dem Sicherheitskräfte auf dem Kairoer Rabaa-al-Adawiya-Platz weit über 800 Anhänger der Muslimbrüder töteten, und aufgerieben durch die Verhaftungen von Zehntausenden ihrer Mitglieder, sind die «ikhwan al-muslimin» in ihrem Mutterland heute politisch bedeutungslos.

Das freilich muss nicht so bleiben. In ihrer über 90 Jahre alten Geschichte hat die Bewegung gelernt, im Untergrund zu überleben, sich zu reorganisieren und sich immer wieder neu mit den Eliten des ägyptischen Staates zu arrangieren. Viele ihrer Ableger in anderen Ländern der Region und ihrer Vereine in der europäischen Diaspora sind einflussreich. Und weil derzeit wenig dafür spricht, dass sich die Herrscher in der arabischen Welt auf eine bessere Regierungsführung besinnen, bleibt der Boden für islamistische Heilsversprechen aller Art fruchtbar. Brechen neue Aufstände aus, dürfte es den Muslimbrüdern auch gegenüber dem Westen ein Leichtes sein, sich wieder als «moderate» islamische Alternative in Stellung zu bringen.

Fragt sich nur, ob sie dies auch sind. In Ägypten hatte die Bruderschaft nach dem Wahlsieg von 2012 ihre Chance, auch die Säkularen, die Liberalen und verschiedene Minderheiten im Land für sich zu gewinnen, allzu leichtfertig verspielt. Radikale Reden und Dekrete, die allein darauf zielten, die Macht des Präsidenten zu zementieren, nährten damals bei vielen Ägyptern tatsächlich die Angst vor einer religiösen Diktatur. Besonders bitter war dies für jene, die Mursi in der Stichwahl um die Präsidentschaft nur deswegen ihre Stimme gegeben hatten, um damit einen Kandidaten des Ancien Régime zu verhindern. Die Muslimbrüder, die bei dem Aufstand gegen Mubarak 2011 anfänglich gar keine Rolle gespielt hatten, am Ende aber die Früchte der Revolution hatten einsammeln können, enttäuschten auf ganzer Linie – und so gaben sie dem Militär eine Legitimation loszuschlagen. Die Kräfte des alten Regimes hatten Mursi freilich von Beginn an zu sabotieren versucht. Und sie warteten nur auf einen günstigen Zeitpunkt, um das demokratische Experiment am Nil abzuwürgen.

Auch in Tunesien regierte der Ableger der Bruderschaft, die Nahda-Partei, zunächst kompromisslos. Abgeschreckt von den Ereignissen in Ägypten gab die Nahda jedoch freiwillig ihre Macht ab, später koalierte sie sogar mit ihren säkularen Gegnern. Dieses Bekenntnis zur pluralistischen Demokratie nehmen allerdings nicht alle Tunesier der Partei ab, so wie überall in der arabischen Welt Menschen sich skeptisch fragen, ob Islamisten demokratische Spielregeln tatsächlich verinnerlichen können oder ob sie sich nur aus taktischen Gründen auf sie einlassen. Die ägyptischen Muslimbrüder haben sich von ihrem Ziel, einen islamischen Staat zu errichten, jedenfalls nie verabschiedet. Weil sie dieses Ziel aber, zumindest offiziell, mit friedlichen Mitteln verfolgen, haftet ihnen im Westen häufig das Prädikat an, moderat zu sein. Das wiederum trifft auf den palästinensischen Ableger, die Hamas, wohl kaum zu. Und es verträgt sich auch nicht mit der Tatsache, dass sich viele Muslimbrüder bis heute nicht von ihrem radikalen Vordenker Sayyid Qutb distanzieren. Dieser hatte einst zum bewaffneten Kampf gegen «heidnische» Regierungen aufgerufen und inspirierte Generationen von Selbstmordattentätern.

Gestörter Gesellschaftsvertrag

Den Heilsversprechen der Islamisten setzen die Eliten des Militärs und der arabischen Königshäuser Stabilitätsversprechen entgegen, die angesichts der permanenten Krisen in der Region immer hohler klingen und in Wahrheit nicht viel mehr sind als die Androhung maximaler Gewalt. Denn beruhte der Gesellschaftsvertrag zwischen den Herrschenden und den Beherrschten bis zu den Aufständen von 2011 immerhin noch darauf, dass Letztere eine Aussicht auf Sicherheit und Wohlfahrt hatten, wenn sie dafür ihre politischen Rechte aufgaben, so ist heute in Teilen der arabischen Welt nicht einmal mehr das gewährleistet. Während die reichen Golfstaaten ihre gehorsamen Bürger weiter mit Konsum und Unterhaltung bei Laune halten können, setzt das Sisi-Regime allein auf Repression und den Faktor Angst. Im Kampf gegen den Terrorismus muss der Untertan ein Opfer bringen und sich dem Staat unterwerfen. Ich oder das Chaos, so lautet die Parole, die auch der syrische Diktator Bashar al-Asad immer wieder bemüht.

Das Erwachen einer Zivilgesellschaft jenseits von Islamismus und Autoritarismus ist der grösste Albtraum arabischer Autokraten, und so ist es kein Wunder, dass in den ägyptischen Gefängnissen nicht nur Muslimbrüder, sondern unzählige Journalistinnen, Menschenrechtler und Aktivistinnen schmoren oder dass der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman Frauenrechtlerinnen, liberale Theologen und Freidenker einsperrt. Die laut dem Freedom-House-Index am wenigsten freie Region der Welt verschenkt ihr Humanpotenzial dramatisch. Doch was will man erwarten von Staaten, die oft nicht einmal die Grundversorgung ihrer Bevölkerung sicherstellen können, die von Korruption und Nepotismus, wirtschaftlicher Tristesse und religiösem Konservatismus gelähmt sind, die Schauplätze kriegerischer Gewalt oder sogar schon zerfallen sind?

Gross ist die Sehnsucht nach Sicherheit und Stabilität. Doch dass sich der Geist der Revolution nicht wieder zurück in die Flasche zwängen lässt, weil die arabische Welt unverändert im Krisenmodus verharrt, haben eindrücklich die jüngsten Massenproteste in Algerien und im Sudan gezeigt. Auch hier spielen die alten Regime auf Zeit, auch hier könnten die Aufstände bitter enden. Auch hier wollen Menschen allerdings als Citoyens und nicht als Leibeigene wahrgenommen werden. Für sie haben die alten Ordnungsmodelle schlicht ausgedient.

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