Kommentar

Der Aufstand der Elektrosensiblen

Bis Ende Jahr sollen 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung im Sendegebiet einer 5G-Antenne leben. Doch gegen diese Pläne der Swisscom regt sich Widerstand. Technikfeindlichkeit ist wieder salonfähig geworden.

Stefan Betschon 0 Kommentare
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Sprengstoff-Anschlag gegen eine Handy-Antenne in Denens. (Bild: S. Hildebrandt / Keystone)

Sprengstoff-Anschlag gegen eine Handy-Antenne in Denens. (Bild: S. Hildebrandt / Keystone)

Die ersten Zeitungsberichte zu 5G erschienen vor vier, fünf Jahren. Meist rückten sie die Geschwindigkeit der Datenübertragung in den Mittelpunkt, schwärmten – eine seltsame Verknüpfung von Autotechnik und Informatik – von dem neuen «Datenturbo». Die Geschwindigkeit steht bis heute im Mittelpunkt, wenn die Vorteile von 5G erklärt werden sollen. 5G stehe für eine «vernetzte und flüssige Mobilität», behauptete im Frühling eine Werbekampagne der Swisscom. Die Behauptung wurde mit der Nachtaufnahme einer stark befahrenen Autobahn visualisiert, auf der Linksverkehr herrscht. Darüber steht «Zügiggggg».

Tausende von Studien

Das ist kein Artikel über 5G. Es wird hier nicht versucht, die technischen Besonderheiten und die ökonomischen Chancen dieses Mobilfunkstandards herauszustellen. Auch die gesundheitlichen Risiken werden nicht behandelt. Warum auch: Es gibt Tausende von seriösen wissenschaftlichen Studien über die Auswirkungen der Mobilfunkstrahlung auf den Menschen, und die klare Mehrheit der wissenschaftlich gebildeten Zeitgenossen glaubt diesen Studien entnehmen zu können, dass der Mobilfunk auch in seiner neuesten Spielart innerhalb der geltenden Grenzwerte für den Menschen keine Gefahr darstellt. Und die Minderheit, die eine andere Meinung vertritt, wird sich durch eine erneute Zusammenfassung der vorliegenden Erkenntnisse und auch durch weitere Studien nicht umstimmen lassen.

Es wurden in den vergangenen Wochen und Monaten in Schweizer Zeitungen sehr viele Artikel über 5G publiziert. Im vergangenen Quartal waren es mehr als 1000 Artikel, die den Begriff im Titel führten. Im Vergleichsquartal des Vorjahres waren es zehnmal weniger. Doch es geht jetzt nicht mehr um den «Datenturbo», es geht um Moratorien, Verzögerungen, Widerstand.

Es geht nicht mehr um Technik, es geht um Politik. Es ist eine Bewegung entstanden, ein Zusammenschluss von Menschen, denen es beim Mobilfunk etwas zu zügig vorangeht. An Quartiertreffen oder an Gemeindeversammlungen stehen sie auf, an Sitzungen des Kirchenrats oder in der Schulpflege erheben sie ihre Stimme, sie sammeln Unterschriften, formulieren Einsprachen, Motionen, Petitionen. Die Bewegung zeigte sich zuerst in der Westschweiz, inzwischen dürfte es kein Baugesuch für eine 5G-Antenne mehr geben, das nicht Gegner mobilisiert.

Erinnerung an die Anti-AKW-Bewegung

Eine Keimzelle der neuen Bewegung waren die Elektrosensiblen. Sie beklagen sich über Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche oder Schwindel und bringen das mit elektrischen, magnetischen oder elektromagnetischen Feldern in Verbindung. Auch wenn es wissenschaftlich bisher nicht gelungen ist, einen Zusammenhang zwischen den sehr unspezifischen Symptomen und den vermuteten Ursachen nachzuweisen, auch wenn die Symptome sich bisher nicht durch physikalische, sondern nur durch psychologische Theorien erklären lassen, haben diese Menschen es verdient, ernst genommen zu werden. Denn ganz offensichtlich ist elektromagnetische Hypersensitivität eine ansteckende Krankheit. Die Zahl der Betroffenen hat sich jüngst stark vermehrt, wir sind alle elektrosensibel geworden.

Bisheriger Höhepunkt der Anti-5G-Bewegung war eine nationale Kundgebung im Mai, als sich Hunderte von Menschen auf dem Berner Waisenhausplatz versammelten, um gegen 5G zu protestieren. Sieht man sich TV-Berichte dieser Veranstaltung an, fühlt man sich an die Anti-AKW-Demonstrationen der 1970er Jahre erinnert: ein bunter Haufen gutgelaunter Menschen aller Altersgruppen, Volksfeststimmung, Musik. Haussänger der Anti-AKW-Aktivisten war Aernschd Born, der zu Gitarrenbegleitung gegen den Atomstrom ansang, die Antennengegner haben Andreas Fröhlich und sein «5G-Lied». Zu den weniger schönen Seiten der Anti-AKW-Bewegung gehörten Sprengstoffanschläge auf Strommasten. Auch das hat jetzt eine Fortsetzung gefunden: Im Juni wurde im waadtländischen Denens eine Handy-Antenne in die Luft gesprengt.

Die Anti-AKW-Bewegung war ein Sammelbecken für sehr unterschiedliche politische Strömungen. In einigen europäischen Ländern entstanden daraus politische Parteien, die inzwischen in vielen Parlamenten und Regierungen weit über die Energiepolitik hinaus mitreden wollen und können. Es ist nicht klar, ob die Anti-5G-Bewegung politisch etwas bewirken wird, ob diese unheilige Allianz von Metaphysikern und Pataphysikern, von Allergikern und Esoterikern lange Bestand haben wird. Es ist aber schon einmal bemerkenswert, dass hier überhaupt so etwas wie eine Bewegung entstehen konnte. Während Jahrzehnten herrschte eine Technikeuphorie, die manchmal fast schon irrationale Züge annahm. Man glaubte, dass sich Freiheit und Demokratie, Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Wohlstand im Gleichschritt mit der Zahl der Internetanschlüsse verbreiten könnten. Flächendeckendes Gratis-WLAN schien deshalb eine vernünftige Forderung zu sein.

Was meint das D-Wort?

Jetzt hat sich das Blatt gewendet. Technikfeindlichkeit ist – zumindest wo sie sich gegen Antennen wendet – salonfähig geworden. Warum gerade Antennen? Warum nicht auch Verbrennungsmotoren, Industrieroboter, Elektronenmikroskope? Die 5G-Antennen sind so etwas wie die Speerspitze der Digitalisierung. 5G sei der «Schlüsselfaktor für die Digitalisierung der europäischen Wirtschaft», heisst es in einem 5G-Manifest, das wichtige europäische Telekomfirmen 2016 publizierten, um sich selber Mut zu machen und sich der Unterstützung durch die Politik zu versichern. Alles, was an technischen Zukunftsvisionen zurzeit herumgeistert – autonom fahrende Autos, Smart Citys, Internet of Things –, ist auf 5G angewiesen. Dabei ist die Argumentation oft zirkulär: 5G ist zukunftsträchtig, weil es Zukunftstechniken ermöglicht, und Zukunftstechniken sind Zukunftstechniken, weil sie 5G erfordern.

Was heisst «Digitalisierung»? Niemand weiss es. Doch alle reden davon. Als der Wirtschaftsverband Swico an der Generalversammlung im Mai zu diesem Thema ein Eröffnungsreferat ansetzte, lautete der Titel: «Nicht schon wieder das D-Wort». Auch bei den Digitalisierungs-Profis sind in Sachen Digitalisierung Ermüdungserscheinungen festzustellen. Worauf verweist dieses Wort? Digitaltechnik und Informatisierung können nicht gemeint sein, denn die Kommerzialisierung der Computertechnik begann in den 1950er Jahren, und es dürfte sich herumgesprochen haben, dass nicht jede Informatikinvestition gewinnbringend ist. Die Ökonomen, die in den 1980er und 1990er Jahren vergeblich versuchten, die durch die Informatik verursachten Produktivitätsgewinne zu erfassen, sprachen von einem «Produktivitätsparadox». Wenn also Digitalisierung nicht gemeint ist, was heisst «Digitalisierung»? Was ist das Ziel der Digitalisierung? Digitalisierung?

Das D-Wort ist eine zeitgemässe Art zu sagen: Wandel, Veränderung, Re-Strukturierung. Das D-Wort hat noch eine weitere Bedeutungsebene, auf der sich Elemente der Technikeuphorie vergangener Zeiten erhalten haben. Es klingt beim D-Wort die Vorstellung mit, dass Technik eine Urkraft sei, der sich der Mensch nicht in den Weg stellen dürfe. Mehr noch als die Strahlen der 5G-Antennen sind es womöglich die unheimlichen Konnotationen des D-Wortes, die vielen Menschen Schlafstörungen bereiten, die Schwindel verursachen und Konzentrationsstörungen.

Zukunft gestalten

Nicht nur die elektromagnetischen Strahlen sind schwer zu fassen, die Computertechnik insgesamt entzieht sich dem Zugriff. Es ist eine Blackbox, auf der geschrieben steht: «Designed in California, made in China». Es sind, so könnte man glauben, junge Milliardäre aus Kalifornien und altgediente Parteisoldaten aus Peking – fremde Mächte –, die das Innenleben der Geräte gestalten, die zunehmend unser Leben bestimmen.

Der Kampf gegen Antennen ist eine Verzweiflungstat. Doch Zukunftsverweigerung ist keine Option. Die Zukunft will gestaltet werden. Es gilt, das D-Wort mit Inhalt zu füllen. Das ist nicht etwas, was man der Swisscom-Werbeabteilung überlassen könnte, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es braucht Technikjournalisten, die mehr im Kopf haben als nur «Datenturbos», es braucht technisch gebildete Bürger, Hochschulprofessoren, die den Kontakt mit Laien nicht scheuen, und Hightech-Firmen, für die Öffentlichkeitsarbeit mehr ist als nur Verkaufsförderung. Es gibt in all diesen Bereichen Defizite zu beklagen. Das öffentliche Gespräch über Technik stockt. Doch vielleicht kann ja die Anti-5G-Bewegung hier etwas bewirken und der Einsicht zum Durchbruch verhelfen, dass es zwischen Technikverweigerung und einer blinden Technikeuphorie Möglichkeiten gibt, die Zukunft zu gestalten.

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