Nach Jahren des Rückgangs nimmt die Zahl der Hungernden weltweit wieder zu – vor allem im subsaharischen Afrika. Fast ein Fünftel der Bevölkerung ist dort betroffen.
Am Montag ist der neueste Bericht über den Stand der weltweiten Ernährungssituation erschienen. Der Report wurde herausgegeben von internationalen Organisationen wie Unicef, WHO, FAO, WFP. Er zeigt, dass in der Bekämpfung des Hungers keine grossen Fortschritte gemacht werden. Nachdem der Hunger bis vor wenigen Jahren zurückgegangen war, kam es 2015 zur Stagnation. Seither sind es konstant etwa 11 Prozent der Menschheit, die hungern.
Wenn man das Bevölkerungswachstum berücksichtigt, heisst das, dass es in absoluten Zahlen immer mehr Hungernde gibt – gegenwärtig sind es 820 Millionen. Betroffen ist vor allem das subsaharische Afrika. Dort ist im Durchschnitt ein Fünftel der Bevölkerung unterernährt, Tendenz steigend. Auch in Lateinamerika und in der Karibik nimmt der Hunger zu, auch wenn der Anteil der Betroffenen immer noch unter 7 Prozent liegt. In Asien ist es vor allem die westliche Region, wo der Hunger seit 2010 kontinuierlich zunimmt, mit einem gegenwärtigen Anteil von mehr als 12 Prozent. Geht es so weiter, rückt die Ernährungssicherheit, eines der wichtigen Uno-Ziele für nachhaltige Entwicklung, die bis 2030 erreicht werden sollen, in weite Ferne.
Der Report berücksichtigt auch «moderate Ernährungsunsicherheit». Damit sind Menschen gemeint, die nicht wissen, ob sie morgen etwas zu essen haben werden, oder die über längere Zeit zu wenig oder schlechtes Essen zu sich nehmen müssen, mit allen gesundheitlichen Folgen, gerade auch für die Kinder. Wenn man diese Leute mit einberechnet, kommt man auf etwa 2 Milliarden, die keinen Zugang zu genügendem, sicherem und einigermassen gesundem Essen haben. Ein Siebtel der Kinder kommt weltweit mit Untergewicht auf die Welt; auch hier sind seit Jahren keine Fortschritte zu verzeichnen.
Auch der Bevölkerungsanteil mit Übergewicht nimmt weltweit zu, insbesondere unter Kindern und Jugendlichen. Etwa 2 Milliarden Erwachsene sind übergewichtig. Das ist kein Gegensatz zur verbreiteten Mangelernährung. Oft sind es Angehörige der armen Schichten, die zu Übergewicht neigen. In den wohlhabenden, aber auch in den armen Ländern hat dieser Trend mit dem Zugang zu billigem Fast Food in den Städten und generell zu fettigen und süssen Nahrungsmitteln zu tun.
In Afrika sind die von Hunger betroffenen Länder oft Staaten, die unter politischen Krisen und Bürgerkriegen leiden, wie Zentralafrika, Burundi, Kamerun, der Sudan und der Südsudan. Die ökonomische Talfahrt, die Erhöhung der (Nahrungsmittel-)Preise und der Niedergang der Löhne sind oft auf schlechte Regierungsführung zurückzuführen. Auffällig häufig sind Länder vom Hunger betroffen, die von der Ausfuhr eines oder weniger Rohstoffe abhängig sind. Viele dieser Länder leiden auch unter den Folgen des Klimawandels: Das gilt für die Sahara- und Sahelländer sowie das Horn von Afrika mit ihren Dürren, der Desertifikation und den damit verbundenen Konflikten um Wasser und Weidegründe zwischen Viehzüchternomaden und Bauern. Länder wie Moçambique oder Simbabwe wurden jüngst von Zyklonen heimgesucht. In kaum einem anderen Land kommen all diese verschiedenen Faktoren so unerbittlich zusammen wie im Südsudan, wo der Hunger von der Regierung kaum bekämpft und sogar für politische Ziele instrumentalisiert wird. Hilfswerke sabotiert das Regime, oder es attackiert sie sogar.
Man könnte sagen, dass der Anteil der Hungernden eine Art Lackmustest für einen Staat darstellt, da die Sicherstellung der Nahrung gewissermassen der elementarste Indikator für die Lage eines Landes ist. Zoomt man näher an die betroffenen Länder heran, werden interessante Unterschiede deutlich, die gelegentlich auch – negativ oder positiv – überraschen. So konnte Äthiopien den Anteil der Hungernden in den letzten zwölf Jahren so gut wie halbieren. In vielen Köpfen ist Äthiopien immer noch das Land der grossen Hungersnot und von «Live Aid» in den achtziger Jahren. Dabei geht vergessen, dass die Regierung in Addis Abeba seither enorme Anstrengungen unternommen hat, damit sich ein solches Desaster nicht mehr wiederholt. Auch eher ärmeren Ländern wie Senegal ist es gelungen, den Anteil der Hungernden seit 2006 von 21 auf 11 Prozent zu reduzieren. Im riesigen Nigeria mit seinen enormen Gewinnen aus der Ölförderung hat sich der Anteil im selben Zeitraum jedoch verdoppelt. Es ist nicht die Höhe des Bruttosozialprodukts, die darüber entscheidet, wie viele Bürger in einem Land Hunger leiden.
Auch Ghana, das oft als demokratisches Vorzeigeland des Kontinents gehandelt wird, konnte die Zahl der Hungernden von 9 auf 5 Prozent reduzieren. In Uganda unter dem Langzeitautokraten Museveni stieg die Zahl der Unterernährten hingegen von 24 auf unglaubliche 41 Prozent. Problematisch sieht es auch im oft idealisierten Kenya aus, wo der Anteil der Hungernden bei fast 30 Prozent liegt. Sambia, das kaum je im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit steht, aber mit seiner Kupferabhängigkeit zu den typischen Risikoländern gehört, konnte den Anteil zwar etwas reduzieren, steht aber nimmer noch bei skandalösen 46 Prozent.
Ein trauriges Beispiel ist auch Madagaskar, mit dem es seit Jahren wirtschaftlich bergab geht, obwohl der grosse Inselstaat von keinem Bürgerkrieg heimgesucht wird. Die Misere spiegelt sich in der Zahl der Unterernährten, die seit 2006 von 35 auf 44 Prozent wuchs. Eine Überraschung bietet auch das vielgelobte Rwanda, in dem 2006 noch 44 Prozent hungerten. Der Anteil hat sich zwar auf 36 Prozent reduziert, ist aber immer noch sehr hoch für ein Land mit eindrücklichen ökonomischen Wachstumszahlen. Aber Afrika ist eben zugleich der Kontinent mit dem höchsten Bevölkerungswachstum, das viele wirtschaftliche Fortschritte wieder auffrisst. Das bedeutet auch, dass die prozentualen Angaben die Realität eher beschönigen. Wenn in einem Land die Bevölkerung rapide zunimmt und der Anteil der Hungernden gleich bleibt, bedeutet das, dass es in Wirklichkeit mehr Hungernde gibt.