Manchmal macht in den USA die Provinz mobil: Die Kleinstadt Buffalo zieht neuerdings Medizin-Startups an, und Stararchitekt Rem Koolhaas plant hier einen aufsehenerregenden Neubau. Ein Besuch vor Ort.
Der Niedergang der amerikanischen Schwerindustrie hat viele Facetten. Eine der weniger bekannten, aber erschütterndsten ist die Implosion Buffalos. Einst eines der wohlhabendsten Wirtschaftszentren der Vereinigten Staaten, hat die Stadt unweit der Niagarafälle jahrzehntelang unter dem Abbau von Arbeitsplätzen, Bevölkerungsschwund und steigender Kriminalität gelitten. Doch jetzt spielt sich ein überraschendes Revival ab. Die Aufbruchsstimmung manifestiert sich in einem ambitionierten Museumsprojekt, mit dem sich die ikonische Rust-Belt-City als internationale Kunstdestination etablieren will.
«Wir setzen ein Zeichen für Buffalos Renaissance im 21. Jahrhundert. Das Projekt wird nicht nur das Kulturleben der Stadt bereichern, sondern auch ihre ökonomische Entwicklung beschleunigen», sagt Janne Sirén, Direktor der Albright-Knox Art Gallery. Unter Insidern gilt die Sammlung wegen der herausragenden Werke moderner und zeitgenössischer Kunst als Geheimtipp. Ein 160 Millionen Dollar teurer Umbau soll sie nun zum Anziehungspunkt für ein breites Publikum machen. «Das neue Erscheinungsbild, kombiniert mit der Weltklasse unserer Kollektion, wird Besucher von überallher in Staunen versetzen», meint Sirén, während er die Baupläne in seinem Sitzungszimmer erläutert.
Etwas in die Tage gekommen, blickt die Kunststätte wie Buffalo auf eine schillernde Vergangenheit zurück. Der Aufstieg der Stadt am Eriesee beginnt 1825 mit der Eröffnung des Erie-Kanals. Die neue Route erleichtert den Getreidetransport vom Mittleren Westen an die US-Ostküste, was die Region zu einer der geschäftigsten Handelsdrehscheiben Amerikas macht und die Basis zum industriellen Fertigungsstandort legt. Die Bevölkerung nimmt explosionsartig zu, Stararchitekten wie Frank Lloyd Wright, Louis Sullivan und H. H. Richardson formen Buffalo zum Kunstwerk. Vom immensen Wohlstand zeugt bis heute die «Millionaires’ Row» an der Delaware Avenue, wo sich eine Prachtvilla im Beaux-Arts-Stil an die nächste reiht.
Umso härter ist das Schicksal, als der Abschwung einsetzt. Wie in Detroit, Cleveland, Pittsburgh und anderen Industriestandorten im Gebiet der Grossen Seen gehen ab den sechziger Jahren mehr und mehr Jobs verloren. Fabriken schliessen, die Produktion wandert in Billiglohnländer ab. Die Verbrechensrate steigt weit über den Landesdurchschnitt. In der Stadt, die zu Glanzzeiten wegen ihrer frühen Adaption der Elektrizität als «The City of Light» bewundert worden ist, wird es düster. Die Einwohnerzahl schrumpft auf 260 000 Personen – so viele wie 1890. Über Generationen von wirtschaftlichem Wachstum ausgeschlossen, fehlt selbst das Geld, die altersschwachen Gebäude abzureissen.
Heute erweist sich das als Chance. Niedrige Lebenskosten ziehen junge Leute an, Kreativität und Unternehmergeist leben neu auf. Speziell in der Medizintechnologie und im Startup-Bereich entstehen wieder Jobs. Architektonische Schmuckstücke gewinnen ihren Charm zurück: Die von H. H. Richardson konzipierte psychiatrische Anstalt etwa, die mit ihren zwei Türmen an ein Schloss aus dem alten England erinnert, ist zum mondänen Hotel renoviert. Im Anbau des eleganten Darwin D. Martin House von Frank Lloyd Wright finden Yogakurse statt. Trendige Restaurants offerieren kulinarische Vielfalt, Industrieruinen wie der Larkin-Distrikt entwickeln sich zu gefragten Wohnquartieren. Sogar die monolithischen Getreidesilos am Buffalo River dienen Kunstschaffenden als Arbeits- und Ausstellungsraum.
Das Erweiterungsprojekt der Albright-Knox Art Gallery soll die Stadt auch international rehabilitieren. Den entscheidenden Impuls gegeben hat der US-Finanzinvestor Jeffrey Gundlach mit einer Spende von über 50 Millionen Dollar. «Wenn ich dieses Geld einem grossen Museum in New York oder einer Eliteuniversität wie Dartmouth gebe, ist das wie ein Tropfen im Meer. Hier in Buffalo hingegen kann ich etwas bewegen, um die Lebensqualität zu verbessern und die Attraktivität des Standorts zu fördern», meint der Milliardär bei einem Gespräch an seinem Firmensitz in Los Angeles. In Buffalo aufgewachsen, sei er von der Mutter oft ins Museum «gezerrt» worden. Heute ist er selber ein profilierter Sammler. «Wir werden der Welt zu verstehen geben, dass es in Buffalo überhaupt ein Kunstmuseum gibt», sagt er.
Das neoklassische Gebäude im Stil einer Palastanlage thront seit 1905 am Rand einer weitflächigen Grünanlage des legendären Landschaftsarchitekten Frederick Olmsted, der zuvor den Central Park in New York konzipiert hatte. Anders als bei vergleichbaren Projekten wie beispielsweise dem Guggenheim-Museum in Bilbao wurde die Erweiterung der Albright-Knox Art Gallery nicht für ein fertiges Design ausgeschrieben. Ziel war es, im Dialog mit der öffentlichen Verwaltung, der Anwohnerschaft und anderen Interessengruppen einen Ort der Begegnung im Einklang mit der Umgebung zu schaffen. Die Wahl fiel dabei auf das Architekturbüro OMA von Rem Koolhaas.
Um die Ausstellungsfläche zu verdoppeln, ist ein filigraner Neubau mit transparenten, gegen oben angeschrägten Fassaden geplant. Ein serpentinenartiger Korridor verbindet ihn mit dem historischen Hauptgebäude und dem ästhetischen Anbau aus dem Jahr 1962. Eine kühne Installation aus triangulären Glas- und Spiegelflächen wird künftig den Innenhof überdecken. Die Bauarbeiten starten im Spätherbst und sollen 2021 fertig sein. In dieser Zeit ist der Museumsbetrieb weitgehend geschlossen.
«Eine spektakuläre Architektur kann in Sachen Imagegewinn und Symbolwirkung viel auslösen, wie sich am Beispiel Guggenheim Bilbao gezeigt hat», meint dazu Sam Keller, Direktor der Fondation Beyeler. Er verfolgt das Projekt in Buffalo aufmerksam, zumal in Riehen ebenfalls an einer Erweiterung gearbeitet wird. «Für den nachhaltigen Erfolg eines Museums ist aber nicht nur die ‹Hardware› entscheidend. Viel wichtiger ist die ‹Software›, sprich das Programm», fügt er hinzu.
Als eine der ältesten Kunstinstitutionen Amerikas verfügt die Albright-Knox Art Gallery diesbezüglich über beste Voraussetzungen. Das Highlight ist die Kollektion auf dem Gebiet des amerikanischen abstrakten Expressionismus, die Monumentalwerke wie Jackson Pollocks «Convergence», Mark Rothkos «Orange and Yellow» und Willem de Koonings «Gotham News» umfasst. Sie entstammen der Hinterlassenschaft von Seymour Knox II., dem Spross eines Kaufhaus-Tycoons. Er pflegte in der Nachkriegszeit engen Kontakt zur Kulturszene New Yorks und erstand die meisten Werke, lange bevor der betreffende Künstler zum Superstar avancierte. Wie es heisst, war die Albright-Knox Art Gallery das erste Museum, das 1963 mit «100 Cans» ein Bild von Andy Warhol erwarb.
Bewundern lassen sich ebenso Meister der Moderne wie Gauguin, Van Gogh, Matisse, Chagall und Modigliani. Ein Grossteil dieser Gemälde gehörte zur Sammlung von Anson Goodyear, Sohn des Industriemagnaten Charles Goodyear und späterer Gründer des Museums of Modern Art in New York. Auch er zeichnete sich durch einen avantgardistischen Geschmack aus. So setzte er schon 1926 den Kauf des Gemäldes «La Toilette» von Picasso durch, das zuletzt als Leihgabe in einer Ausstellung zum Frühwerk des Malers in der Fondation Beyeler zu sehen war.
«In Buffalo kaufte man bereits Picasso, bevor die meisten Museen in Europa sein bahnbrechendes Talent erkannten», sagt Sam Keller. Die Albright-Knox Art Gallery demonstriere, dass es in Amerika nicht nur in den grössten Metropolen wie New York, Chicago oder Los Angeles bedeutende Sammlungen gebe, sondern auch in weniger bekannten Städten wie Buffalo. «Als ich die Kollektion zum ersten Mal sah, war ich vollkommen überwältigt», erinnert er sich.