Assamesen, deren Namen auf der ursprünglichen Liste fehlten, füllen Rekursformulare aus. (Bild: Anupam Nath / AP)

Assamesen, deren Namen auf der ursprünglichen Liste fehlten, füllen Rekursformulare aus. (Bild: Anupam Nath / AP)

Im Osten Indiens geht die Angst vor der finalen Liste um: Millionen droht die Staatenlosigkeit

Der indische Teilstaat erstellt ein neues Bürgerregister. Mehr als vier Millionen Menschen könnten ihre Staatsbürgerschaft verlieren. Hindu-nationalistische Scharfmacher sehen ein Modell für das ganze Land.

Marco Kauffmann Bossart
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Millionen von Menschen steht in Assam das Wasser zum Hals – buchstäblich und im übertragenen Sinne. Ersteres, weil der Monsun dem indischen Gliedstaat schwere Überschwemmungen bescherte. Letzteres, weil sie fürchten, zu Staatenlosen erklärt und in der Folge interniert oder deportiert zu werden. Hintergrund für die Sorgen vieler Assamesen ist ein höchst kontroverses Bevölkerungsregister. Die neueste Version der Liste soll am 31. Juli 2019 vorliegen. In Assam musste jeder und jede mit Dokumenten nachweisen, dass seine Familie vor 1971 im heutigen Staatsgebiet Indiens lebte und nicht später aus Bangladesh einwanderte. In jenem Jahr wurde nach dem sogenannten Befreiungskrieg aus Ostpakistan die Republik Bangladesh.

Als vor einem Jahr ein Entwurf des Registers veröffentlicht wurde, suchten mehr als 4 von 33 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern Assams vergeblich nach ihrem Namen. Ins Visier geriet selbst ein Armeeveteran: Mohd Sanaullah sah sich nach 30 Dienstjahren dem Vorwurf ausgesetzt, er habe sich nach Indien eingeschlichen. Erst als die nationalen Medien den Fall aufgriffen und sich Empörung darüber breitmachte, dass ein Kriegsheld in einem Internierungslager für Ausländer steckt, kam er auf Bewährung frei.

Neue Internierungslager sind geplant

Die Regierung hat inzwischen Fehler eingeräumt. So wurden bei der bürokratischen Grossoperation Namen verwechselt oder Dokumente falsch zugeordnet. Doch versichert sie, Personen mit legitimen Ansprüchen hätten nichts zu befürchten. Zweifel an der korrekten Durchführung des Verfahrens hegte hingegen Indiens höchstes Gericht. Es äusserte sich «tief besorgt» über das Prozedere und bestellte den zuständigen Chefbeamten ein. 93 Prozent jener, die es vor einem Jahr nicht auf die Liste schafften, legten laut Medienberichten Beschwerde ein. In den vergangenen Monaten erhielten die Behörden allerdings auch Zehntausende Briefe, worin neue Namen angeblicher Eindringlinge genannt werden. Absender sollen rechtsnationalistische Kreise sein.

Wie vielen Bewohnern Assams schliesslich die Staatsbürgerschaft entzogen wird, lässt sich nur schwer abschätzen. Allem Anschein nach rechnen die Behörden mit einer Zunahme von Verhaftungen. Es bestehen Pläne für zehn zusätzliche Internierungslager. Wegen Fluchtgefahr sind bereits rund 1000 Personen interniert worden. Aber auch bei denen, die nicht hinter Stacheldraht ausharren müssen, ist die Belastung wegen des ungeklärten Aufenthaltsstatus gross. Indische Medien dokumentierten zahlreiche Suizidfälle.

Die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) von Narendra Modi insistiert, sie packe lediglich ein Problem in Assam an, das jahrzehntelang ignoriert worden sei: eine unkontrollierte Immigration aus Bangladesh. Das erstmals 1951 erarbeitete Bürgerregister von Assam müsse dringend aktualisiert werden. Nicht nur hartgesottene Nationalisten halten die Immigration in Assam für ein Problem. Viele Assamesen fühlen sich in ihrer Identität bedroht, was auch historische Gründe hat: Unter der britischen Kolonialherrschaft war die Ansiedlung von muslimischen Bangalen gefördert worden. Neben der ethnisch-religiösen Komponente spielen heute ökonomische Faktoren wie die knapper werdenden Landwirtschaftsböden eine wichtige Rolle. In den 1980er Jahren entlud sich die soziale Sprengkraft der Einwanderungsfrage in Unruhen. Mobs attackierten muslimische Dörfer; 1800 Menschen wurden getötet. In Assam machen Muslime rund ein Drittel der Bevölkerung aus.

Migranten als «Termiten»

Welches Ausmass die illegale Einwanderung wirklich angenommen hat, scheint niemand so genau zu wissen. Die Schätzung assamesischer Nationalisten, es hielten sich fünf bis acht Millionen Illegale im Gliedstaat auf, erachten unabhängige Beobachter für stark überzogen, zumal die Grenze zu Bangladesh heute streng überwacht wird.

Statt eine nüchterne Diskussion einzufordern, giessen Regierungsmitglieder weiter Öl ins Feuer. Amit Shah, Chef der BJP und seit Mai auch Innenminister, verglich die angeblichen Migranten mit «Termiten». Man werde die Illegalen in die Bucht von Bengalen werfen, sagte Modis Vertrauter im April während des Wahlkampfs. Shah will in anderen Gliedstaaten ähnliche Register wie in Assam erstellen lassen. Er instrumentalisiert die religiös gefärbte Ausländerfrage, um die Hindu-nationalistische Basis zu mobilisieren. Dass der Anteil der Muslime in Assam in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat, bestreitet kaum jemand. Allerdings hängt dies vermutlich mit einer höheren Geburtenrate bei den Muslimen zusammen.

Was mit jenen geschieht, die den Nachweis, Inder zu sein, nicht erbringen können, ist ungewiss. Sie werden zunächst vor ein sogenanntes Ausländer-Tribunal gestellt. Die Zentralregierung möchte «die Bangalen» deportieren. Wohin, ist fraglich. Denn Bangladesh bestreitet, dass Millionen seiner Bürger illegal nach Assam emigriert seien. Ergo will Dhaka auch niemanden zurücknehmen. Damit würden die Aussortierten zu Staatenlosen – vergleichbar mit den Rohingya, der muslimischen Minderheit aus Burma.