Abbrucharbeiten am Kühlturm des AKW Mülheim-Kärlich, das nur gerade 13 Monate in Betrieb war. (Bild:Thomas Frey / DPA)

Abbrucharbeiten am Kühlturm des AKW Mülheim-Kärlich, das nur gerade 13 Monate in Betrieb war. (Bild:Thomas Frey / DPA)

Wahrzeichen des deutschen Verwaltungswahnsinns

In Deutschland boomt seit einigen Jahren der Rückbau von Atomkraftwerken. Das Ziel ist jeweils die Entlassung aus dem Atomgesetz. Ein Besuch beim AKW Mülheim-Kärlich, das nach dem Bau nur 13 Monate lief und nun verschrottet wird.

Michael Rasch, Mülheim-Kärlich
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Deutschland ein Schildbürgerland? Schon der völlig überhastete Beschluss zum kompletten Ausstieg aus der Kernenergie nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima in Japan 2011 sorgte bei vielen Beobachtern im Ausland und Inland für Stirnrunzeln. Ein Schildbürgerstreich par excellence traf jedoch bereits rund 25 Jahre zuvor das Atomkraftwerk (AKW) in Mülheim-Kärlich, das sich noch bis etwa 2025 im Rückbau befindet. In den dann immerhin 50 Jahren seit Baubeginn 1975 ist das Kernkraftwerk nur unglaubliche 13 Monate im Leistungsbetrieb gelaufen – vom 1. August 1987 bis zum 9. September 1988. Der Fall des rheinland-pfälzischen AKW ist auch eine Geschichte des deutschen Verwaltungswahnsinns.

Entlassung aus dem Atomgesetz

In unmittelbarer Nähe zum Deutschen Eck in Koblenz, wo die Mosel in den Rhein fliesst, war das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich für Jahrzehnte das Wahrzeichen der gleichnamigen Gemeinde, wenngleich viele Bürger dem bereits aus weiter Ferne sichtbaren Betonbau von Anfang an skeptisch gegenüberstanden. Technisch war die linksrheinische Anlage, die nur 100 Meter vom Ufer entfernt liegt und dem Energiekonzern RWE gehört, ein Erfolg. Das Kraftwerk habe hervorragend funktioniert, habe allen Sicherheitsstandards entsprochen und sei auch auf Erdbeben vorbereitet gewesen, sagt Thomas Volmar, seit 2015 Leiter der Anlage sowie Projektleiter des Rückbaus. Etwa 45 Angestellte von RWE und rund 100 Mitarbeiter von Partnerfirmen sind noch auf der Anlage tätig, darunter etwa ein Dutzend Ingenieure. Das Durchschnittsalter der Mitarbeiter ist 52 Jahre, insofern haben hier viele Angestellte noch einen Job auf Lebenszeit. Das primäre Ziel des Rückbaus ist nicht die Wiederherstellung einer grünen Wiese, erklärt Ingenieur Volmar im Rahmen eines Besuchs im AKW, sondern die Entlassung der Anlage aus dem Atomgesetz. Auch der Rückbau wird von den Aufsichtsbehörden eng begleitet. Es ist immer ein Sachverständiger des TÜV Rheinland auf dem Gelände, und alle zwei Wochen kommt Besuch von der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde.

Doch wie kam es zu diesem Schildbürgerstreich? Mit dem Baubeginn im Jahr 1975 wurde der gesamte Standort des Atomkraftwerks aufgrund einer unterirdischen Verwerfungslinie im Gestein um 70 Meter verschoben. Das war bereits der Anfang vom Ende. Die Verschiebung geschah zwar mit der Genehmigung durch die zuständige Behörde, das Wirtschaftsministerium in Rheinland-Pfalz, dessen damaliger Ministerpräsident Helmut Kohl war. Atomkraftwerke werden allerdings in Teilgenehmigungen vorangetrieben. Die inkriminierte Standortverschiebung war Bestandteil der zweiten Teilgenehmigung, wurde aber nicht nachträglich in die erste Teilgenehmigung eingefügt. Dies war ein gravierendes Versäumnis, das Klägern Tür und Tor öffnete. Die erste Teilgenehmigung wurde schliesslich am 9. September 1988 wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben, dadurch wurde der Bau quasi illegal. Damals standen Deutschland und die Welt unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986, als der Reaktor 4 des ukrainischen Kernkraftwerks infolge eines unkontrollierten Leistungsanstiegs im Rahmen einer Sicherheitsübung explodierte. Es war das erste Ereignis, das auf der siebenstufigen internationalen Bewertungsskala in die höchste Kategorie, «katastrophaler Unfall», eingeordnet wurde.

Zehn Jahre auf Stand-by

RWE beantragte 1989 eine neue erste Teilgenehmigung, die 1990 auch erteilt, aber nicht sofort vollzogen wurde. Es folgte eine jahrelange Prozesslawine, die damit endete, dass das Bundesverwaltungsgericht 1998 auch die neue erste Teilgenehmigung aufhob. Das war der Todesstoss für das AKW Mülheim-Kärlich. Für RWE wäre es zu teuer gewesen, die Juristen und die Kläger zufriedenzustellen. Im Rahmen des Atomkonsenses mit der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder fiel schliesslich die Entscheidung zur Stilllegung der Anlage. Der Schildbürgerstreich kostete RWE und dessen Aktionäre schätzungsweise 5 Mrd. €. Davon entfallen 3,5 Mrd. € auf den Bau, 1 Mrd. € auf den Rückbau und Hunderte Millionen auf die zehn Jahre Stillstand, wie die Verantwortlichen des Essener Stromkonzerns erklären. Von 1988 bis 1998 wurde das Kraftwerk unter voller Betriebsstärke der Mitarbeiter auf Stand-by gehalten, inklusive Erhaltungsarbeiten, Revisionen und Wartungen. Als Ausgleich für den beträchtlichen Schaden durfte RWE schliesslich 107 Terawattstunden (TWh) auf andere Kernkraftwerke übertragen. 2004 erhielt der Konzern dann die erste Stilllegungs- und Abbaugenehmigung durch die Verwaltungsbehörden.

Auch das Telefon im AKW Mülheim-Kärlich war nicht lange in Betrieb. (Bild: Thilo Schmuelgen / Reuters)

Auch das Telefon im AKW Mülheim-Kärlich war nicht lange in Betrieb. (Bild: Thilo Schmuelgen / Reuters)

Beim Kraftwerk von Mülheim-Kärlich handelt es sich um einen sogenannten Druckwasserreaktor mit einer Bruttoleistung von 1302 MW (Nettoleistung 1219 MW) des Herstellers BBC/BBR (Westinghouse). Der Lieferant war damals ungewöhnlich, denn in Deutschland stammen die meisten Reaktoren von Siemens. Doch RWE strebte in den 1970er Jahren eine Diversifizierung der Hersteller an. Bei Druckwasserreaktoren wird die Wärme aus der Spaltzone durch Wasser abgeführt, das unter hohem Druck steht. Es entsteht zwar eine hohe Temperatur, doch ein Sieden in der Spaltzone wird vermieden. Das Kühlwasser gibt seine Wärme schliesslich in einem Dampferzeuger in den Sekundärkreislauf ab. Grundsätzlich besteht ein Atomkraftwerk typischerweise aus dem Kernreaktor (oft unter einem Kuppelbau, wobei die Betonkugel den Reaktor auch im Erdreich umschliesst), einem bereits von weitem sichtbaren Kühlturm, einem Kamin (Schornstein) und diversen Nebengebäuden.

Besuch vom AKW Beznau

Insgesamt bestand die Gesamtmasse der Anlage aus 500 000 t. Experten unterscheiden dabei zwischen dem konventionellen Bereich und dem nuklearen Bereich. Der konventionelle Bereich umfasst rund 200 000 t, dazu zählen beispielsweise das Maschinenhaus, das Schaltanlagengebäude und der Kühlturm. Die Masse des nuklearen Bereichs beträgt etwa 300 000 t, wobei es sich hauptsächlich um Beton handelt. Dazu kommen Rohrleitungen, Kabel, Armaturen und Ähnliches. Von den 300 000 t im nuklearen Bereich gelten 284 000 t als nicht verunreinigt. Lediglich 16 000 t sind somit problematisch, davon können 14 000 t gereinigt und für die Wiederverwendung oder Entsorgung freigegeben werden. Lediglich 1800 t sind radioaktiver Abfall. Immer wieder kommen auch Besucher auf die Anlage. Vor kurzem seien Kollegen aus der Schweiz vom AKW Beznau in Mülheim-Kärlich gewesen, sagt Volmar, die sich über die technischen Herausforderungen des Rückbaus informiert hätten.

Der Rückbau sei wie ein umgekehrter Neubau, sagt Volmar, der seit 2006 auf der Anlage tätig ist und seit 2015 wie eingangs erwähnt die Leitung innehat. Lediglich von 2010 bis 2013 arbeitete der 50-Jährige in England, als RWE dort neue Kraftwerke bauen wollte. Bei jedem Rückbau würden zuerst die Brennelemente entfernt. Damit hätten schliesslich 99% der Radioaktivität die Anlage verlassen, erklärt Volmar. Die Brennelemente von Mülheim-Kärlich wurden 2001 entnommen und gingen in die französische Wiederaufbereitungsanlage in La Hague. Verhältnismässig unproblematisch ist der Abriss von Nebengebäuden, wie beispielsweise dem Leitstand oder dem Maschinenhaus, in dem früher die Turbinen standen. Die Turbinen hat RWE nach Ägypten verkauft. Aufwendig, aber unproblematisch ist auch der Abbau des Kühlturms, der trotz einer Höhe von 162 m lediglich eine Betonstärke von 10 bis 20 cm aufweist. Arbeiter tragen den Kühlturm schichtweise ab, da eine Sprengung aufgrund einer dicht neben dem Turm verlaufenden Eisenbahnlinie nicht möglich war. Pro Woche schaffen die Arbeiter eine Runde, bei der sie jeweils 3 m hohe Teile abbauen. Ende 2019 dürfte der Kühlturm dann ganz abgetragen sein. Das Wahrzeichen von Mülheim-Kärlich ist dann endgültig verschwunden.

Einsatz der Kärcher-Männer

Sehr viel aufwendiger ist der Rückbau des Reaktorgebäudes und vor allem seines Innenlebens. Dabei sei enorm viel Handarbeit nötig, erklärt Volmar. Die Arbeit bestehe aus sechs Phasen: dem Demontieren der unterschiedlichen Teile, ihrer Zerkleinerung, ihrer Dekontamination, dem Abtransport zur Aussengrenze, der Freimessung und der Bereitstellung zur Abholung auf dem Kraftwerksgelände. Derzeit bauen die Arbeiter im inneren Kontrollbereich die beiden 23 m hohen und je 450 t schweren Dampferzeuger ab. Die vier Primärkühlmittelpumpen, die Primärkühlmittelleitungen und der Druckhalter sind bereits demontiert. Nach den Dampferzeugern folgt dann der Reaktordruckbehälter mit 13 m Länge und 700 t Gewicht. Der Zugang ist nur nach strengen Kontrollen und Sicherheitsverfahren möglich. Arbeiter und Besucher tragen orange Overalls, die Strahlenschutzmitarbeiter im Reaktor grüne. Jeder, der den Kontrollbereich betritt, erhält ein Dosimeter, also ein Gerät zur Messung der Strahlendosis. Auch nur ein geringer Kontakt der Besucher mit Strahlung ist zwar extrem unwahrscheinlich, doch Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Das gilt potenziert für den Umgang mit (potenziell) strahlendem Material. Alle jetzt noch in Mülheim-Kärlich anfallenden radioaktiven Abfälle kommen in den Schacht Konrad, ein stillgelegtes Eisenerz-Bergwerk und genehmigtes Endlager für nicht Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle im niedersächsischen Salzgitter.

Blick in den Reaktor des AKW Mülheim-Kärlich. (Bild: Thilo Schmuelgen / Reuters)

Blick in den Reaktor des AKW Mülheim-Kärlich. (Bild: Thilo Schmuelgen / Reuters)

Die allermeisten Teile werden so stark verkleinert, dass sie in blaue Gitterboxen von zirka 1 mal 1 m Grösse passen. Die Teile sind fast ausschliesslich aus Beton und Metall, Holz wurde aufgrund der aufwendigeren Reinigung von Anfang an nicht verbaut. Bei manchen Teilen müssen die Arbeiter nur die Oberfläche abwischen, bei Beton müssen sie dagegen manchmal eine Schicht abtragen. Wieder andere Teile müssen sie abschleifen. Vor allem Stahlträger und andere Metallteile werden mit Hochdruck-Dampfstrahlern von den sogenannten Kärcher-Männern gereinigt. Derzeit würde mehr Material in Form von Werkzeugen und leeren Containern in den alten Reaktorkern hineingebracht als hinausgehe, erklärt Volmar, der an der RWTH in Aachen Maschinenbau studierte und dann dort fünf Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter war. Auch zum Reinigen brauche man schliesslich viel Material. Im Inneren wurde sogar ein neuer kleinerer Lastenkran montiert, weil der weiterhin verfügbare alte Kran für extrem grosse Lasten und eine geringere Anzahl von Bewegungen konstruiert war. Das Abklingbecken, in dem einst die benutzten Brennelemente so lange lagerten, bis ihre Aktivität und Wärmeentwicklung auf den gewünschten Wert abgeklungen war, ist längst leer. Hier stehen zum Teil Container für den Abtransport von Material. Alle Teile müssen die Freimessanlage passieren, an der die ehemals radioaktiven Materialien freigegeben werden.

Ende aller AKW im Jahr 2022

Volmar und seinen Mitarbeitern wird die Arbeit auf absehbare Zeit nicht ausgehen. Derzeit befinden sich in Deutschland unter anderem bereits die Atomkraftwerke Biblis, Stade, Obrigheim, Grafenrheinfeld, Würgassen, Unterweser und Greifswald im Rückbau. Ende 2022 kommen noch viele Anlagen dazu, denn bis zu diesem Zeitpunkt gehen die AKW Brokdorf, Emsland, Grohnde, Gundremmingen C, Isar 2, Neckarwestheim II und Philippsburg 2 vom Netz. Dann steigt Deutschland endgültig aus der Atomenergie aus. Der Rückbau ist gesetzlich vorgeschrieben. Ein sicherer Einschluss für 30 Jahre, wie er früher alternativ erlaubt war, ist inzwischen nicht mehr zugelassen. Das einstige, bereits 1990 stillgelegte Versuchs-AKW in Kahl ist bereits seit 2010 komplett verschwunden. Dort gibt es seit 2015 eine Folgenutzung. Bis auch in Mülheim-Kärlich nichts mehr an das AKW erinnert, dürften allerdings noch mindestens zehn Jahre vergehen. Doch der Schildbürgerstreich bleibt unvergessen.

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