Demonstranten fahren im Mai 1989 auf einem Autodach und halten ein Poster hoch, das besagt, dass Regierungschef Li Peng in den Seilen hänge. (Bild: Jim Palmer / AP)

Demonstranten fahren im Mai 1989 auf einem Autodach und halten ein Poster hoch, das besagt, dass Regierungschef Li Peng in den Seilen hänge. (Bild: Jim Palmer / AP)

Interview

«Die Kommunistische Partei Chinas breitet sich wie ein Krebsgeschwür weltweit aus»

Zhou Fengsuo war einer der Anführer der Studenten, die 1989 auf dem Tiananmen-Platz für Demokratie demonstrierten. Nach der blutigen Niederschlagung am 4. Juni zählte er zu den meistgesuchten Studentenführern und landete im Gefängnis. Seit annähernd 25 Jahren lebt er nun in Amerika. Das Regime in Peking bezeichnet er als Schande, die nicht existieren sollte.

Matthias Müller, Taipeh
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Zhou Fengsuo, die Ereignisse rund um den 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking liegen bereits drei Jahrzehnte zurück. Wie präsent sind die Geschehnisse?

Sie sind allgegenwärtig. Sie sind Teil meines Lebens. Ich lebe noch immer darin, ich atme die Zeit ein. Es ist eine grosse Tragödie.

An jenem Tag schlug die Volksbefreiungsarmee die Studentenproteste blutig nieder, zu deren Anführern Sie gehörten. Ist das Ihre persönliche Tragödie oder eine für das gesamte chinesische Volk?

Es ist eine Tragödie für China und die ganze Welt. Es handelt sich nicht um ein historisches Ereignis, weil viele Personen und Zeitzeugen noch immer leben und leiden. Es muss uns gelingen, dass sie über ihre Erlebnisse berichten. Es ist darüber hinaus ein grosses Problem, dass all jene, die damals Verbrechen begangen haben, nie zur Rechenschaft gezogen worden sind. Universelle Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Achtung der Menschenrechte, für die wir vor 30 Jahren gekämpft haben, sind wichtiger denn je für China, weil sich das Land in die genau entgegengesetzte Richtung entwickelt.

Hat die heute in China lebende junge Generation überhaupt eine Ahnung, was damals in China geschehen ist?

Die jungen Chinesen haben eine komplette Gehirnwäsche verpasst bekommen. Darum wissen sie nicht, was damals passiert ist. Sie sitzen hinter der chinesischen «Great Firewall», alle Nachrichten im Internet sind gefiltert und zensiert. Erschwerend kommt hinzu, dass die Mittelschicht so tut, als ob sie von den Geschehnissen nichts wisse. Die Situation in China ist traurig.

Haben Sie damals die Unterstützung der chinesischen Gesellschaft gespürt, oder waren nur Studenten im Kampf für Demokratie und Meinungsfreiheit aktiv?

Die Unterstützung durch die gesamte chinesische Gesellschaft war überwältigend. Es glich vielen Chinesen einem Wunder, dass sie sich plötzlich frei äussern konnten. Dieser Umstand hat sie dazu veranlasst, sich uns anzuschliessen. Sie hatten die Hoffnung, dass sich alles ändern würde. Es darf nicht vergessen werden, dass vor 30 Jahren auch stark gestiegene Lebensmittelpreise die Chinesen verärgerten und auf die Strasse trieben. Darüber hinaus war der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, eine Inspiration für uns. Ich erinnere mich noch gut an das Wort «Öffnung» als Teil seiner Politik.

Zhou Fengsuo spielte vor 30 Jahren beim Kampf vieler Chinesen für mehr Freiheit und Demokratie eine zentrale Rolle. Heute lebt er in Amerika. (Bild: Matthias Müller)

Zhou Fengsuo spielte vor 30 Jahren beim Kampf vieler Chinesen für mehr Freiheit und Demokratie eine zentrale Rolle. Heute lebt er in Amerika. (Bild: Matthias Müller)

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie den Kampf verlieren werden?

Das war mir schon früh klar. Am 25. April hatte der damalige starke Mann in Peking, Deng Xiaoping, bereits gesagt, er werde Personen töten lassen. Einen Tag später wurden wir vom Sprachrohr der Partei, der Zeitung «People’s Daily», als Konterrevolutionäre gebrandmarkt. Da war mir bewusst, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelte, die schlecht enden könnte.

Und dennoch haben Sie nicht aufgehört, für Ihre Rechte zu kämpfen?

Natürlich nicht – es war meine Pflicht und eine Frage der Ehre. Ich kämpfte für etwas, was ich von ganzem Herzen liebte und noch immer liebe.

Deng Xiaoping wird im heutigen China für seine Reformen und die Öffnung der Wirtschaft gerühmt. Wie stehen Sie zu ihm?

Deng war paranoid. Er war ein Tyrann, der in ständiger Angst lebte, seine Macht zu verlieren. Deshalb hat er den Befehl für das grausame Massaker gegeben. Den Entscheid zur Ausrufung des Kriegsrechts und zur Niederschlagung der Bewegung teilte er dem Führungszirkel bei einer Sitzung in seiner Privatresidenz mit. Zudem hat Dengs Familie wirtschaftlich und politisch sehr von den damaligen Ereignissen profitiert. Sie war der Nutzniesser all der Toten, durch die es der Kommunistischen Partei mit Deng an der Spitze gelungen war, an der Macht zu bleiben. Zu den Gewinnern der Niederschlagung zählte auch die Familie des damaligen Regierungschefs Li Peng.

Im Gegensatz zu Dengs Familie ist es Ihnen nach der Niederschlagung nicht so gut ergangen.

Nein, ganz sicher nicht. Ich befand mich im Exil in der Provinz Hebei und war einer der meistgesuchten Studentenführer. Auf der Fahndungsliste der Pekinger Polizei war ich an fünfter Stelle. Ich wurde geschnappt und sass ein Jahr im Gefängnis, bevor ich Anfang 1995 die Volksrepublik verliess.

Auf der Fahndungsliste der Pekinger Polizei war Zhou Fengsuo einer der meistgesuchten Anführer der Demokratiebewegung von 1989. (Bild: HKFP)

Auf der Fahndungsliste der Pekinger Polizei war Zhou Fengsuo einer der meistgesuchten Anführer der Demokratiebewegung von 1989. (Bild: HKFP)

Wie ist Ihnen die Ausreise gelungen?

Ich habe lange dafür gekämpft. Zunächst hatte ich ein Stipendium, um mein Physikstudium in den Vereinigten Staaten fortzuführen. Aber ich konnte nicht ausreisen, weil ich keinen Reisepass besass. Dagegen protestierte ich und kämpfte hartnäckig dafür, diesen zu bekommen. Irgendwann gelang es mir. Ich ging in die Vereinigten Staaten und habe auf einer Business School studiert. Anschliessend arbeitete ich 20 Jahre lang im Finanzsektor. Parallel dazu gründete ich mit «Humanitarian China» meine eigene Nichtregierungsorganisation. Die Opfer des Massakers vom 4. Juni 1989 und die politischen Häftlinge dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Und mit meiner Nichtregierungsorganisation versuche ich, Betroffenen die Ausreise aus China und ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Zudem unterstützt die Organisation auch finanziell Aktivisten aus jener Zeit, die noch in China leben.

Wie erging es Ihrer Familie nach der Niederschlagung?

Sie haben alle auf unterschiedliche Art unter meinen Aktivitäten und der Inhaftierung gelitten. Am stärksten hatte jedoch ich zu leiden.

Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie?

Sie leben in China und lieben mich noch immer. Ich versuche jedoch, sie auf Distanz zu halten und den Kontakt zu minimieren. Wir haben uns in all den Jahren so unterschiedlich entwickelt. Und meine Familie weiss auch, dass ich bei einer Rückkehr nach China alles in meiner Macht Stehende unternehmen würde, um das Regime zu stürzen.

Gibt es irgendwas, was Sie an China besonders vermissen?

Um ehrlich zu sein, vermisse ich nicht viel. Ich liebe meine neue Heimat Amerika. Die Vereinigten Staaten sind trotz vielen Problemen ein tolles Land, das mir viele Möglichkeiten bietet. Dort habe ich die Freiheit, das zu machen, was ich will. Ich kann weiterhin für Freiheit und Demokratie kämpfen. Unsere Ideen und Ideale von damals leben fort. Es ist meine persönliche Pflicht, das totalitäre Regime in Peking zu bekämpfen. Das ist eine Schande, die nicht existieren sollte.

Sie können aber nicht leugnen, dass sich China in den vergangenen Jahren wirtschaftlich erfolgreich entwickelt hat.

Das streite ich auch gar nicht ab.

Aber Sie dürften ein Problem mit dem chinesischen Partei- und Staatschef Xi Jinping haben.

Der schlägt den gleichen Pfad ein, den Adolf Hitler mit Deutschland Anfang der dreissiger Jahre gewählt hatte. Ich erkenne viele Parallelen. Denken Sie nur an die Konzentrationslager in der Uiguren-Provinz Xinjiang, das brachiale Vorgehen gegen Menschenrechtsanwälte und Aktivisten oder die Repressionen gegen Christen. Und es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Deutschland unter Hitler und dem heutigen China: In beiden Ländern starben Friedensnobelpreisträger in Haft – Carl von Ossietzky und Liu Xiaobo. Xi ist in China so populär, wie Hitler es zu Beginn in Deutschland wegen der wirtschaftlichen Erfolge war.

Ist sich die Welt der vom kommunistischen China ausgehenden Gefahren bewusst?

Wie in den dreissiger Jahren im Fall von Deutschland nimmt die Welt zu wenig Notiz von der aufkommenden Gefahr, die von China ausgeht. Und diese ist wegen der Digitalisierung und der Globalisierung deutlicher grösser als zu Zeiten Hitlers. Wir müssen die Katastrophe abwenden, bevor es zu spät ist. China ist eine Gefahr für die ganze Welt. Die kommunistischen Machthaber gehen brutal gegen das eigene Volk vor und werden sich nicht scheuen, das auch ausserhalb des eigenen Landes zu tun.

Was lief in China in den vergangenen Jahren punkto Demokratie und Menschenrechte falsch? Der Westen dachte lange, dass sich das Land auch politisch ändern werde, wenn es sich wirtschaftlich öffne.

Das war reines Wunschdenken.

Warum?

Chinas Wirtschaft hat sich zwar gut entwickelt. Es gibt jedoch kein freies Unternehmertum. Die Eigentumsrechte werden nicht geschützt, und selbst wenn man Milliardär ist, kann es geschehen, dass man entführt oder gar ermordet wird, ohne dass man sich davor schützen kann. Es gibt keine Marktwirtschaft, wie es sich der Westen immer erhofft hatte. Und die Saat dazu wurde vor 30 Jahren gesät, als die Partei auf das eigene Volk hat schiessen lassen. Sie hat damals ihre Legitimität verloren.

Warum hat der Westen 1989 nicht reagiert?

Die haben nur auf die grossen Chancen geschaut, die das riesige Land bietet. Die Konsequenzen dieser Passivität werden nun offensichtlich. Der Westen hat den Aufstieg Chinas nicht verhindert und hat nun ein Problem.

Was kann der Rest der Welt gegen China unternehmen?

Wir müssen nun zurückschlagen. Ich halte den amerikanischen Ansatz, China herauszufordern, für richtig. Wir müssen uns überlegen, ob wir China nicht vom Welthandel und vom Internet ausschliessen, damit sich das totalitäre System der Kommunistischen Partei nicht wie ein Krebsgeschwür in der ganzen Welt ausbreitet.

Vor 30 Jahren haben viele Studenten bei ihrem Kampf für Demokratie und Meinungsfreiheit ihr Leben verloren. Hat sich der Kampf dennoch gelohnt?

Ich bereue nichts. Freiheit ist ein Geschenk, für das man kämpfen muss. Jede Auseinandersetzung, um das chinesische System zu überwinden, ist es wert.

Sie leben nun seit mehr als zwei Jahrzehnten in Amerika. Haben Sie den Eindruck, dass die in freiheitlichen Systemen lebenden Personen ihre Privilegien als selbstverständlich wahrnehmen?

Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Wahrung der Menschenrechte weiss ich sicherlich mehr zu würdigen als viele Westler. Ich habe am eigenen Leib erfahren müssen, wie grausam es ist, wenn einem solche Rechte vorenthalten werden. Wir müssen achtsam sein und diese Werte verteidigen.

Fühlen Sie sich in den Vereinigten Staaten sicher, oder haben Sie Angst vor Nachstellungen regimetreuer Chinesen?

Es gehört zu meinem Leben, dass ich mich nicht sicher fühle. Ich bin nicht allzu nervös, obwohl ich mir bewusst bin, dass alles passieren kann. In San Francisco bin ich vor wenigen Jahren von regimetreuen Chinesen tätlich angegriffen worden. Und jüngst standen Personen am helllichten Tag vor meiner Wohnung und fotografierten. Sie wollten mich sicherlich einschüchtern. Aber das ist okay. Damit kann ich leben.