Die Frau, die von chinesischen Beamten zum «Tee» einbestellt wird

Die Literaturwissenschafterin Ai Xiaoming hat die kommunistische Führung gegen sich aufgebracht. Sie darf ihr Land nicht mehr verlassen. Immerhin bei den Frauenrechten sieht sie Fortschritte.

Matthias Müller, Guangzhou
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Die chinesische Frauenrechtlerin Ai Xiaoming in ihrer Wohnung in Guangzhou. (Bild: Mue.)

Die chinesische Frauenrechtlerin Ai Xiaoming in ihrer Wohnung in Guangzhou. (Bild: Mue.)

Manchmal sagt das Interieur einer Wohnung mehr als tausend Worte über deren Bewohner. Gleich beim Eingang von Ai Xiaoming Wohnung in Guangzhou hängt ein Foto von von Liu Xia, der Frau des inhaftierten Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo; schräg gegenüber ein Plakat mit dem legendären Motiv vom Tiananmen-Platz im Herzen Pekings, als sich im Zuge der Studentenproteste 1989 ein Chinese den Panzern in den Weg stellte. Das Foto ist mit «Globale Geschichte» überschrieben und weist auf eine Veranstaltung in Deutschland vor acht Jahren hin, an der Ai teilgenommen hatte. Es war die letzte Auslandsreise der Literaturwissenschafterin und Genderforscherin. Obwohl sie noch ihren Pass besitzt, hat sie seitdem das chinesische Festland nicht mehr verlassen dürfen – auch 2010 nicht, als sie in Frankreich den «Prix Simone de Beauvoir» hätte entgegennehmen sollen. Die laut einem Urteil ihrer Studenten einst zu den beliebtesten Professorinnen Chinas zählende Ai ist den chinesischen Machthabern seit Jahren ein Dorn im Auge, weil sie sich für Menschenrechte engagiert und trotz Schikanen der Sicherheitsbehörden ihre Finger weiter in die offenen Wunden im Land legt.

Einladung zum «Tee»

In den vergangenen Tagen hat die Staatsmacht ihren Blick auf die 1953 in der zentralchinesischen Stadt Wuhan geborene Ai besonders geschärft. Jüngst feierte in Hongkong ihr neuer, 375 Minuten langer Dokumentarfilm «Jiahiangou Elegy: Life and Death of the Rightists» Premiere. Sie selbst kann nicht hinfahren. In dem Werk, das sie wie bereits frühere Filme in Eigenregie erstellt hat, geht es um ein Konzentrationslager in der Provinz Gansu Ende der fünfziger Jahre, in dem von den 3000 als «Rechtsabweichlern» gebrandmarkten Chinesen nur wenige überlebt haben. Mit ihnen hat Ai gesprochen.

Ein Treffen mit ihr erweist sich im Umfeld der Premiere in Hongkong als schwierig. Während des Gesprächs klingelt mehrmals ihr Handy; sie geht zum Gespräch auf den Balkon. Beim dritten Mal ist es soweit: Es war die Polizei. Ein Beamter hat sie für den Nachmittag desselben Tages zu einem «Tee» einbestellt – ein Einschüchterungsversuch, wie ihn viele «unbequeme» Chinesen wie Ausländer über sich ergehen lassen müssen. Der Anruf bringt Ai jedoch nicht aus der Fassung. Sie sieht sich vielmehr in der Aussage bestätigt, dass die Repression in ihrem Heimatland in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Das äusserte sich etwa in der Welle von Verhaftungen von Menschenrechtsanwälten und Aktivisten im Sommer 2015. Und auch Ai spürt die starke Hand des Staates. «Wenn ich einen in den Augen der Staatsmacht unangenehmen Gast habe, werde ich angerufen und darauf hingewiesen, dass er nicht bei mir übernachten darf. Meine Familie und ich sind gläsern», erzählt Ai. Aber sie denkt nicht daran, ihre Mission aufzugeben.

Prägendes Jahr in den USA

Eine politisch denkende Person ist Ai nicht immer gewesen. Im Gespräch mit dem amerikanischen Journalisten Ian Johnson hatte sie erzählt, dass sie 1989 zweimal zum Tiananmen-Platz gegangen sei, um das Treiben der Studenten aus der Ferne zu beobachten. Die Initialzündung folgte erst später, als die Professorin 1999 ein akademisches Jahr an der amerikanischen Universität Sewanee verbrachte. Die Zeit in einem Land einer offenen Diskussionskultur sollten ihre Sinne für die Anliegen von Frauen schärfen. Dadurch kam sie – zurück in der chinesischen Heimat – auch mit Menschenrechtlern in Kontakt.

Kurzfristig keimte bei Ai und ihren Mitstreitern 2002, als Hu Jintao als Partei- und Staatschef sowie Wen Jiabao als Ministerpräsident an die Macht kam, Hoffnung auf eine politische Öffnung des Landes auf. Doch sie zerschlug sich mit Einbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und seit der Machtübernahme durch Xi Jinping 2012 schnell. Der Machterhalt der Kommunistischen Partei geht auf Kosten der politischen Öffnung.

Gemischt fällt Ais Urteil über den Stand der Frauenrechte aus. Zumindest auf dem Papier sind die Geschlechter in China gleichgestellt, und es hat in den vergangenen Jahren auch Fortschritte gegeben. Immer mehr junge Frauen absolvieren ein Universitätsstudium und überflügeln ihre Altersgenossen punkto Bildungsniveau. Als Schritt in die richtige Richtung bezeichnet Ai zudem das Gesetz gegen häusliche Gewalt, auch wenn das Recht darauf nicht garantiert werden könne. Es müsse zunächst in den Köpfen der Paare, der Sicherheitsbehörden und der Justiz verankert werden, fügt Ai an.

In der alltäglichen Praxis klafft zwischen den beiden Geschlechtern jedoch noch immer eine grosse Lücke. Sexuelle Belästigungen im Alltag sind ein fortwährendes Problem, und auch in der Wirtschaft sowie in der Politik haben nur wenige Frauen etwas zu sagen. Jene, die mit der Partei schwimmen, nimmt Ai nicht ernst. Die seien loyal und hätten an demokratischen Veränderungen kein Interesse. Auch den aktiven Politikerinnen gehe es allein um den Machterhalt der Kommunistischen Partei. Das nun anstehende Treffen des Nationalen Volkskongresses, dem Scheinparlament Chinas, schenkt Ai keine Beachtung: Die Legislative nicke nur brav ab, was die Partei davor beschlossen hat. Entsprechend egal ist es ihr, wie viele Frauen in dem rund 3000 Abgeordnete zählenden «Parlament» sitzen: Sie haben nichts zu sagen und folgen der Parteilinie. Laut Ai hat die Weltfrauenkonferenz, die 1995 in Peking stattfand, viele Chinesinnen geprägt. Vor allem ein Satz der damaligen «First Lady» im Weissen Haus, Hillary Clinton, hat in China Spuren hinterlassen – auch oder gerade weil er den Machthabern missfallen hatte: «Menschenrechte sind Frauenrechte, und Frauenrechte sind Menschenrechte.» Ai sieht einzelne junge Feministinnen in China heranreifen, die sie selbst durch ihr Wirken mitgeprägt hat. Es handle sich um die dritte Generation.

Es brodelt auf lokaler Ebene

Wie schwer es Chinas Frauenbewegung jedoch hat, belegte jüngst ein Vorfall der Gruppe «Feminist Voice», der auf Weibo 80 000 Personen folgen. Vorübergehend wurde der Zugang zu deren sozialen Netzwerken gesperrt, weil ein Artikel über einen Streikaufruf von Frauen in den Vereinigten Staaten für den 8. März eingestellt worden war. Die offizielle Begründung von Weibo für den Schritt lautete, mit der Veröffentlichung habe die Gruppe relevante Gesetze des Staates verletzt.

Trotz Überwachung und Restriktionen setzt Ai grosse Hoffnung auf soziale Netzwerke. Die Sicherheitsbehörden können es nicht gänzlich verhindern, dass sich Informationen rasend schnell verbreiten. Dass es allen Stabilitätsbeteuerungen der Machthaber zum Trotz in China auf lokaler Ebene an vielen Orten brodelt, zeigen die zahlreichen Proteste gegen unzumutbare Umweltbedingungen oder gegen Verletzungen von Rechten der Arbeitnehmer.

Zwar ist China derzeit weit davon entfernt, sich politisch zu öffnen. Wenn dies eines Tages geschehen sollte, schwant Ai nichts Böses. Die Kommunisten warnen zwar davor, dass das Land dann ins Chaos stürzen werde. Mit dem Argument streue die Partei ihren Landsleuten Sand in die Augen, sagt Ai. In Wahrheit treibe die Machthaber der damit einhergehende Bedeutungsverlust um. Wie sehr Chinas Kommunisten an der Macht hängen, hat die Dokumentarfilmerin mit dem Plakat vom Tiananmen-Platz in ihrer Wohnung täglich vor Augen: Sie gehen notfalls über Leichen.