In Spaniens Krise offenbart sich eine neue EU – Seite 1

Das katalonische Unabhängigkeitsbestreben existiert seit Langem. Immer wieder haben die Katalanen die spanische Zentralregierung um mehr Autonomie gebeten – und wenig bekommen. Im Gegensatz zu Deutschland ist Spanien kein föderierter Staat. Katalonien ist kleiner als Bayern, zahlt aber rund dreimal so viel in die spanische Staatskasse wie der deutsche Freistaat dem Bund. In den vergangenen Jahren sind in Hunderten von katalonischen Städten auch deshalb Abstimmungen durchgeführt worden, die meistens mit Mehrheiten für eine Unabhängigkeit ausgingen. Fakt ist, dass die spanische Zentralregierung diese Tatsache lange ignorierte. Wozu das führt, scheint mittlerweile klar zu sein: Ein derart vehement vorgetragenes Begehren wird nicht einfach verstummen, auch nicht wenn der spanische Premierminister Mariano Rajoy nun mit Artikel 155 der spanischen Verfassung droht. Er könnte dadurch Katalonien unter Zwangsverwaltung stellen lassen. Aber niemand möchte bürgerkriegsartige Zustände in Spanien. Es muss sich also politisch etwas tun, ein neuer Lösungsweg wird gesucht.

Diejenigen, die noch gegen die Unabhängigkeit Kataloniens sind, sind das vor allem, weil sie die europäischen Konsequenzen fürchten: einen Austritt aus der EU. Die Frage ist: Warum muss das so sein? Entweder Katalonien bleibt Teil Spaniens oder es tritt aus: aus Spanien, der EU, dem Euro. So lauten derzeit die einzigen Alternativen im Fall Katalonien. Soll es tatsächlich keine andere, bessere Lösung geben, die nicht in die Irre führt, sondern ein autonomes Katalonien in Europa behält?

Natürlich gibt es die. Es ist doch nicht gottgegeben, dass ein unabhängiges Katalonien erst erneut eine Mitgliedschaft in der EU beantragen muss wie das Kosovo. Die Weigerung der EU, in diesem Punkt eine Moderationsrolle zu übernehmen, behindert den Lösungsprozess. Und wer glaubt, es gibt in der Katalonien-Krise keinen dritten Weg, macht an einer entscheidenden Stelle einen Denkfehler, indem er am Nationalstaat als einzig möglichen konstitutionellen Träger einer europäischen Einheit festhält. Das muss nicht so sein. Und es geht bei dieser Option nicht nur um Spanien.

Eine Europa-Karte mit den 50 bis 60 Regionen des Kontinents © [M] aer.eu

Es wäre an der Zeit zu sortieren, was Region und was Nation ist

Die Katalanen sind derzeit nicht die einzigen, die eine regionale Autonomie in Europa wollen. Da wären noch Tirol oder Schottland, Wallonien, Flandern, Venetien oder eben Bayern. Um nur einige zu nennen. Die Forderungen dieser Menschen werden lauter, weil in der EU durcheinander geraten ist, was nur eine Region sein darf und was möglicherweise ein Staat sein kann. Auch Irland oder Zypern sind zwei Beispiele, wo ethnische Region und Staatlichkeit nicht kongruent gehen.

Daneben ist die EU einerseits voll von großen Regionen (etwa Nordrhein-Westfalen), die in der EU nicht mitbestimmen dürfen, und andererseits kleinen Staaten (etwa Luxemburg oder Malta), die das dürfen. Wäre es nicht an der Zeit, mal zu sortieren, was eigentlich eine Region und was eine Nation ist? Zumal viele Nationen de facto Zusammenschlüsse von mehreren Regionen sind, allen voran Italien oder Deutschland. Selbst Frankreich hat eine zwar unterdrückte, aber reiche regionale Vergangenheit. Auch in Nantes in der Bretagne gab es deshalb Solidaritätskundgebungen mit den Katalanen.

In einem Europa der Regionen wären die Katalanen Teil der EU

Der aktuelle Fall in Katalonien ist ein Grund mehr, sich die regionale politische Energie, die derzeit durch Europa fließt, positiv zu Nutze zu machen, anstatt sie brachial zu unterdrücken. Wer die Demonstrationen der Katalanen als illegal abtut und ignoriert, löst keine Probleme.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die europäischen Föderalisten der ersten Stunde, die inmitten des Faschismus in den 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahren einen konzeptionellen Vorgriff auf ein geeinigtes Europa getätigt haben, die Idee eines Europa der Regionen im Kopf hatten, ein Europa als Föderation etwa gleichgroßer, regionaler Einheiten, damit die großen Nationalstaaten nicht die kleinen dominieren. Der Schweizer Denis de Rougemont und andere waren davon überzeugt, dass das neue Europa konsequent nachnational sein muss. Europa mit Nationalstaaten wird nie und nimmer zu machen sein, denn das werde immer wieder zu neuer Konkurrenz und einem Erstarken des Nationalismus führen – davon waren die Vordenker der EU überzeugt. Und auch davon, dass nur eine Verankerung Europas im Regionalen die Lösung sein kann.

Ulrike Guérot lehrt als Professorin für Europapolitik an der Universität Krems in Österreich. Im Jahr 2016 erschien ihr Buch "Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie". Im Jahr 2017 erschien "Der neue Bürgerkrieg: Das offene Europa und seine Feinde". © C. Butzmann

Jetzt wäre der richtige Moment, aus diesen Plänen Realität zu machen. Eine europäische Föderation regionaler Einheiten (im Sinne von Leopold Kohrs Small is beautiful) könnte eine plausible Antwort auf die derzeitigen Renationalisierungstendenzen sein, die die EU gerade durchlebt. In einem Europa der Regionen wären die Katalanen Teil der EU, die Basken ebenso und das übrige Spanien auch. Jene Menschen, die am Wochenende gegen eine Abspaltung Kataloniens in Madrid und Barcelona demonstrierten, müssten keine Sorgen haben, dass ihren katalanischen Freunden und Verwandten ein Brexit-ähnliches Schicksal droht.

Um nicht falsch verstanden zu werden und keine falschen Freunde zu gewinnen: Es geht mir nicht darum, einem regionalen Separatismus in Europa das Wort zu reden. Weder Katalonien noch Bayern, Schottland oder gar Sachsen können es allein! Und nein, eine größere Autonomie darf nicht auf die Schaffung verbarrikadierter Wohlstandsregionen zielen, die sich der europäischen Solidarität entziehen. In einem Europa der Regionen müssten die Regionen weiterhin Steuern für das europäische Allgemeinwohl zahlen.

Die Probleme und Konflikte unserer Zeit entstehen europaweit entlang der sozio-ökonomischen Unterschiede zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, strukturschwachen und Wachstumsregionen. Diese regionalen Unterschiede europaweit auszugleichen, müsste das Ziel sein (es ist übrigens bereits verbrieftes Ziel im Maastrichter Vertrag). Auf dem Weg dahin dürfen nicht mehr die Bürger des einen Staates gegen die Bürger des anderen ausgespielt werden, während die Unternehmen innerhalb der EU de facto von einem Land zum anderen Lohn- oder Steuerhopping betreiben.

Niemand gewinnt, wenn einige Regionen in der Mitte Europas ökonomisch und sozial verwahrlosen, während andere im Reichtum leben. In dieser Ungleichheit liegen die Brutstätten des heutigen Populismus in Europa, der zunehmend zur Gefahr für alle wird. Perspektivisch muss deshalb ein Europa basierend auf dem allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger begründet werden. Gemeint ist, die Regionen als zentrale, konstitutionelle Akteure einer zukünftigen Europäischen Republik zu definieren und politisch aufzuwerten.

So könnten neue Formen eines substantiellen europäischen Parlamentarismus möglich werden, in dem alle europäischen Bürgerinnen und Bürger ein europäisches Parlament wählen und die Regionen eine zweite Kammer, einen europäischen Senat, bilden.

Deutschlands Übermacht wäre überwunden

Eine solche Europäische Republik, zusammengesetzt aus etwa 50 oder 60 Regionen, wie sie auf alten europäischen Landkarten auftauchen, würde die heute beklagte Übermacht der großen Nationalstaaten in der EU – allen voran Deutschland – überwinden. Unter dem Dach einer Europäischen Republik wären alle europäischen Bürgerinnen und Bürger gleich vor dem Recht – die Bedingung für jede Demokratie – und doch kulturell vielfältig.

"Regionen sind Heimat, Nationen sind Fiktion", schreibt der österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Das Nationale ist meist nur eine Erzählung, das Regionale, das ist die Sprache, die Küche, die Kultur. Würde man die Regionen im politischen System einer Europäischen Republik aufwerten, bekäme man genau jene "Einheit in Vielheit", ohne eine verkrampfte und künstliche europäische Identität schaffen und ohne die Flucht ins Nationale antreten zu müssen.

So besehen könnten die katalonischen Bestrebungen der Aufbruch in ein anderes Europa werden. Wenn, ja wenn es jetzt angesichts der Krise in Spanien in der EU den Mut gäbe, Europa wirklich einmal neu zu denken. Oder anders formuliert: Europa dem anzunähern, was es im Geiste der Gründungsväter eigentlich sein sollte: keine Integration von Nationalstaaten, sondern die Einigung von Menschen jenseits von Nationen.