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  4. Die „FAZ“ und Deniz Yücel: Intellektueller und moralischer Auffahrunfall

Meinung Die „FAZ“ und Deniz Yücel

Intellektueller und moralischer Auffahrunfall

Chefkorrespondent
Autokorso für verhafteten Türkei-Korrespondenten der „Welt“

In Berlin hat ein Autokorso für den verhafteten Türkei-Korrespondenten der „Welt“, Deniz Yücel, stattgefunden. Die Teilnehmer fordern die sofortige Freilassung Yücels und aller anderen in der Türkei inhaftierten Journalisten.

Quelle: N24

Autoplay
„FAZ“-Korrespondent Michael Martens hat in einem Kommentar kritisiert, dass die „Welt“ den festgenommenen Journalisten Deniz Yücel in die Türkei geschickt hatte – weil er Türke ist. Das ist Unsinn.

Der „FAZ“-Redakteur Michael Martens ist eigentlich ein exzellenter Auslandskorrespondent, der über eine gewisse Berufserfahrung in Gebieten verfügt, in denen man es mit Grundrechten nicht so genau nimmt. Er war viel in Russland, in Afghanistan, auf dem Balkan und nicht zuletzt in der Türkei unterwegs.

Umso unverständlicher und erschütternder ist es, wenn ein bislang geschätzter Kollege einen derart spektakulären intellektuellen und moralischen Auffahrunfall hinlegt wie Martens mit seinem Kommentar „Einmal Türke, immer Türke“ in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (Dort hat er die Überschrift „Für immer Türke“).

Um die Thesen des Stücks kurz und grob zusammenzufassen: Martens findet es zwar falsch, dass der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, in Istanbul im Gefängnis sitzt, suggeriert aber zugleich, sein Arbeitgeber (also: wir hier bei der „Welt“ im Verlag Axel Springer) trügen indirekt eine Art Mitschuld, weil wir ihn als „Türken vom Dienst“ überhaupt erst dort hingeschickt hätten – statt beispielsweise nach Russland. So hätten wir Yücel aufs Türke-Sein reduziert.

Yücel lässt sich nichts sagen

Nun muss man zunächst einmal vorausschicken, dass es eine ziemlich derbe Fehleinschätzung der Persönlichkeit Deniz Yücels ist, wenn man glaubt, dieser ließe sich von einem Arbeitgeber irgendwo hinschicken, wo er vielleicht nicht hinwill, wenn er eigentlich lieber woanders hinwill.

Wie jeder aktuelle oder ehemalige disziplinarische Vorgesetzte (hahaha), der sich jemals einbildete, bei Deniz Yücel über so etwas wie „Weisungsbefugnis“ zu verfügen, bestätigen wird, kann man Deniz Yücel nirgendwo hinschicken.

Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der "Welt", in Istanbul
Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der "Welt", in Istanbul
Quelle: Privat/Deniz Yücel/dpa

Wenn man nun trotzdem meint, die Meinung vertreten zu müssen, das Beispiel unseres in der Türkei inhaftierten Korrespondenten Deniz Yücel eigne sich, um zuerst und vor allem eine Debatte über die Auswahlkriterien deutscher Medien bei der Entsendung ihrer Korrespondenten loszutreten, hätte man wenigstens anstandshalber so lange warten können, bis der betroffene Kollege wieder frei ist.

Eine erhebliche Taktlosigkeit

Deniz Yücel – darauf muss man offenbar noch einmal dezent hinweisen – sitzt seit knapp einer Woche unschuldig in einem türkischen Knast. Nachdem er sich bereits zwei Monate lang nicht mehr frei in der Türkei bewegen konnte. Eine Situation, über die der „FAZ“-Kollege nun unbestätigte Details verbreitet, über die der Rest der deutschen Presse bislang – aus Verantwortung gegenüber dem Betroffenen – bewusst nicht berichtet hat.

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Weder Deniz Yücel noch seine Familie, seine Freunde oder Kollegen wissen heute, ob und wann er wieder freikommt. In dieser Lage einen solchen Kommentar abzusetzen ist, milde formuliert, eine erhebliche Taktlosigkeit gegenüber dem Betroffenen, gegenüber denen, die ihm nahestehen und mit ihm bangen, und gegenüber allen, die sich seit Wochen um eine Lösung in diesem Fall bemühen.

Von Taktfragen abgesehen, ist das eigentlich Perfide an Martens’ Text die Aufforderung an „deutsche Verlage“, sich doch einmal genauer zu überlegen, „welche Korrespondenten sie in welches Land schicken“.

Martens’ bizarre Privatlogik

„Manche Häuser“, unterstellt Martens explizit der „Welt“ und der „Zeit“, beugten sich nämlich „indirekt dem Nationalismus des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan“ – indem sie Mitarbeiter mit mehr oder minder türkischem Migrationshintergrund in die Türkei schickten und sie damit, so glaubt Martens, auf die Rolle von „Türkei-Erklärern“ reduzierten.

Wieso sich ein Verlagshaus durch die Entsendung eines fraglos qualifizierten Journalisten der erdoganschen Ideologie unterwirft, bleibt Martens’ Geheimnis. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen, um die bizarre Privatlogik zu erfassen, die hinter dieser Argumentation steht.

Denn der Einzige, der hier versucht, zwei Kollegen über die Migrationsvorgeschichte ihrer Ahnen zu definieren und darauf zu reduzieren – ist Michael Martens. Wer auch nur ansatzweise vertraut ist mit dem journalistischen Œuvre von Deniz Yücel, gelangt relativ rasch zu der Erkenntnis, dass dieser sich kaum auf die Rolle des „Türkei-Erklärers“ und „Türken vom Dienst“ beschränken lässt – auch wenn er in den vergangenen zwei Jahren für die „Welt“ aus der Türkei berichtet hat.

Journalist mit polemischem Talent

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Yücel hat, bevor er zur „Welt“ kam, schon für die „Jungle World“ und für die „taz“ über alles Mögliche geschrieben. Vor allem immer wieder über Deutschland. Was möglicherweise erklärt, weshalb er unter AKP-Anhängern ungefähr genauso viele Fans hat wie unter AfD-Sympathisanten.

Als engagierter, leidenschaftlicher Journalist mit ausgeprägtem polemischem Talent hat er gelegentlich auch seine eigene Herkunft (aus Flörsheim am Main, by the way) – und die Angriffe – thematisiert, denen man als Träger eines Nachnamens ausgesetzt ist, der nicht jedem Biodeutschen leicht über die Zunge geht.

Darüber zu schreiben wird so lange nötig sein, wie wir immer noch in einem Land leben, in dem viele bis heute nicht damit klarkommen, dass es hier Leute mit komischen Nachnamen gibt, die mit der deutschen Sprache mittlerweile besser umgehen können als Alteingesessene.

Der beste Türkei-Korrespondent

Deniz Yücel hat 2013 für die „taz“ über die Proteste der Gezipark-Bewegung in der Türkei berichtet, Anfang 2014 erschien sein Buch „Taksim ist überall“ in der Edition Nautilus. Es ist wahrscheinlich das beste Buch, das bislang über jene verratene Generation in der Türkei geschrieben wurde, die nichts anderes wollte als eine liberale, freie Gesellschaft.

Weil wir von diesen Texten begeistert waren, haben wir uns damals bemüht, Deniz Yücel für die „Welt“ zu gewinnen. Und wir sind bis heute sehr froh und stolz, dass es uns gelungen ist. Denn wir sind fest davon überzeugt, dass Deniz Yücel ist beste Türkei-Korrespondent wo gibt.

Nicht weil er zufällig neben dem deutschen auch noch einen türkischen Pass hat. Sondern weil er Deniz ist.

Halb gare Argumentation

Martens fragt in seinem Text, warum die „Welt“ „Deniz Yücel nicht nach Russland geschickt hat, damit er den Lesern Putin erklärt“.

Worauf wir bereitwillig antworten: Ging nicht. In Moskau sitzt schon Julia Smirnova für die „Welt“. Die eine exzellente Korrespondentin ist. Und nebenbei auch noch Russin. Aber sie sitzt nicht für uns in Moskau, weil sie Russin ist, sondern weil sie die beste denkbare Korrespondentin für Russland ist. So wie wir der Überzeugung sind, dass Deniz Yücel der bestmögliche Türkei-Korrespondent ist.

Wie wenig zu Ende gedacht Martens’ Kommentar ist, merkt der Leser daran, dass dem Autor am Ende selbst auffällt, dass seine halb gare Argumentation auf nichts weniger hinausläuft als auf ein Berufsverbot für deutsche Türkei-Korrespondenten mit türkischem Migrationshintergrund.

Er versucht dann noch beizudrehen, aber es ist schon zu spät. Seinen Text hat er schon vor die Wand gefahren. „Natürlich darf das nicht dazu führen, jemanden mit türkischen Wurzeln aus Prinzip nicht mehr über die Türkei schreiben zu lassen“, schreibt Martens und erklärt damit seinen eigenen Text für Unsinn.

Ja. Eben. Finden wir auch. Hätte man sich sparen können.

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