Berlin ist auch ein bisschen Hauptstadt der symbolischen Politik. Im Bild der Fernsehturm. (Bild: Alec Soth / Magnum)

Berlin ist auch ein bisschen Hauptstadt der symbolischen Politik. Im Bild der Fernsehturm. (Bild: Alec Soth / Magnum)

Bizarres aus Absurdistan

Vom «Anything goes» zum «Nichts geht mehr». Färbt Berlins rot-rot-grüne Befindlichkeit auf die deutsche Bundespolitik ab?

Stephan Russ-Mohl
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Im Rückblick hätte ich es mir einfacher machen können. Über ein paar Wochen hinweg tagtäglich die heftigste Schlagzeile notieren – das hätte vermutlich gereicht und vielleicht sogar ein präziseres Bild von dem vermittelt, was Deutsch-Absurdistan, was den Berliner Alltag ausmacht. Ein paar Beispiele der letzten Tage: Es fehlen demnächst in der Stadt zig Tausende Plätze für schulpflichtige Kinder. Schüler werden – vor allem an sozialen Brennpunkten – in zunehmender Zahl von Lehrkräften betreut, die selbst nicht zum Unterrichten ausgebildet wurden.

Oder: Die Notrufzentrale lässt einen neun Minuten in der Warteschleife hängen – und dann wird man nicht etwa durchgestellt, sondern die Verbindung reisst ab. Weiter: Ein Verkehrsberuhigungskonzept in Kreuzberg wird rückgängig gemacht, bei dem riesige Felsbrocken die Fahrbahn blockierten, ausserdem sogenannte Parklets aus Holz – unwirtliche Sitzecken auf der Strasse – die Kommunikation unter den Nachbarn stimulieren sollten (als gäbe es nicht an jeder Ecke eine Kneipe) und die verbleibende Strasse zur Verkehrsberuhigung mit Tausenden grünen Punkten verklebt worden war.

Und dann auch noch diese Schnapsidee: Die Reinigung der vermüllten Parks soll – frei nach Mark Twains Tom Sawyer, der seine Freunde den Zaun seiner Tante streichen liess – zu Events stilisiert werden, bei denen, so der gendergerechte O-Ton einer Bezirksverwaltung, «eine stärkere Verbindung zwischen Tourist*innen und Anwohner*innen» entsteht.

Nicht minder bizarr, mit welcher Wollust die politischen Parteien in Berlin Harakiri begehen: Politiker der Grünen haben allen Ernstes vorgeschlagen, auf dem Tempelhofer Feld – dem riesigen Gelände des früheren Flughafens Tempelhof – Marihuana anzubauen. Auch die CDU möchte in Zeiten grösster Wohnungsnot das Areal gewerblich nutzen – unter Missachtung einer Volksabstimmung, in der die Berliner das kostbare Grün noch nicht einmal zur Wohnungsrandbebauung freigeben wollten. Ausserdem demontierte die Partei übermütig die einzig vorzeigbare Politikerin, die sie in Berlin hat: Statt der Bundesbeauftragten für Kultur Monika Grütters verhalf sie einem Apparatschik zum Parteivorsitz – als wolle sie dem amtierenden Regierenden Bürgermeister Müller (SPD), dem derzeit unbeliebtesten Landesregierungschef Deutschlands, unbedingt eine zweite Chance geben.

Verlust des Erinnerungsvermögens

Quer durch die Parteien finden sich täglich neu Beispiele grotesker Realitätsverweigerung. Und obendrein wird offenbar fest mit dem Verlust des Erinnerungsvermögens der Wähler gerechnet. Derzeitiger Hit: ein Mietendeckel, der Wohnungssanierungen und freifinanzierten Wohnungsbau endgültig zum Erliegen bringen dürfte. Um das zu toppen, liebäugelt man im rot-rot-grünen Lager mit der Enteignung grosser Wohnungsunternehmen – als wäre es nicht ein sozialdemokratisch geführter Senat gewesen, der vor wenigen Jahren 50 000 Wohnungen auf dem öffentlichen Bestand zu Spottpreisen an die private Immobilienwirtschaft verscherbelte.

Das alles sind keine Aprilscherze, von der Nichteröffnung des Grossflughafens BER und nun auch des Humboldtforums im wiedererrichteten Stadtschloss gar nicht zu reden. Dass es all diese Aufreger tagein, tagaus gibt, dafür sorgen – im deutschen Sprachraum einmalig – der Wettbewerb von einem Dutzend Tages- und Wochenzeitungen, von mindestens ebenso vielen Hörfunksendern sowie das öffentlichrechtliche Regionalfernsehen. Jedenfalls gewährleistet die Berliner Medienvielfalt einen Überbieterwettbewerb – was im Blick auf weite Teile der Schweiz, aber auch auf viele andere deutsche Grossstädte die Frage aufwirft, wie langweilig das Leben in Ein-Zeitungs-Kreisen sein muss.

Nicht hinterfragte «Exzellenz»

Gute Nachrichten haben Seltenheitswert. Gelegentlich treffen sie unabweisbar dennoch ein – wie jüngst, als die drei grossen Berliner Universitäten im Verbund neuerlich zu «Exzellenzuniversitäten» erkoren wurden. Vor lauter Freudentaumel getraute sich dann kaum noch ein Journalist, in die Festsuppe zu spucken und etwa nach den Studienbedingungen an den angeblich so herausragenden Massen-Unis zu fragen. Dabei waren sie schon miserabel, bevor die Westberliner Hochschulen, besonders die Freie Universität, in den 1990er Jahren zugunsten des Wiederaufbaus der Humboldt-Uni kaputtgespart wurden.

Dramatisch zugenommen hat das Ausmass symbolischer Politik. Stellen werden für dritte und weitere Geschlechter ausgeschrieben, ebenso Toiletten für sie eingerichtet. Und die preussischen Generäle, nach denen Strassen seit Jahrzehnten benannt sind, sollen afrikanischen Freiheitskämpfern weichen. Auch den Hohenzollerndamm soll es nicht mehr geben, seitdem die Erben des Kaisers Restitutionsansprüche geltend machen und im Stadtschloss ein Wohnrecht reklamieren.

Für Kontinuität sorgt indes die Berliner Verwaltung: Sie ist einsamer Spitzenreiter in Deutschland – notorisch ineffektiv und aufgebläht. Das lässt sich nach 30 Jahren allerdings nicht mehr auf das Erbe der geteilten Stadt zurückführen, als aus unterschiedlichen Gründen diesseits wie jenseits der Mauer Bürokratien wucherten und sowohl der Ostberliner wie der Westberliner Sozialismus ihre Spuren hinterliessen. In Berlin kommen heute auf 1000 Einwohner 50 Verwaltungsmitarbeiter, in anderen Bundesländern sind es 43 (Sachsen-Anhalt) oder gar nur 37 Mitarbeiter (Schleswig-Holstein).

Inspiriert scheint der Berliner Politikbetrieb von Karl Lagerfeld. Dem kürzlich verstorbenen Modemacher wird ja der Tipp zugeschrieben, man solle das Geld zum Fenster hinauswerfen, damit es durch die Tür wieder hereinkomme. Was in der Modebranche funktioniert haben mag, klappt indes nur selten beim Umgang öffentlicher Bürokratien mit Steuergeldern.

Mitunter monatelanges Warten auf Godot gehört für Bürger, die etwa ein Auto anmelden wollen, zum Alltag. Vielen ergeht es im Dickicht der Bürokratie wie Karl Valentins Buchbinder Wanninger, soll heissen: Sie werden von einer Dienststelle zur anderen weitergereicht – und damit von einer Warteschleife zur nächsten. Zuletzt nimmt dann niemand mehr das Telefon ab. Ein solches Behördenopfer war kürzlich im Bezirk Lichtenberg unterwegs. Der Mann stiess auf das, was einem in der Berliner Verwaltung öfter begegnet: freundliche Inkompetenz. Wegen eines Reisepasses, so berichtete der «Tagesspiegel» in seinem Newsletter «Checkpoint», musste der tapfere Antragsteller drei Bürgerämter abklappern. Er traf dort, so versicherte er, ausnahmslos auf «sehr freundliche, zuvorkommende und wirklich hilfsbereite Mitarbeiter». Sogar die amtliche Meldung über sein unterdessen angeblich erfolgtes Ableben sei mit einer «Lebensbescheinigung» rückgängig gemacht worden – gegen eine Gebühr von 10 Euro.

Membran statt Käseglocke

Es heisst ja, es gebe eine Käseglocke, die den Politikbetrieb auf Bundesebene von Berlin und auch vom Rest der Republik abschirme. Das ist aber wohl nur die halbe Wahrheit: Wenn man schon mit Metaphern arbeitet, passt wohl besser das Bild von einer Membran, die erlaubt, dass Denk- und Verhaltensweisen von aussen ins Innere der Käseglocke dringen: «Innen» ist der GroKo-Politikbetrieb, «aussen» ist die Stadt, das Umland, der Lebensraum, in dem Politiker, Bürokraten, Lobbyisten und ihre Helfershelfer ihren Alltag und einen Grossteil ihrer freien Zeit verbringen: der Medienbetrieb, die Szene-Restaurants, das Verkehrschaos, der verwahrloste öffentliche Raum, die Parks, in denen gekifft und gedealt wird, die Kitas und Schulen im Niedergang.

All dies summiert sich zum «Anything goes», für das Berlin seit langem stand und das – vom Lebensgefühl her – tagtäglich in ein «Nichts geht mehr» umzukippen droht. Ein Biotop, das der Leipziger Kommunikationsforscher Christian P. Hoffmann so beschreibt: «Der Berliner Politiksumpf wäre ja amüsant, wenn er nicht durch den Rest der Republik finanziert würde. Dank einer massiven Subventionierung zementiert hier eine linke Regierung strukturell linke Mehrheiten: Grosse und zahlreiche öffentliche Institutionen, jede Menge Sozialtransfers, eine laxe Sicherheitspolitik, die Vermeidung von Unternehmensansiedelungen und privaten Investitionen plus die Förderung linker Vorfeldinstitutionen sind die Zauberformel, die nichtlinke Mehrheiten in Berlin auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte unmöglich macht.»

Und all dies färbt wohl auch ab auf die «grosse Politik», die eben eingebettet ist in einen grossstädtischen und dennoch kleinkarierten, jedenfalls sehr eigen-artigen Berliner rot-rot-grünen Mainstream. Dazu passt, was die Sprecherin des Senats abseits vom Tagesgeschäft vor nicht allzu langer Zeit sagte: Ihre Arbeit für die Stadtregierung erinnere sie häufig «an den Umgang mit den eigenen, lebhaften Kindern». Ein Sack Flöhe eben. Was den Senat anlangt, freilich Flöhe, die nicht allzu weit oder gar hoch springen. Umberto Eco, der ja auch Ehrendoktor der FU Berlin war, diagnostizierte schon vor Jahren eine «Infantilisierung der Politik». Damals dachten wir, er spräche von Italien, von Berlusconi und von leicht bekleideten TV-Sprecherinnen, die dort im Fernsehen die Nachrichten präsentierten. Jetzt wissen wir, dass er damit prophetisch wohl auch Deutschland und insbesondere seine Hauptstadt Berlin gemeint haben muss.

Korrigendum: In einer früheren Version dieses Artikels hiess es: «Ein Verkehrsberuhigungskonzept in Kreuzberg wird rückgängig gemacht, das unter anderem aus riesigen, die Fahrbahn blockierenden Felsbrocken, sogenannten Parklets, bestand, unwirtlichen Sitzecken, die mitten auf der Strasse die Kommunikation unter den Nachbarn stimulieren sollten.» Das ist falsch. Wir haben diesen Fehler korrigiert.

Stephan Russ-Mohl lebt nach seiner Emeritierung als Professor an der Università della Svizzera italiana wieder in Berlin. Russ-Mohl ist Mitbegründer des European Journalism Observatory.