Gesteinsartige Sedimente (hier beim Quarkziz-Krater in Algerien) archivieren die Erdgeschichte. (Bild: NASA)

Gesteinsartige Sedimente (hier beim Quarkziz-Krater in Algerien) archivieren die Erdgeschichte. (Bild: NASA)

Serie

«Wir kommen nicht zurück ins Holozän»

Nie zuvor hat eine einzelne Spezies das Erdsystem derart massiv und unumkehrbar verändert wie der Mensch. Ein internationales Expertenteam wird formal vorschlagen, ein neues Erdzeitalter auszurufen: das Anthropozän. Unser Wirken, so können die Forscher belegen, wird noch in Jahrtausenden in den Gesteinsschichten der Erde nachweisbar sein.

Anja Jardine
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Reiner Zufall, dass das Gespräch mit Reinhold Leinfelder, Paläontologe und Mitglied der Anthropozän-Arbeitsgruppe, in einer Berliner Konditorei stattfindet, die für ihren Baumkuchen stadtbekannt ist. Baumkuchen wird aus Sandteig schichtweise über offener Flamme gebacken; Stratigrafie ist in Sedimentschichten archivierte Erdgeschichte. Die Teildisziplin der Geologie versucht anhand des Gesteins zu erforschen, wie unser Planet zu dem wurde, was er ist. Im Gestein lösen Epochen einander nicht ab, sondern lagern sich oben drauf wie die neue Rinde eines Baumes. Schichtenkunde mit Baumkuchen.

 Reinhold Leinfelder Paläontologe an der Freien Universität Berlin. (Bild: PD)


Reinhold Leinfelder Paläontologe an der Freien Universität Berlin. (Bild: PD)

Herr Leinfelder, was genau tun Sie in der Anthropozän-Arbeitsgruppe?

Wir tragen Daten zusammen, die belegen, dass ein Epochenwechsel stattgefunden hat. 2009 hat die Stratigrafische Kommission der Weltgesellschaft der Geologen die Arbeitsgruppe beauftragt, Crutzens Hypothese zu überprüfen. Dazu bedurfte es eindeutiger geologischer Signaturen, die haben wir gefunden. Auf einem Kongress in Kapstadt 2016 gab es eine erste Abstimmung, bei der sich eine grosse Mehrheit der Mitglieder für das Anthropozän ausgesprochen hat. Nun müssen wir noch das Referenzprofil identifizieren, den sogenannten Golden Spike, der den Fusspunkt eines neuen Zeitalters markiert.

Wo ist der Golden Spike, der den Anfang des Holozäns kennzeichnet?

In diesem Fall dient ein Bohrkern aus dem Eis Grönlands als Referenzprofil. Der Anfang des Holozäns wurde auf 11 700 Jahre vor dem Jahr 2000 datiert; es begann mit dem Abschmelzen der grossen Eiszeitgletscher. Der Mensch ist zwar nicht im Holozän erschienen, wie Max Frisch geschrieben hat, sondern bereits im Pleistozän, das vor 2,6 Millionen Jahren begann, doch sind wir erst im Holozän zur Hochform aufgelaufen. Es brachte eine Stabilisierung des Erdklimas, in der die Temperatur im globalen Durchschnitt seit 8000 Jahren maximal um 1 Grad Celsius schwankte. Nur deshalb konnten wir sesshaft werden und Ackerbau und Viehzucht betreiben. Die neolithische Revolution hätte es ohne ein relativ mildes Klima mit verlässlicher Saisonalität nicht gegeben.

Und damit ist es nun vorbei?

Der Mensch hat das Klima bereits verändert: Einen beachtlichen Teil des Kohlendioxids, das die Erde in mehr als 400 Millionen Jahren weggepackt hatte – also in Kohle, Erdöl und Erdgas gespeichert –, haben wir jetzt quasi auf einen Schlag herausgeholt und in gut 200 Jahren verfeuert. Der anthropogene Stickoxid- und Schwefeldioxid-Ausstoss übersteigt natürliche Quellen. Durch Erhöhung der CO2- und der Methan-Konzentration in der Atmosphäre ändern wir den Meeresspiegel, den Säuregehalt der Ozeane, die Temperatur von Luft und Wasser. Selbst wenn wir morgen keine fossilen Brennstoffe mehr verbrennen, werden Klimawandel und Versauerung weitergehen, da bereits zu viel CO2 in der Atmosphäre ist und dort lange wirkt. Dann allerdings wird die Kurve irgendwann abflachen; umso wichtiger ist es also, den Ausstieg aus fossilen Energien möglichst rasch hinzubekommen. Auch rein physisch haben wir die Erde umgestaltet: 77 Prozent des eisfreien Festlandes sind keine Urnatur mehr. Wir tragen ganze Berge ab, schneiden Flusstäler in die Landschaft, begradigen Flüsse, kontrollieren den Wasserkreislauf, erschaffen Hunderttausende neuer Stauseen. Wir verursachen Erosionsprozesse, die natürliche Materialverlagerungen um ein Vielfaches übersteigen. Die Deltas schrumpfen, da wir ihnen das Sediment wegnehmen. Ein Drittel der Korallen gilt als verloren, ein Drittel als geschädigt. 60 bis 80 Prozent der kommerziell genutzten Fische sind bis an die Grenze gefischt beziehungsweise überfischt. Die Zerstörung von Habitaten an Land und in den Gewässern bedeutet den Verlust von Biodiversität. Wir rotten Tausende von Tieren und Pflanzen aus. Nutztiere halten wir in überproportionalen Zahlen, wir breiten Tausende gebietsfremder Arten aktiv auf anderen Kontinenten aus. Wir haben das ganze Spektrum von Organismen verändert.

Was genau wird sich in den Sedimenten zeigen?

Wir nennen es Technofossilien: Betonfragmente, Ziegelfragmente, elementares Aluminium und vor allem Plastikmüll. Die schiere Menge dieser Materialien, die wir für den Bau unserer Städte und Infrastrukturen verwendet haben, ist gigantisch: 30 Billionen Tonnen, also 10 hoch 13. Wenn man das umrechnet, kommen auf jeden lebenden Menschen 4000 Tonnen Technomaterial. Wenn wir alles einebnen würden, bliebe in jeder Stadt im Schnitt eine Zwei-Meter-Schicht an Sedimenten; wir erschaffen also neuartige Sedimente. Zudem produzieren wir neue Mineralien sowie neuartige radioaktive Isotope und Elemente, die sich in Gesteinsschichten ablagern. Wir bringen aber auch natürliche Rohstoffe wie zum Beispiel Phosphor oder Coltan in riesigen Mengen aus den Förderregionen in weit entfernte Konsumgebiete, verlagern also geologische Materie in grossem Stil. In Eiskernen finden sich Signale zum CO2-Gehalt in der Atmosphäre sowie radioaktive Niederschläge aus den Atombombenversuchen der fünfziger und sechziger Jahre. Flugasche, also Feinstaub aus industriellen Verbrennungsprozessen, wird überall gefunden werden – von der Antarktis bis zur Arktis.

Künftige Ablagerungen werden Unmengen an Plastik enthalten (im Bild ein verendeter Albatros). (Bild: Dan Clark / AP)

Künftige Ablagerungen werden Unmengen an Plastik enthalten (im Bild ein verendeter Albatros). (Bild: Dan Clark / AP)

Wann ist uns aufgefallen, dass wir der Natur ins Handwerk pfuschen?

Antonio Stoppani, ein italienischer Geologe, sprach bereits 1873 von einer «anthropozoischen Ära»: Er sah im Menschen eine neue tellurische – also im Erdinnern wirkende – Kraft, die es mit den grossen Kräften der Erde aufnehmen konnte. Präziser noch fasste es der Russe Wladimir Wernadski 1926. Er sah voraus, dass die Gehirnkapazität des Menschen, ihr vernetztes Denkvermögen eine immer wichtigere Rolle für die Biochemie der Erde spielen würde. Wernadski und andere prägten den Begriff der «Noosphäre», der Sphäre des Wissens. Aber erst als Paul Crutzen 2000 auf einer Konferenz in Mexiko das Wort «Anthropozän» in die Runde warf, fand die Idee menschlicher Einflussnahme grosse Resonanz. Der Begriff ist aus dem Altgriechischen abgeleitet und bedeutet in der Sprache der Geologen «das Menschenneue».

Wann hat das Anthropozän begonnen?

Darüber wird noch immer diskutiert. In der Arbeitsgruppe sind wir nach intensiver Prüfung zahlreicher wissenschaftlicher Belege zu der Ansicht gelangt, dass erstmals die Spuren der sogenannten grossen Beschleunigung nach dem Zweiten Weltkrieg die Kriterien für einen Epochenwechsel erfüllen. In nur zwei Generationen wuchsen die Weltwirtschaft, der Energieumsatz und der Kohlendioxidausstoss exponentiell.

Der Einfluss des Menschen nimmt rasant zu

Die Auswirkungen des menschlichen Tuns auf den Planeten haben seit 1950 massiv zugenommen. Das Phänomen ist in der Wissenschaft als The Great Acceleration bekannt.

Das ist relativ spät, oder nicht?

Manche Wissenschafter sehen den Anfang in der Frühphase der Industrialisierung, weil damit die Emissionen fossiler Brennstoffe bereits anstiegen; das war auch Paul Crutzens erster Ansatz. Aber man muss zwischen Ursachen und Ausmass der Wirkungen unterscheiden. Die Veränderungen müssen global und synchron in den Sedimenten nachweisbar sein. 1950 haben wir weltweit 1,5 Millionen Tonnen Plastik pro Jahr produziert, jetzt sind es 325 Millionen Tonnen. Beton gab es schon bei den Römern, doch 50 Prozent allen Betons haben wir seit 1995 produziert. Produkte aus elementarem Aluminium kennt man auch schon seit dem 19. Jahrhundert, aber 98 Prozent haben wir seit 1950 hergestellt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind solche Geosignale also weltweit in den Sedimenten zu finden.

Gibt es grundsätzliche Kritik an der Idee des Anthropozäns?

Ja, es gibt Wissenschafter, die gegen eine Anerkennung sind. Sie führen – aus unserer Sicht zu Unrecht – als Argumente an, dass die vom Menschen verursachten Änderungen noch lange nicht mit anderen geologischen Prozessen mithalten könnten. Andere kritisieren, die Menschheit insgesamt als Verursacher zu benennen, weil nur ein geringer Teil für Wirtschaftswachstum, CO2-Emissionen und so weiter verantwortlich sei. Einzelne sehen allein den Kapitalismus in der Verantwortung. Aber die Kritik konnte sich nicht durchsetzen; auch nichtwestliche Länder verursachen gewaltige Mengen an entsprechenden Geosignalen.

Wie geht das Prozedere weiter?

In absehbarer Zeit wird die Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigrafie einen endgültigen Vorschlag vorlegen. Zuletzt wird die International Union of Geological Sciences darüber abstimmen, ob die Erde das Holozän verlassen hat und in das Anthropozän eingetreten ist.

Wird das Anthropozän zwangsläufig zum sechsten Massenaussterben führen, wie manche Wissenschafter behaupten?

Das lässt sich nicht vorhersagen. Aber wir haben eine extrem beschleunigte Aussterberate. Noch könnten wir es aufhalten, vorausgesetzt, wir stoppten unverzüglich den CO2-Ausstoss und gestalteten Natur- und Kulturlebensräume entsprechend. Aber das Gegenteil ist der Fall, der CO2-Ausstoss steigt noch immer. Unter den Arten vollzieht sich zurzeit eine globale Homogenisierung, da nur bestimmte Organismen in vielen unterschiedlichen Räumen überleben können. Ratten und Kakerlaken etwa sind bekanntermassen besonders anpassungsfähig. Beunruhigend ist nicht nur der Verlust an Artenvielfalt, sondern auch der Verlust von Ökosystem-Dienstleistungen: Korallenriffe zum Beispiel sind nicht nur Kinderstube für zahlreiche Fischarten, sie bieten auch hervorragenden Küstenschutz; sie können bis zu 95 Prozent der Wellenenergie aufnehmen. Ausserdem sind es «blaue Apotheken», die natürliche Antibiotika bergen, potenziell sogar Mittel gegen Krebs und Aids.

Was waren die Ursachen anderer grosser Massenaussterben in der Erdgeschichte?

Am Ende des Perms, als 90 Prozent aller Spezies auf der Erde ausgelöscht wurden, war es auch ein Klimawandel. Ursache war ein über mehrere hunderttausend Jahre andauernder massiver Ausstoss von Kohlendioxid in die Luft durch gigantische Vulkanausbrüche im heutigen Sibirien. Die Temperaturen stiegen stark an, die Meere erwärmten sich um bis zu 10 Grad, das Wasser versauerte, Organismen erstickten, Riffe kollabierten. Massenaussterben sind im fossilen Datenmaterial so auffallend. Das Mesozoikum, das Erdmittelalter, endete vor 66 Millionen Jahren mit einem Asteroid-Einschlag, damals verschwanden nicht nur die Dinosaurier, sondern mit ihnen viele andere Arten.

Welche Rolle spielt es, ob wir unser Zeitalter Holozän oder Anthropozän nennen?

Selbst wenn der Vorschlag letztlich abgelehnt würde, was aufgrund der Datenlage unwahrscheinlich ist: Das Anthropozän ist eine geologische Tatsache, allein der Begriff hätte bereits einiges bewirkt. Denn er ist nicht nur in Fachkreisen auf Resonanz gestossen, sondern auch in Öffentlichkeit und Gesellschaft. Die Idee verlangt ein fundamentales Umdenken: Bis anhin unterscheiden wir zwei Formen von Geschichte. Die eine handelt von der kulturellen Evolution, von Herrschern, Kriegen, Völkerwanderungen, aber auch von genialen Erfindungen wie der Dampfmaschine oder neuen Errungenschaften in der Medizin. Die andere handelt von der Evolution von Tieren und Pflanzen, Gebirgsbildung und so weiter. Die Anthropozän-Idee besagt nun: Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte sind eins geworden. Wir sind eine Naturgewalt. Daraus resultiert Verantwortung. Aber die kulturelle Evolution hat uns ja gut ausgestattet. Wir können reflektieren, lernen, nach vorne schauen. Wenn das Anthropozän ausgerufen wird, markiert es nur den Anfang einer Epoche, nicht ihr Ende. Das ist es ja eben: Es liegt an uns, ob das Anthropozän zu neuen Verteilungskämpfen, Kriegen und Umweltkatastrophen unvorstellbaren Ausmasses führt oder in eine neue Ära der Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Zukunftsfähigkeit.

Am nächsten Freitag: Der Mensch holt sich die Schätze aus der Tiefsee. Die letzte Landnahme läuft anders als alle bisherigen.

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