Gastkommentar

Was noch kommt, ist bereits geschehen – wir verlieren unsere Sprache für die Zukunft

Die Dinge unseres Lebens werden uns im allumfassenden Präsenzraum digitaler Simulationen laufend vorweg dargeboten – mit Bildern, Gefühlen und den Beziehungsdramen der wahrhaft grossen Liebe. Kein Wunder, blicken wir auf die Zukunft als etwas quasi bereits Gewesenes voraus.

Peter Strasser
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Es eilt die Zeit, wir eilen mit. Es scheint, als hätten wir unser Leben, das erst zu leben sein wird, bereits durchquert. (Bild: bna.)

Es eilt die Zeit, wir eilen mit. Es scheint, als hätten wir unser Leben, das erst zu leben sein wird, bereits durchquert. (Bild: bna.)

Als ich jung war, gab es in den anspruchsvolleren Zeitschriften und Zeitungen periodisch eine Institution, die unter dem Signaltitel «Achtung, Sprachpolizei!» operierte. Dahinter steckte meist ein grammatisch hoch ambitionierter Journalist oder eine eigens zum sprachpolizeilichen Zweck engagierte Germanistin, namentlich aus dem Kreis der humanistischen Gymnasien.

Derart lockerer Sprüche wie jenes, wonach «der Dativ dem Genitiv sein Tod» sei, hätte man sich zwar enthalten. Aber der darin zum Ausdruck kommende Geist ist immerhin der richtige. Denn schon vor Jahrzehnten konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die modernen Zeiten mit einem Verlust des feineren Rechtschreib-, Formulierungs- und überhaupt Rhetorikvermögens einhergingen – einem Verlust, der nur dort enden konnte, wo Oswald Spengler bereits 1914 die faustische Seele den Sprachatem aushauchen sah, samt ihrem Drang zur schier unendlichen Vervollkommnung: beim Untergang des Abendlandes.

Wenigstens das Präsens

Man müsse froh sein, klagen die Gebildeten unter uns, die ein Ohr für die Feinheiten des deutschen Sprachwesens haben, wenn die Absolventinnen und Absolventen des Pflichtschulbetriebs den Indikativ Präsens einigermassen fehlerfrei beherrschten. Mehr und mehr lebe man in der Gegenwart der Internetkürzel und Emoticons, während alles Weitere dem akademischen Niveau vorbehalten bleibe.

Wir machen weiter, als ob Selbstverwirklichung möglich wäre wie eh und je.

Doch ach – klagen die Erben der Sprachpolizei von ehedem –, zugleich versimpelt das Innenleben derer, die nach dem bibelelektronischen Motto verfahren: «Deine Rede sei Like, Dislike!» Was waren das für üppige seelische Zustände, die sich in Sätzen widerspiegelten, welche den Conjunctivus irrealis bemühten, um einen plusquamperfekten Sachverhalt zu artikulieren!

«Wärest du meiner Liebe würdig gewesen, du hättest dich nicht, bevor wir unsere ersten, unschuldigen Küsse tauschten, bereits mit dem Schmutz der Dirnen besudelt gehabt.» So klagt die Heldin in einem der romantischen Romane einer heute, im Zeitalter von «Fifty Shades of Grey», betulich wirkenden Autorin von Damenliteratur, deren Name hier ungenannt bleiben soll. (Der Held litt an Syphilis.)

Doch, wie es bei Wilhelm Busch heisst, es eilt die Zeit, wir eilen mit. Und da stellt sich nun ein Phänomen ein, welches eine neue, bisher unbekannte Entfremdung mit sich bringt. Im postmodernen Furor des Verschwindens von allem, was gerade noch war, nimmt das Schalten und Walten des Einzelnen zusehends ein temporales Gepräge an, das ich, indem ich das Deutsche ein wenig strapaziere, als die «Existenzialquadratur der Vorzukünftigkeit» bezeichnen möchte.

Wollte beispielsweise der Gegenwartsmensch von heute über die Liebe seines Lebens mit hinreichender Präzision reden, dann müsste er sich des irreal konjunktivierten Futurum exactum bedienen. Welch eine Ironie im Universum der Halbanalphabeten: Was ist, ist so, als ob es schon gewesen sein wird – nein, gewesen sein würde . . .! Die neueste Entfremdung von uns selbst besteht darin, dass wir sprachlich nicht mehr zu unserer Existenzform durchzudringen vermögen.

Existenzielles Déjà-vu

Es handelt sich nicht mehr um die sehnsüchtige, ängstliche, erwartungsvolle Vorwegnahme einer Liebeszukunft, deren vorerst unerreichbare Nähe das gefühlte Geheimnis unseres Lebens bergen mag. Während wir die Liebe finden, leben wir zugleich im allumfassenden Präsenzraum digitaler Simulationen, die uns laufend mit Bildern, Gefühlen und den Beziehungsdramen der wahrhaft grossen Liebe ausstaffieren. Deshalb ist uns schon beim ersten, zarten Kuss vorzukünftig zumute: Was noch kommen wird, ist bereits durch uns hindurchgegangen.

Wir blicken auf die Zukunft als etwas quasi bereits Gewesenes zurück – und haben im Cyberspace schon virtuell gelitten, gehasst, geliebt, bevor wir noch dahin gelangten, wo all das hätte wirklich und wahrhaftig der Fall sein können. Aber wir, Kinder des Internets, sind ausserstande, unsere Situation in ein paar Twitterkürzel zu bannen.

Während wir uns sagen: «Ich beginne mir mein Leben nach meinem Gusto auf- und auszubauen, mit Liebe, Häuschen, Kindern und Haustieren», haben wir das regelrecht metaphysische Empfinden eines existenziellen Déjà-vu. Es ist, als hätten wir unser Leben, das erst zu leben sein wird, bereits durchquert: als das Leben, das gelebt worden sein würde, wäre es bloss gelebt worden.

Und so gerät es womöglich zur Wohltat, dass unsere Art der Entfremdung sich unserem Sprachvermögen grossenteils entzieht. Wir machen weiter, als ob Selbstverwirklichung möglich wäre wie eh und je, als ob das Kommende gleich einem offenen Feld, einem schillernden Versprechen vor uns läge.

Indem wir, Argonauten des World Wide Web, mehr und mehr in unserer Vorzukunft leben, hampeln wir durch eine Gegenwart auf eine Zukunft zu, die flach ist wie das Emoji für «Oops!». Ist es eine Komödie, ist es eine Tragödie? Wohl ein bisschen von beidem.

Peter Strasser ist Universitätsprofessor i. R. Er lehrt an der Karl-Franzens-Universität Graz Philosophie. Letzte Buchpublikation: «Die ganze Wahrheit. Aufklärung über ein Paradoxon». Schwabe-Verlag, Basel 2019.