Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Polen noch Juden verfolgt: Eine Frau trauert um ihren Mann, der am 4. Juli 1946 beim Pogrom von Kielce getötet wurde. (Bild: AP Photo)

Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Polen noch Juden verfolgt: Eine Frau trauert um ihren Mann, der am 4. Juli 1946 beim Pogrom von Kielce getötet wurde. (Bild: AP Photo)

Ermordeten die Polen im Zweiten Weltkrieg 200 000 Juden oder waren es nur Einzelfälle? Um diese Frage tobt ein internationaler Streit – und der polnische Botschafter in Bern ist mittendrin

Auch achtzig Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs tobt ein internationaler Streit über die Frage, wer wie viel Verantwortung für die Vernichtung der Juden trägt. Mittendrin: der polnische Botschafter in der Schweiz, Jakub Kumoch.

Lucien Scherrer
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Am Eingang des Berner Botschaftsviertels hält ein Polizist mit Maschinenpistole stumm Wache, aus dem italienischen Konsulat dringt Gelächter. Ein paar Schritte weiter, an der Elfenstrasse Nummer 20, geht es gerade etwas ernster zu und her. Hier, in dieser alten Villa mit Kachelofen und holzgetäfelten Räumen, residiert der polnische Botschafter Jakub Kumoch; ein grossgewachsener Mann, der immer für einen Scherz zu haben ist, bei gewissen Themen aber ziemlich unangenehm werden kann. Zumindest, wenn es um Polen und den Zweiten Weltkrieg geht.

Jakub Kumoch, seit 2016 polnischer Botschafter in der Schweiz. (Bild: Jacek Proszyk / CC BY-SA 4.0)

Jakub Kumoch, seit 2016 polnischer Botschafter in der Schweiz. (Bild: Jacek Proszyk / CC BY-SA 4.0)

«Polen war das erste Land, das sich Hitler widersetzte und Millionen Bürger verloren hat», sagt er, «wenn ich sehe, wie versucht wird, uns als Tätervolk hinzustellen, wird mir übel.» Kumoch, da macht er kein Hehl daraus, geht es auch um das Ansehen jener Nation, die er seit 2016 in Bern vertritt. Und wo immer er dieses Ansehen beschmutzt sieht, greift der 43-Jährige an: auf Twitter und Facebook, in polnischen Medien oder beim Schweizer Presserat, wo er unter anderem schon gegen die NZZ geklagt hat, weil man ihm angeblich zu wenig Gehör schenkte.

«Grauenvolle Zahl»

Jüngst galt sein Furor einem Interview mit dem Historiker Yehuda Bauer. Der hatte der nationalkonservativen polnischen Regierung in der NZZ vorgeworfen, die Geschichte des Holocaust zu verdrehen: «Die Deutschen ermordeten drei Millionen polnische Juden, aber es wurden auch zwischen 150 000 und 200 000 Juden von Polen ermordet. Das wird von der polnischen Regierung geleugnet.» Eben diese Zahlen sind es, die manche Polen in Rage versetzen. Kumoch drückt es so aus: «Für diese grauenvolle Zahl gibt es keinerlei Beweise. Und sie vergiftet die polnisch-jüdischen Beziehungen.» Natürlich habe es in Polen Kollaboration gegeben, wie in anderen besetzten Ländern auch. Dies jedoch in einem «geringeren Ausmass».

Sicher ist: Im Gegensatz zu Frankreich oder Ungarn hat in Polen nie eine Regierung mit den Nazis kooperiert, und es gibt kaum eine Bevölkerung, die im Zweiten Weltkrieg derart gelitten hat wie die polnische. Nachdem Hitler und Stalin den osteuropäischen Staat 1939 unter sich aufgeteilt hatten, wüteten die Deutschen (und in geringerem Masse auch die Sowjets) derart brutal, dass ein Fünftel der Gesamtbevölkerung getötet wurde. Von den 3,3 Millionen Juden überlebten bloss einige zehntausend, die meisten wurden von den Nazis erschossen oder in Vernichtungslagern vergast. Zum polnischen Nationalbewusstsein gehört denn auch bis heute ein starker Opfer- und Heldenmythos, zumal allein in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem über 6000 polnische Bürger geehrt werden, weil sie unter Todesgefahr Juden versteckten oder ihnen zur Flucht verhalfen.

Einzelfälle oder Massenphänomen? Begräbnis der Opfer von Kielce. (Bild: AP Photo)

Einzelfälle oder Massenphänomen? Begräbnis der Opfer von Kielce. (Bild: AP Photo)

Auch die polnische Botschaft in Bern, darauf verweist Ambassador Kumoch stolz, spielte im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle. Hier berichtete der aus Polen geflohene Spion Napoleon Segieda 1942 erstmals von Gaskammern in bisher so unbekannten Orten wie Auschwitz, Sobibor und Belzec. Und hier kam der polnische Gesandte Aleksander Lados auf die Idee, Tausende gefälschte paraguayische Pässe für todgeweihte Juden ausstellen zu lassen.

Ebenso verbürgt ist allerdings auch, dass es in Polen bereits vor dem Einmarsch der Deutschen einen aggressiven, von der einflussreichen katholischen Kirche geschürten Antisemitismus gab. Auch während der deutschen Besetzung beteiligten sich polnische Bürger und Soldatentrupps an Pogromen und Verfolgungen, aus Angst vor den Deutschen, aber auch aus Habgier und anderen niedrigen Beweggründen. Selbst nach dem Krieg waren Holocaustüberlebende nicht sicher: 1946 wurden allein in Kielce 41 Menschen bei einem antisemitischen Pogrom getötet.

«Sieg Heil»-Rufe gegen kritische Historiker

Um die Frage, ob es dabei um bedauerliche «Einzelfälle» (so sieht es unter anderem die polnische Regierung) oder um ein Massenphänomen ging (so sehen es Historiker wie Yehuda Bauer), tobt in Polen seit längerem ein gehässiger Streit. Von Anhängern der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regelmässig angeheizt, strahlt die Debatte mittlerweile auch in Länder wie Israel, Deutschland, Frankreich oder eben die Schweiz aus.

Der Ton in der Debatte ist rau bis brutal, unpässliche Nazi-Vergleiche auf beiden Seiten sind schnell zur Hand. Konservative polnische Zeitungen decken unliebsame Forscher mit höhnischen «Sieg Heil!»-Rufen ein, das katholische Radio Maria warnt unterschwellig vor dem geldgierigen Juden, und die nationalkonservative polnische Regierung wollte letztes Jahr gar ein Gesetz erlassen, das die Medienberichterstattung und die unabhängige Forschung in Sachen Holocaust und Kollaboration zum Teil kriminalisiert hätte.

Der Präsident der Pariser Elitehochschule EHESS sah sich vor einigen Monaten gar genötigt, dem polnischen Botschafter in Frankreich eine Protestnote zu schicken – die Veranstalter einer Konferenz über die Shoah, so heisst es darin, seien von polnischer Seite massiv unter Druck gesetzt worden, dazu hätten rund dreissig «Individuen» als Störefriede gewirkt. Zu den Teilnehmern der Konferenz gehörte unter anderem der polnisch-kanadische Historiker Jan Grabowski, der wegen seiner Holocaustarbeiten in Polen immer wieder heftigst angefeindet wird.

So weist er in seinem jüngsten Werk «Dalej jest Noc» zusammen mit anderen Historikern akribisch nach, dass polnische Bürger in neun untersuchten Distrikten Tausende Juden bei den Nazis denunzierten oder gar eigenhändig ermordeten. Sein Fazit: «Das war eine schrecklich blutige Sache», und: «Die Schätzung, dass insgesamt 150 000 bis 200 000 Juden von Polen ermordet wurden, ist sehr, sehr konservativ.»

«Welle des Hasses»

Was Historikern wie ihm widerfährt, beschreibt Grabowski als «Welle des Hasses»: «Wenn man sagt, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung an Judenmorden beteiligt war, berührt das den Kern des polnischen Nationalbewusstseins, deshalb die pubertären und idiotischen Reaktionen.» Zu diesen «Pubertären» zählt der Professor auch Botschafter Jakub Kumoch, denn dieser echauffierte sich ebenfalls über die Veranstaltung in Paris, auf Twitter und mit einer Intervention gegen einen kritischen Bericht in der NZZ. Während Kumoch in Polen von konservativen Politikern und Zeitungen oft zitiert wird, gilt er in hiesigen Diplomaten- und Politikerkreisen als Scharfmacher im Dienste der PiS-Regierung, der möglicherweise selber politische Ambitionen hegt.

Schweizer Parlamentarier beschreiben ihn als «eigenwillig», «undiplomatisch» oder «eher ungewöhnlich, um es einmal vorsichtig auszudrücken». «Dass ein Botschafter ständig bei der Presse interveniert, ist speziell», sagt FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann, «ein Abgesandter sollte sich an die hiesigen Gepflogenheiten halten, und dazu gehört die Respektierung der Meinungsfreiheit.» SP-Ständerat Claude Janiak, der als Vizepräsident der Gruppe Schweiz-Polen fungiert, drückt es ähnlich aus: «Ich frage mich schon, ob es zu seinen Aufgaben gehört, in der Schweiz einen innenpolitischen polnischen Streit zu schüren.»

«Ich bin doch kein Politiker!»

Kumoch selber versichert, ihm gehe es nicht um die Holocaustforschung an sich, sondern um bestimmte Behauptungen. Gerade Jan Grabowski habe Journalisten mit seiner «erfundenen Zahl» von angeblich 200 000 durch Polen ermordeten Juden jahrelang «in die Irre geführt». Tatsächlich basiert die Schätzung auf der Annahme, dass Juden, die sich vor den Nazis verstecken oder aus Ghettos und Konzentrationslagern flüchten konnten, in grosser Mehrheit von polnischen Nachbarn und Kollaborateuren getötet wurden.

Das jedoch bezweifeln nicht nur polnische Nationalisten, sondern auch ideologisch unverdächtige Wissenschafter. So schreibt der englische Historiker Stanley Bill in einer sonst sehr wohlwollenden Rezension von «Dalej jest Noc», es gebe derzeit schlicht zu wenig Belege für derart pauschale Urteile. Bill hegt gar den Verdacht, dass sich Grabowski und andere Historiker zu «unpräzisen, polemischen und emotionalen Äusserungen» hinreissen liessen – als Reaktion auf die «dauernden Aggressionen der gegenwärtigen polnischen Regierung».

Dieser liegt in der derzeitigen Situation viel daran, die unangenehmen Seiten der polnischen Geschichte mit alten und neuen Heldengeschichten zu übertünchen. Hilfe bekommt sie dabei auch aus Bern, denn eine dieser Geschichten hat Botschafter Kumoch aufgearbeitet. So hat er zusammen mit anderen Diplomaten und Historikern über 3300 Namen von Juden zusammengetragen, die im Zweiten Weltkrieg dank gefälschten Pässen aus der polnischen Gesandtschaft in Bern überlebten. Die Forschungsarbeit will er im November veröffentlichen.

Die Frage, ob er politische Ambitionen hege, weist Kumoch mit viel Sarkasmus zurück («Ich bin doch kein Politiker!»), erklärt aber offen, dass seine vierjährige Mission in der Schweiz «höchstwahrscheinlich» bereits nächstes Jahr beendet sei. Bis dahin wird man wohl noch einiges von ihm hören. Auf seine jüngste Klage wegen des NZZ-Interviews mit Yehuda Bauer ist der schweizerische Presserat übrigens gar nicht erst eingetreten: Der Kläger, so schreibt das Gremium, sei von dem Artikel gar nicht persönlich betroffen.