Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den Briten konstruktive Verhandlungen beim Austritt aus der Europäischen Union zugesichert. Zugleich warnte sie die Regierung in London vor unrealistischen Erwartungen an den Verhandlungsprozess. Sie habe das Gefühl, dass sich einige in Großbritannien noch Illusionen machen, sagte Merkel während einer Regierungserklärung im Bundestag (Livestream). Das aber wäre vertane Zeit. Ein Abkommen über den Austritt könne die EU erst schließen, "wenn alle Austrittsfragen zufriedenstellend geklärt sind". Daher müsse Großbritannien schnell darlegen, wie es sich die Beziehungen zur EU künftig vorstellt. "Auf dieser Reihenfolge werden wir bestehen", sagte Merkel. Schon jetzt über Details zu Verhandeln, habe keine Sinn.


Die Verhandlungen können insbesondere erst nach der für den 8. Juni geplanten Unterhauswahl in Großbritannien Tempo aufnehmen. Am Samstag werde der EU-Gipfel Leitlinien dafür verabschieden, sagte Merkel. Ratspräsident Donald Tusk habe dafür Vorschläge gemacht. Sie rechne mit einer konsequenten einheitlichen Haltung der verbleibenden EU-Mitglieder, sagte die Kanzlerin. Es gebe im Kreis der 27 und der EU-Institutionen mittlerweile ein "großes Einvernehmen über unsere gemeinsame Verhandlungslinie gegenüber Großbritannien".

Merkel verwies auf bereits formulierte Bedingungen: Am Ende müsse ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten beider Seiten stehen. Sollte Großbritannien dazu bereit sein, stehe einem gegenseitigen guten Verhältnis nichts im Wege. Sie sei an einem starken und prosperierenden Großbritannien interessiert, sagte Merkel.

Für die Verhandlungen formulierte sie mehrere Kernanliegen:

  • Die Interessen der Deutschen müssten gewahrt werden. Dazu zähle etwa der künftige Aufenthaltsstatus der etwa 100.000 Deutschen, die in Großbritannien leben. Diese seien in Sorge wegen "einer ungewissen Zukunft". Die Sorgen beträfen viele Bevölkerungsgruppen, Studierende wie ausgewanderte Senioren gleichermaßen. "Wir werden alles dafür tun, dass die Negativauswirkungen so gering wie möglich bleiben", sagte Merkel.
  • Zudem gelte es, Schaden von der Europäischen Union abzuwenden. Unternehmen bräuchten Rechtssicherheit für ihre Geschäfte, sagte sie. Auch dies bedürfe neuer beidseitiger Vereinbarungen. Ebenso der Kampf gegen den Terrorismus.

Sie erwarte "sehr komplexe Verhandlungen", dem nicht nur der Europäische Rat, sondern auch das Parlament zustimmen sollen. Beide Seiten stünden vor der Aufgabe, die entstandenen Verbindungen "Stück für Stück" zu entflechten.   

Merkel äußert sich zu Yücel

Zu Beginn ihrer knapp halbstündigen Erklärung sprach Merkel über die Türkei, deren Wähler knapp für die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eingebrachte Verfassungsreform gestimmt hatten. Deutschland respektiere das Recht der Türken, bei dem Referendum frei abzustimmen. Die türkische Regierung müsse sich jedoch am Bericht der OSZE messen lassen. 

Es sei mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar, wenn eine Exekutive Grundrechte einschränke und Menschen vorverurteile, "wie das etwa mit (dem inhaftierten deutschtürkischen Journalisten) Deniz Yücel geschehen ist", sagte sie unter Applaus der Abgeordneten. Das gelte insbesondere für die Türkei als Mitglied des Europarates und als Beitrittskandidat der  Europäischen Union.

Widerstand der SPD

SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann ging in seiner anschließenden Rede auf die Forderungen ein, die Beitrittsgespräche mit der Türkei zu beenden, wie sie etwa von der Spitze der EVP-Fraktion im europäischen Parlament kommen, die ein CSU-Politiker innehat. "Ich kann mich da nur wundern", sagte Oppermann, "denn das ist doch genau das, worauf Erdoğan wartet, dass er die Schuld für den Abbruch den Europäern in die Schuhe schieben kann." Bei der Einführung der Todesstrafe seien die Verhandlungen dagegen automatisch beendet. Doch das müsse man Erdogan überlassen, sagte er.

Oppermann stellte auch die Forderungen nach einem Entzug der doppelten Staatsbürgerschaft für in Deutschland lebende Türken infrage. Sie war im Zusammenhang mit dem Referendum aufgekommen. Man dürfe insbesondere junge Deutschtürken nicht für das Verhalten ihrer Eltern und Großeltern bestrafen, sagte Oppermann. Eine Rückkehr zur Optionspflicht – nach der sich Deutschtürken ab einem bestimmten Alter für einen Pass entscheiden müssen – werde auf entschiedenen Widerstand seiner Fraktion stoßen.

Probleme anpacken

In der weiteren Aussprache äußerten Redner aller Fraktionen die Hoffnung auf konstruktive Verhandlungen mit Großbritannien. Auch die oppositionellen Grünen warben für den Erhalt der EU und der mit der Union verbundenen Freiheiten. Im Zusammenhang mit der Türkei und den Beitrittsverhandlungen verlangte Linksfraktionschefin Sarah Wagenknecht konkrete Schritte im Verhältnis mit Regierung in Ankara. Grüne, Linke und auch die CSU verlangten, neben den Trennungsverhandlungen auch andere Probleme der Europäischen Union anzupacken – etwa die unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen in dem Staatenverbund.