Ein Dorf puzzelt gegen die Anonymität

Auch Dörfer kämpfen vermehrt mit der Anonymisierung: Viele kennen sich nicht mehr. Das bernische Neuenegg hat ein Gegenmittel erprobt – und alle Bewohner eingeladen, gemeinsam ein Puzzle mit 33 600 Teilen zusammenzusetzen. Eindrücke von der «Puzzle-Challenge».

Karin A. Wenger
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Draussen verschwindet die Welt im Schwarz der Nacht, im Kirchgemeindehaus im bernischen Neuenegg fragt Traugott Vöhringer: «Wer will noch einen Espresso?» Rund ein Dutzend Personen stehen um einen langen Holztisch. Die Jüngste ist sieben Jahre alt, der Älteste fünfundachtzig.

Angefangen hat das Projekt im vergangenen Oktober. Vöhringer bestellte das zweitgrösste Puzzle, das industriell hergestellt wird – es hat 33 600 Teile. Er verteilte Flyer im Dorf und fand schnell Bewohner, die sich engagieren und mithelfen wollten, in einer gemeinsamen Aktion das riesige Puzzle zusammenzusetzen. Zum Beispiel Susanne Portmann, die vor zehn Jahren nach Neuenegg gezogen war. Sie habe zuerst nur wenige Einwohner kennengelernt, sagt sie. Erst als ihre Kinder eingeschult wurden, knüpfte sie einige Kontakte zu anderen Eltern. Gerade deshalb wollte sie mitmachen beim Projekt – um nach all den Jahren herauszufinden, wer sonst noch in Neuenegg wohnt.

Integrationsprojekt im stark gewachsenen bernischen Neuenegg: Dorfbewohner setzen gemeinsam ein Riesenpuzzle mit 33 600 Teilen zusammen. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Integrationsprojekt im stark gewachsenen bernischen Neuenegg: Dorfbewohner setzen gemeinsam ein Riesenpuzzle mit 33 600 Teilen zusammen. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Das Dorf löst sich auf in Anonymität. Diese Dynamik beobachtet Markus Freitag, Professor für politische Soziologie an der Universität Bern. Er beschreibt verschiedene Entwicklungen, unter denen die Dorfgemeinschaft leidet: Einerseits schwinden Begegnungsorte, zum Beispiel der Postschalter und die Dorfläden. Die restlichen Plattformen für sozialen Austausch sind oft beschränkt auf einige Vereine, Parteien und die Kirche. Diese haben einen schweren Stand gegen das Angebot in den Städten und im Internet. Andererseits verändern sich auch die Dorfbewohner. Sie sind mobiler als früher und arbeiten häufig in der Stadt. Neuzuzüger treten eher nicht einem Verein bei, einige ziehen gar aufs Land, weil sie ihre Ruhe geniessen möchten. Zudem arbeiten Frauen immer mehr. Früher trafen sie sich regelmässig, etwa beim Einkaufen, wodurch informelle Netzwerke entstanden. Heute fällt dieser Teil der sozialen Interaktion vermehrt weg.

Neubauten zwischen alten Bauernhäusern

«Hier fehlt ein Teil mit einem dunkelgrünen Rand», sagt ein älterer Herr. «Das habe ich auch schon gesucht», antwortet Jan Herrmann. Sein Blick schweift konzentriert über die losen, nach Farben sortierten Puzzleteile. 36 habe er an diesem Abend schon gefunden, sagt er. Der Gymnasiast ist zum ersten Mal dabei beim Puzzeln, seine Freundin hat ihn mitgenommen. An der Wand hängt ein Plakat mit rund 130 Unterschriften. Jeder, der mindestens ein passendes Teil legte, durfte sich verewigen. Traugott Vöhringer ist erstaunt, dass das Projekt so grossen Anklang fand. Er ist in der Kirchgemeinde für die Kinder- und Jugendarbeit zuständig, seit zwanzig Jahren lebt er in Neuenegg. «Viele Leute sind gekommen, die ich noch nie gesehen habe», sagt er.

Das Dorf ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Zwischen den alten Bauernhäusern wurden viele Wohnüberbauungen errichtet. Über tausend Personen sind seit der Jahrtausendwende neu nach Neuenegg gezogen. Heute leben 5500 Einwohner in der Gemeinde, mehr als doppelt so viele wie im Jahr 1990. Der Ort ist gut gelegen für solche, die in der Stadt arbeiten, aber lieber auf dem Land leben: rund 15 Kilometer von Bern und Freiburg entfernt mit Autobahnanschluss und Zugverbindungen im Halbstundentakt.

Puzzle wird zum Dorfgespräch

Die Puzzleteile wurden in zehn Säcken geliefert, sie ergeben je einen Streifen des 5,7 auf 1,6 Meter grossen Urwaldmotivs. Um möglichst viele neugierig zu machen, hängte Vöhringer auf dem Dorfplatz und bei der Kirche ein Schild auf. «Puzzle-Challenge» steht in fetten schwarzen Buchstaben, darunter kleben Bilder von den Teilen des Puzzles, die schon zusammengesetzt im Gemeindehaus liegen. Rot klaffen Lücken von den Streifen, die noch fehlen. Es wurden immer weniger. Quasi ein Live-Stream auf Papier.

Im Saal neben dem Puzzlezimmer feiert eine Gesellschaft den Abschied des Gemeindeschreibers. Einige Neugierige stecken den Kopf durch die Türe: «Wie weit seid ihr schon?» «Fast fertig!», antwortet Susanne Portmann.

Kurz nach unserem Besuch haben die Neuenegger das Ziel erreicht. Am Ostermontag wurde das letzte Stück eingepasst. Das Puzzle wird Vöhringer auf eine Platte kleben und bald in der Kirche ausstellen. Es wird ein Zeugnis sein von Dorfbewohnern, die in Zeiten des Individualismus zumindest während ein paar Monaten zur Grossfamilie wurden.