Freiheit für die Ventile!

Langsam, aber sicher schreitet die Elektrifizierung des Antriebsstrangs im Auto voran. Neben technischen sind jedoch erst noch monetäre Probleme zu lösen. Parallel dazu wird der Verbrennungsmotor stetig weiterentwickelt. Dass dieser noch immer Entwicklungspotenzial hat, zeigen neuartige Ventilsteuerungen.

Stephan Hauri
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Im Koenigsegg Regera arbeitet das «Freevalve»-System ohne Nockenwelle, Zahnriemen und Drosselklappe. (Bild: PD)

Im Koenigsegg Regera arbeitet das «Freevalve»-System ohne Nockenwelle, Zahnriemen und Drosselklappe. (Bild: PD)

In vielen modernen Verbrennungsmotoren werden mit zwei oben liegenden, verstellbaren Nockenwellen variable Ventilsteuerzeiten und Ventilhübe realisiert. Damit lassen sich das Laufverhalten des Motors, die Drehmoment- und Leistungscharakteristik sowie der Verbrauch und die Abgasqualität massiv verbessern. Egal, ob Camtronic, CVVT, Valvetronic, Variocam, V-Tec oder VVTi: Die Verstellsysteme arbeiten soweit zuverlässig und ausreichend effizient.

Noch deutlich schneller und damit noch exakter regulierbar funktionieren jedoch Systeme mit direkter elektrischer, hydraulischer oder pneumatischer Ventilbetätigung. Und ebensolche Systeme könnten den Verbrenner auch in Zeiten strengster Emissionsvorschriften weiterhin attraktiv machen – zumal sie kostenseitig vergleichsweise gut verkraftbar sind.

Der Kopf eines Camcon-IVA-Zylinders steuert jedes Ventil einzeln an, unabhängig von der Kurbelwelle. (Bild: PD)

Der Kopf eines Camcon-IVA-Zylinders steuert jedes Ventil einzeln an, unabhängig von der Kurbelwelle. (Bild: PD)

Einen Schritt weg von der Nockenwelle machte im Grossserienbau der Fiat-Konzern schon 2009 mit dem Multi-Air-Motor, der erstmals im Alfa Romeo Mito zum Einsatz kam. Für die Einlassventile des kleinen Vierzylinder-Vierventil-Benzinmotors, der heute in mehreren Konzernmodellen zum Einsatz kommt, entwickelte Fiat zusammen mit Zulieferer Schaeffler ein elektrohydraulisches Steuersystem. Eine herkömmliche Nockenwelle betätigt lediglich die Auslassventile.

Optimal flexibel

Einen neuen Weg beschreitet nun das Entwicklungsunternehmen Camcon Automotive aus Foxton südlich von Cambridge, England. Sein IVA-System (Intelligent Valve Actuation) steuert jedes einzelne Motorventil über den gesamten Hubbereich motorlast- und drehzahlabhängig – unabhängig von der Kurbelwelle. Präzise und schnelle Ventilbewegungen werden durch einen unverzüglich ansprechenden Elektromotor sowie einen Betätigungsmechanismus mit desmodromischen Nockenpaaren und Kipphebeln realisiert. Dabei ist jederzeit jeder Ventilhub möglich. Angesichts der vielen damit verbundenen Vorteile könnte man sich fragen, weshalb ein derartiges System in Verbrennungsmotoren nicht schon lange im Einsatz ist. Die Antwort liegt auf der Hand: Erst seit kurzem ist die Elektronik in der Lage, eine solche Steuerung zuverlässig zu beherrschen.

Ein mit IVA-System ausgestatteter Motor ist extrem flexibel. So kann er im Prinzip fast beliebig CO2- und schadstoffarm oder auch optimal leistungsfähig betrieben werden. Ebenfalls denkbar ist, dass der Viertaktmotor für notwendige Zwischenspurts beim Überholen kurzfristig im Zweitaktbetrieb zusätzliche Leistung generiert. Demgegenüber würde er – quasi als Zwölftakter – bei Autobahnfahrt mit bescheidenem Tempo und entsprechend wenig Last nur jeden dritten Arbeitstakt nutzen und mit dieser Art der Zylinderabschaltung sehr verbrauchsgünstig unterwegs sein. Zusammen mit einer IVA-Ventilsteuerung auch auf der Auslassseite wäre der Motor im Weiteren in der Lage, spezielle Funktionen, wie etwa das schnelle Aufheizen des Katalysators oder das kurzfristige Beeinflussen der Turboladerfunktion, zu übernehmen.

Qamfree-Motor des chinesischen Herstellers Qoros. (Bild: PD)

Qamfree-Motor des chinesischen Herstellers Qoros. (Bild: PD)

Da der IVA-gesteuerte Motor zur Leistungsregelung auch keine Drosselklappe benötigt, entfallen die entsprechenden, im Ottomotor nicht unwesentlichen Wirkungsgradverluste, und problemlos könnten zudem Miller- oder Atkinson-Zyklen integriert werden. Die interne Abgasrückführung würde ebenfalls erleichtert, was eine deutliche Senkung des Stickoxidausstosses in den Rohemissionen zur Folge hätte und deshalb die Abgasnachbehandlung vereinfachte.

Selbst die homogene Kompressionszündung HCCI, die heute durch eine Neuentwicklung von Mazda wieder im Gespräch ist, liesse sich mit einem IVA-Motor einfacher verwirklichen. Ein ebenfalls nicht zu vernachlässigender Vorteil dieses Motors ist der Platzgewinn. Sowohl in der Länge als auch in der Höhe wird das Aggregat kompakter.

IVA-Benziner als Dieselkiller?

Beim derzeitigen Stand der Entwicklung nennt Camcon einen möglichen Treibstoffverbrauchsvorteil von bis zu 20 Prozent – auch, weil höhere Drehmomente bei niedrigeren Drehzahlen für einen sparsameren und leiseren Motorlauf sorgen. Serienreife aber hat die Entwicklung noch nicht erreicht. Die Engländer rechnen mit einer notwendigen Weiterentwicklungszeit von fünf bis sieben Jahren. Derzeit haben sie eigene Motoren und Fahrzeuge am Laufen, betonen jedoch, dass die Vorteile der neuen Ventilsteuerung erst dann richtig ersichtlich würden, wenn ein solcher Motor von einem Autohersteller angeboten würde. Geplant ist eine Zusammenarbeit mit Jaguar Land Rover, und Potenzial wird auch in Asien vermutet.

Bei Camcon betrachtet man den IVA-Motor als möglichen Dieselkiller, da der Wirkungsgrad auf ein vergleichbares Niveau komme und gleichzeitig der Partikelausstoss und die Stickoxidemissionen wesentlich niedriger seien.

Alternativer Ansatz

Ähnliche Vorteile wie das IVA-System ermöglicht das Freevalve-System von Koenigsegg. Es eignet sich je nach Optimierungsrichtung sowohl für Ultra-High-Performance-Motoren wie den 5-Liter-V8-Biturbo-Benziner von Koenigsegg (1100 PS, 1250 Nm), aber auch für Brot-und-Butter-Triebwerke wie den Qamfree-Motor des chinesischen Herstellers Qoros. Das System im aufgeladenen 1,6-Liter-Motor des Qoros 3 kommt ohne Nockenwelle, Zahnriemen und Drosselklappe aus und liefert mit einfacher Saugrohreinspritzung 330 Nm und 231 PS. Die 16 Ventile des Vierzylinders werden elektrohydraulisch betätigt. Sowohl die Öffnungszeiten als auch der Hub sind für jedes Ventil einzeln frei steuerbar. Wie das Camcon-System kann die Freevalve-Ventilsteuerung entweder den Benzinmotor zu einem vollwertigen Dieselersatz machen oder aber eine interessante Umbaumöglichkeit für leistungsorientierte Tuner bieten.

Vierzylinder-Versuchsmotor IVA von Camcon. (Bild: PD)

Vierzylinder-Versuchsmotor IVA von Camcon. (Bild: PD)