Das Gehen ist im Rückgang – der Fortschritt bringt uns zum Stillstand

Jahrtausendelang legte der Mensch weite Strecken zu Fuss zurück. In jüngster Zeit aber hat sich das geändert: Der moderne Mensch geht immer weniger. Ein körperlicher Verlust, der sich nicht zuletzt auch auf den Geist auswirkt.

Claudia Mäder
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Kinder müssen beim Gehen an der Hand geführt werden – und die Erwachsenen brauchen heutzutage schon schriftliche «Anleitungen» fürs Spazieren. (Marcelo del Pozo / Reuters)

Kinder müssen beim Gehen an der Hand geführt werden – und die Erwachsenen brauchen heutzutage schon schriftliche «Anleitungen» fürs Spazieren. (Marcelo del Pozo / Reuters)

Manchmal macht es Mühe, den geeigneten Einstieg für einen Text zu finden. Diverse Strategien bieten sich dann an zur Entschärfung der Situation. Zuerst kann man es mit Maniküre versuchen und damit beginnen, die Fingernägel zu schneiden – schliesslich arbeitet das Schreibzeug an unseren Gedanken mit, und lange Krallen stören das Führen des Stifts. Mit derart präparierten Händen lässt sich dann auch sehr gut Kaffee kochen. Koffein soll bekanntlich den Geist beleben – oder war das die Schokolade oder gar das Nikotin? Wenn nach Anwendung all dieser Mittel noch immer nichts geht, gibt es nur eines: Man muss gehen. Weg vom Tisch, raus in die Welt.

Zunächst ziellos, macht man dort draussen dann einen Schritt nach dem anderen. So kommt man langsam weiter, um irgendwann zu merken: Es geht. Wahrscheinlich geht es nicht gleich richtig gut, vermutlich geht nicht sofort alles auf, und sicher bleiben noch viele Passagen durchzugehen. Doch endlich sieht man, wo das Ganze hingehen könnte.

Das Wort «gehen» sei «nach form und gehalt überaus reich entwickelt», konstatierten Jacob und Wilhelm Grimm in ihrem Wörterbuch. In einem hundert Spalten umfassenden Eintrag haderten die Brüder mit dem Verb und versuchten, die zahllosen Bedeutungen einzufangen, die an allen möglichen Orten auftauchten – sei es im kommunen Zufussgehen, sei es in komplizierten Gedankengängen, sei es im Gang des Lebens oder gar jenem der Welt.

Zwar registrierten die beiden etwas resigniert, dass der Begriff der Bewegung dauernd vom «sinnlichen oder sichtbaren ins gedachte, nur empfundene» übertragen werde und daher unmöglich vollständig darzustellen sei. Doch hielten sie eben damit einen Zusammenhang fest, der für die Menschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer bemerkenswerter wurde: Leben, Denken und Gehen sind auf irgendeine Weise verbunden. In eher aphoristischer Form haben das seinerzeit auch diverse Schreiber ausgedrückt – von Rousseau über Kant bis zu Kierkegaard schwärmten viele Philosophen vom Gehen, und Nietzsche geisselte sein Gegenstück mit harten Worten: «Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den Heiligen Geist.»

Erst wenn das ganz Normale allmählich verschwindet, beginnen wir es zu beschreiben; nur was rar ist, kann hip werden, und so weckt auch das Gehen unser Interesse, weil es langsam – vergeht.

So ähnlich scheinen das auch heute viele Autoren zu sehen. Im Halbjahrestakt erscheinen neuerdings Bücher übers «Gehen», und würde man von all diesen Titeln aufs Verhalten der Menschen schliessen, dürfte man die sündenfreie Welt nahe wähnen. Hier wird ein «Lob» des Gehens geschrieben, dort eine «Philosophie» des Gehens publiziert, etliche «Geschichten» des Gehens sind auf dem Markt, und auch «Anleitungen» zum Gehen finden sich in den Bücherregalen inzwischen mehrere – gerade ist eine neue aus der Feder des norwegischen Abenteurers Erling Kagge erschienen («Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung», Insel-Verlag, 160 S.).

Meist sind diese Bücher interessant und oft sogar schön, immer aber sind sie traurig, denn im Kern muss man sie als Verlustanzeigen lesen. Alltägliche Dinge füllen keine Bibliotheken – solange sie wirklich alltäglich sind. Erst wenn das ganz Normale allmählich verschwindet, beginnen wir es zu beschreiben; nur was rar ist, kann hip werden, und so weckt auch das Gehen unser Interesse, weil es langsam – vergeht.

Siegeszug des Fahrens

Seit geschätzten vier Millionen Jahren gehen die menschenartigen Wesen auf zwei Beinen. Wieso sie das tun, ist bis heute nicht abschliessend klar, evident ist nur, dass diese Form des Gehens den Fortgang des Lebens bestimmte: Mit den zwei frei gewordenen Gliedmassen konnte der Mensch die Welt ergreifen und gestalten, mit dem hoch getragenen Kopf vermochte er sein Umfeld zu überblicken und zu beherrschen – freilich immer um den Preis des Stolperns. Denn mit der Stabilität ist es auf bloss zwei Beinen nicht weit her, und gar schnell verliert den Boden unter den Füssen, wer den Blick am Horizont ausrichtet.

Auch ganz konkret aber war der Mensch die längste Zeit ein grosser Geher. Als Jäger und Sammler legte er weite Strecken zurück, und auch mit der «Sesshaftigkeit» kam er nicht zum Stillstand. Siedlungsbau und Ackerwirtschaft beendeten zwar das nomadische Dasein, dafür entstanden nun Handelsrouten, die zu Fuss beschritten wurden, Arbeitstechniken, die den Einsatz des Körpers verlangten, und Lebenspraktiken, die jeden in Bewegung setzten: Nur schon um den zuweilen weiten Gang zur Kirche kam bis zum Beginn der Moderne in unseren Breiten kaum ein Mensch herum.

NZZ Format "Geist in Bewegung: macht uns Gehen schlau?" Die Sendung in voller Länge finden Sie hier.

Ohne Füsse wäre damals also nichts gegangen, viel Aufmerksamkeit aber erfuhr das Gehen nicht. Doch als sich die Welt rasant zu verändern und auf neue Arten zu bewegen begann, wurde die alte Sache zum grossen Thema. Selber ein passionierter Spaziergänger («Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen»), lobte Rousseau im 18. Jahrhundert die wohltuende Wirkung der natürlichen Fortbewegungsform – und beklagte damit, wie immer, zugleich die Auswüchse der Zivilisation. In diesem Fall kam das Übel in Form der Kutsche daher. Anders als der dekadente Adel, der sich träg herumfahren liess, solle der aufrechte Bürger sein Leben selber in die Hand beziehungsweise unter die Füsse nehmen – das propagierten diverse Aufklärer. Sie griffen das Gehen in ihren Schriften auf und machten es, wie der Deutsche Johann Gottfried Seume, zum Gradmesser der Menschlichkeit: «Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne (. . .) So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grad von der ursprünglichen Humanität entfernt.»

Allein, der Siegeszug des Fahrens war nicht aufzuhalten. Wohl blieb das Gehen noch eine Weile im Verkehr präsent – in der Schweiz zum Beispiel schien es den Behörden noch in der Zwischenkriegszeit geboten, die Fussgänger daran zu erinnern, «dass sie nicht allein Anrecht auf die Strasse haben». Dominant wurden aber die neuen Alternativen: Immer mehr Leute benutzten Eisen- oder Strassenbahnen, etliche sattelten aufs Velo um, und als das Auto für die Masse erschwinglich wurde, verkamen die Fussgänger auf den Strassen definitiv zur Randerscheinung. Gleichsam als Ersatz begann man in den 1930er Jahren, den gehenden Menschen jenseits des Verkehrs ein Netz an Wanderwegen bereitzustellen. Und als eine Art poetischen Protest kann man die ganze Reihe an literarischen Werken lesen, die um die vorletzte Jahrhundertwende zum Lob auf langsame Spazier- und Flaniergänge anhoben.

Die Tüftler spazieren

Inzwischen ist die Masse an preisenden Büchern nicht mehr zu überblicken – und viele Wanderwege sind kaum noch zu begehen. Das Spazieren in der «Wildnis» ist längst zum veritablen Hype geworden; zu Tausenden tummeln sich die Menschen in den Bergen, und in Scharen strömen sie auf alte Pilgerwege. Den von Hape Kerkeling so wirkmächtig beschriebenen Jakobsweg («Ich bin dann mal weg», Malik-Verlag, 353 S.) beispielsweise besuchen inzwischen jährlich an die 300 000 Leute; dreissigmal mehr als noch in den 1990er Jahren. Sündenerlass war einst das Ziel dieses Gangs, und nimmt man Nietzsches Wort zum Massstab, ist das heute nicht anders: Mit tagelangem Marschieren versucht man sich kurzzeitig vom sträflich langen Sitzen zu befreien, das den Alltag bestimmt.

Um sechzig Prozent soll der «kreative Output» eines Menschen zunehmen, wenn er geht statt sitzt.

Wie Leben, Gehen und Denken miteinander korrespondieren, ist heute nur noch in solchen Ausnahmesituationen zu spüren – oder in schönen Büchern nachzulesen. Im täglichen Dasein dagegen bleiben wir mit zunehmendem Fortschritt immer mehr stehen. Stolz messen zwar viele moderne Menschen jeden Schritt, den sie tun, doch weist auch diese Massnahme nur auf einen eklatanten Mangel hin. Was ausreichend vorhanden ist, braucht nicht gezählt zu werden, und nicht nur die Angaben des Schrittmessers, sondern die Daten der ganzen Welt zeigen es deutlich: Je weiter ein Land entwickelt ist und je höher die Einkommen steigen, desto weniger bewegen sich seine Einwohner. Was das für den menschlichen Körper bedeutet, ist ungewiss, und völlig offen ist auch, wie sich der Stillstand auf den Geist auswirkt.

Dass es zwischen diesen Dingen einen Zusammenhang gibt und beim Gehen das Denken in Gang kommt, bestätigt inzwischen auch die Forschung. Empirische Studien aus Stanford belegen, was jeder auf Spaziergängen erlebt und Philosophen seit Jahrhunderten beschreiben – nur natürlich etwas präziser: Um sechzig Prozent soll der «kreative Output» eines Menschen zunehmen, wenn er geht statt sitzt. Besonders gewiefte Leute machen sich diese Erkenntnis denn auch schon rege zunutze. Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos, die Chefs von Apple oder Twitter – etliche Tech-Tüftler halten ihre Sitzungen als «strolling meetings» ab und entwickeln auf diesen Promenaden neue Ideen für ihre Firmen. Auch darüber gibt es selbstverständlich bereits Bücher, 2016 zum Beispiel erzählte Lawrence Levy, der frühere CFO von Pixar, wie ihn Hunderte von Spaziergängen mit Steve Jobs in die Lage versetzten, «Entertainment-Geschichte» zu schreiben («To Pixar and Beyond», Houghton Mifflin Harcourt, 272 S.).

Kann man sich eine absurdere Situation vorstellen? Im Silicon Valley konzentrieren ein paar Köpfe ihre Kreativität beim Spazieren – um danach die ganze Welt mit neuen Gadgets zu zerstreuen und die Menschen an irgendeinen Bildschirm zu fesseln. Ehe uns die professionellen Stroller weiter vom menschlichen Weg abbringen und uns vollends ins Sitzpolster drücken, sollten wir ganz einfach: gehen.