Die neuen Kommunikationsformen verändern alles – auch unser Verständnis von Prominenz. Der Autor Jeetendr Sehdev untersucht, wie Personen im Zeitalter von Social Media zu Erfolg kommen. Talent spielt dabei eine Rolle, bloss: Was verstehen wir heute darunter?
Herr Sehdev, öffentliche Personen zu beobachten, ist Ihr Beruf. Wie misst man die Relevanz solcher Persönlichkeiten in Zeiten wechselnder Geschmäcker und Vorlieben?
Mittels einer Kombination aus Forschungsgeist und Erfahrung. Indem man analytische Methoden auf einem Gebiet anwendet, das gemeinhin als trivial betrachtet wird. Indem man sich in die Populärkultur vertieft, um die eigene Intuition zu schulen, und schliesslich, indem man Empathie für das Publikum entwickelt, um zu verstehen, wie und worauf es reagiert. Wie denn sonst?
Simon M. Ingold · Jeetendr Sehdev, Absolvent der University of Oxford und der Harvard Business School, arbeitete mehrere Jahre bei führenden Werbeagenturen in England und den USA. Er gewann daraus die Erkenntnis, dass Personen des öffentlichen Lebens den Charakter von Marken haben, die sich mit ähnlichen Methoden erforschen lassen wie diejenigen von Produkten oder Unternehmen. Damit begründete er die Disziplin des Celebrity-Branding. Sehdev ist ein profunder Kenner von Social Media und beschäftigt sich intensiv mit den soziokulturellen Implikationen dieser Technologie. Er lebt in Los Angeles.
Prominente haben ihr Image immer aktiv kultiviert – sei es über einen Agenten, eine PR-Firma oder die Medien. Wozu braucht es das, was Sie «Branding» nennen?
Niemand hat je versucht, die Wahrnehmung von Prominenten präzise zu messen, so, wie es bei einer Marke wie z. B. American Express gang und gäbe ist. Wenn wieder einmal verkündet wurde, dass Beyoncé der einflussreichste Star der Welt und Chris Hemsworth der «Sexiest Man Alive» sei, dann waren das nur unbewiesene Behauptungen der Presse, bevor es Celebrity-Branding gab.
Die Faszination, die von Prominenten ausgeht, ist ambivalent. Fast niemand kann sich ihr entziehen, aber wir schämen uns auch immer ein bisschen dafür. Warum ist das so?
Prominente dienen immer als Projektionsfläche für Träume und erlauben uns, aus der Realität auszubrechen. Das ist die nachhaltigste Manifestation ihrer Wirkung auf die Öffentlichkeit. Prominente sind vorbildhaft, und das wird sich so schnell nicht ändern. Aber Bewunderung kann auch zur Obsession werden. Ich denke an die Youtuberin Christina Grimmie, die 2016 von einem Fan erschossen wurde. «Digitale» Stars sind zugänglicher als diejenigen aus Hollywood. Die Kehrseite dieser publikumsfreundlichen Haltung ist ein erhöhtes Risiko für Angriffe auf die physische Integrität.
Was kann uns eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Verhalten von Prominenten lehren?
Dass heute jeder ein Star werden kann. Dass die sozialen Netzwerke zu einer Demokratisierung von Prominenz geführt haben: Welche Augen- oder Haarfarbe jemand hat, spielt keine Rolle mehr, um eine faire Chance auf Erfolg zu haben. Dass das Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung nicht das Ergebnis von Naivität, Narzissmus und Oberflächlichkeit sein muss. Und dass die neue Form von Prominenz den Talentbegriff erweitert hat. Früher wurde Talent damit gleichgesetzt, ob jemand Violine spielt oder eine Schauspielschule besucht hat. Heute spielen junge Leute vor laufender Kamera Videogames und machen Belfie-Aufnahmen (Selfies vom eigenen Gesäss). Damit lässt sich ein Milliardengeschäft aufbauen, wie Kylie Jenner beweist.
Sie haben Ihre Überlegungen zu Celebrity-Branding in einem Buch mit dem Titel «The Kim Kardashian Principle» zusammengefasst. Kim Kardashian hat einen Ruf, der nicht gerade als Vorbild taugt. Warum gerade sie?
Wenn Kim Kardashian kein Vorbild ist, wie hat sie es dann geschafft, Millionen von Menschen für ihre Vision zu gewinnen? Ich halte Kim für mehr als ein Vorbild: Sie nimmt eine weltweite Vorreiterrolle in der Pop-Kultur ein, mit ihr wird noch lange zu rechnen sein. Deshalb ist sie Titelgeberin meines Buchs. Kim Kardashian gibt uns einen Einblick in die Welt von morgen, ob sie uns gefällt oder nicht. Es ist eine Welt, in der Bekanntheit der heilige Gral ist und Individualität das Mittel zum Durchbruch. In dieser Welt werden Unbefangenheit und Freigeist grossgeschrieben: Sich selbst zu sein und davon leben zu können, ist eine reale Möglichkeit.
In Ihrem Buch schreiben Sie über einen fundamentalen Wandel in unserer Wahrnehmung von Prominenz. Wer ist dafür verantwortlich?
Einzig und allein das Publikum – die jüngeren Generationen der Millennials und die Generation Z haben ein anderes Wertesystem und andere Sensibilitäten als ihre Vorgänger. Man denke daran: Die Generation Z kennt keine Welt ohne Smartphone.
Sie erwähnen auch, dass Social-Media-Stars heutzutage einflussreicher sind als traditionelle Prominente. Sind die Zeiten der Klatschpresse vorbei?
Nein, sind sie nicht. Auch den Herausgebern dieser Publikationen ist sehr wohl bewusst, dass sie Schritt halten müssen mit der sich rapide verändernden Art und Weise, wie Informationen konsumiert werden. Ich bin sehr gespannt, wie sich Unterhaltungsmedien inskünftig gegenüber den jüngeren Generationen positionieren. Deren Präferenzen hinsichtlich Inhalt sind ganz anders als diejenigen der traditionellen Leserschaft.
Dies scheint mit einer gewissen Perfektionserschöpfung zusammenzuhängen. Was heisst das?
In der Tat, Perfektion ist passé. Es ist der Makel, der Faszination ausübt. Wir werden schon zu lange mit homogenen Bildern unechter Perfektion bombardiert, was schlicht langweilig ist – insbesondere für eine jüngere Generation, die so farben- und genderblind ist wie keine zuvor.
Aber ist Perfektion nicht ein Ziel, das es weiterhin anzustreben gilt? Unterwandern wir nicht unsere eigenen Leistungsansprüche, wenn wir auf Perfektion verzichten?
Es ist absolut unterstützenswert, wenn jemand seine eigenen Ansprüche an Perfektion verfolgt. Diese sollten aber nicht gesellschaftlich verordnet sein. Wir haben die Tendenz, gewisse Menschen zu dämonisieren und andere als unfehlbar zu verehren. In Wirklichkeit sind wir inhärent fehlbare Wesen. Das macht uns menschlich, interessant und anziehend.
Sie nennen auch einen Mangel an Authentizität als Ursache für die schwindende Glaubwürdigkeit von Prominenten. Wie ist dem entgegenzuwirken?
Indem man die eigene Persönlichkeit in den Vordergrund stellt und echte Standpunkte vertritt, anstatt ein Image zu kultivieren, das einem von einem Agenten aufgezwungen wurde.
Aber kann das nicht dazu führen, dass Authentizität vorgetäuscht wird, um soziale Erwartungen zu erfüllen?
Ich denke nicht, dass Authentizität vorgetäuscht werden kann. Das Publikum ist klug genug, um dies zu erkennen – es hat fein austarierte Authentizitätsdetektoren.
Influencer geben den Ton an. Sind Einfluss und Einflussnahme positive Phänomene? Der Begriff allein suggeriert ja schon Manipulation.
Einfluss kann natürlich positiv und negativ eingesetzt werden. Leute wie Harvey Weinstein und Bill Cosby haben ihre Bekanntheit und ihren Einfluss missbraucht und damit grossen Schaden angerichtet. Im Gegensatz dazu bringt der Einfluss von Influencern viel Gutes – man denke an Kim Kardashian, die sich im Weissen Haus erfolgreich für eine Gefängnisreform eingesetzt hat. Es hängt letztlich vom Einzelnen ab, wie er sich zu den verschiedenen Spielarten der Beeinflussung stellt. Was dem einen recht ist, muss dem anderen nicht billig sein.
Die Atmosphäre in den sozialen Netzwerken ist geradezu vergiftet durch extreme Anfeindungen. Sie sehen das nicht als Grund zur Zurückhaltung. Sie sagen sogar, dass selbst hasserfüllte Reaktionen begrüssenswert seien. Suchen Sie Aufmerksamkeit um jeden Preis?
Es geht nicht um Aufmerksamkeit, sondern um die Einsicht, dass die sozialen Netzwerke jedem Nutzer eine Stimme und eine Plattform verschaffen. Nur weil jemand nicht Ihrer Meinung ist, ist das noch kein Grund, ihn oder sie mundtot zu machen. Ablehnung ist auch als eine Form von Engagement zu betrachten. Sie wurden wahrgenommen, Ihre Meinung wurde beurteilt, und es gibt eine negative öffentliche Reaktion darauf. Sie wollen nicht auf Ihr Recht verzichten, eine Meinung zu haben. Genauso wenig können Sie jemandem dieses Recht verbieten.
Sie bewegen sich als professioneller Redner in einem thematischen Dreieck zwischen Wirtschaft, Branding und Trendforschung. Wie beeinflusst der kulturelle Kontext die Rezeption Ihrer Thesen? Sind sie universell anwendbar?
Absolut. In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit fundamentalen menschlichen Bedürfnissen, Regungen und Reaktionen auf äussere Impulse. Diese Phänomene haben überall einen ähnlichen Stellenwert. Die Kernaussage meines Buches ist, dass man sich auf die eigenen Überzeugungen und Fähigkeiten besinnen muss, ohne Rücksicht auf Kritik. Es geht um die eigene Authentizität und darum, diese mit Nachdruck zu verteidigen. Das umfasst auch die Bereitschaft anzuecken, selbst wenn dabei Konflikte entstehen. Diese Aufforderung ist durchaus universell zu verstehen.