Ohne Moral geht es nicht. Aber wir moralisieren alles – und das ist falsch

Kunst, Kulinarik, Hochschulen, Business: Alle Lebensbereiche sollen dem Guten dienen. Ohne Diversity, Nachhaltigkeit und Solidarisierung läuft nichts mehr. Die neuen Moralisierer vermarkten sich perfekt – und vertreten doch nur ihre Interessen.

Reinhard K. Sprenger
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Es lockt ein hoher Moralisierungsertrag: Die Abholzung der Regenwälder aus privilegierter westlicher Warte zu monieren, ist ebenso richtig wie wohlfeil. (Bild: Bagus Indahono  / EPA)

Es lockt ein hoher Moralisierungsertrag: Die Abholzung der Regenwälder aus privilegierter westlicher Warte zu monieren, ist ebenso richtig wie wohlfeil. (Bild: Bagus Indahono  / EPA)

Ich bin vor kurzem von einem Unternehmen, das mich zu einem Vortrag über «Digital Leadership» eingeladen hatte, wieder ausgeladen worden. Ich hatte mich geweigert, den «Code of Conduct» zu unterschreiben. Ein Fall von Kleingeisterei, gewiss, aber auch ein Einzelfall?

Öffnen wir die Linse. Führungskräften der Wirtschaft ruft man zu: «Du musst wachsen und profitabel sein, aber vor allem musst du ethisch sein! Diversity! Compliance!»

Unternehmen bekennen sich öffentlich zu «Werten», gründen sich neu als Umweltschutzbünde. Multinationale Konzerne besetzen ihre obersten Leitungsgremien nicht mehr primär nach Leistungskriterien, sondern nach ethnischen Prinzipien oder Geschlecht. In den USA werde ich an der Kasse gefragt, ob ich das Wechselgeld für einen «guten Zweck» spenden wolle. Auch der edle Millionen-Spender hat offenbar ein schlechtes Gewissen, weil er «der Gesellschaft etwas zurückgeben» will. Hat er denn etwas gestohlen? Und VW-Mitarbeiter bekommen einen Moral-Katalog an die Hand, der sie zum anständigen Handeln anhalten soll.

Öffnen wir die Linse noch weiter, dann werden Bilder und Kruzifixe abgehängt, Bücher indexiert, Strassen umbenannt und Denkmäler entfernt, Schauspieler aus Filmen herausgeschnitten, die sexistischer Handlungen verdächtig sind. Weg mit allem, was irritiert. Oder besser: irritieren könnte.

Ein Spaltpilz breitet sich aus in westlichen Gesellschaften: Moralisierung. So disparat die Beobachtungen auf den ersten Blick sein mögen, gemeinsam ist ihnen Evangelikalismus, angewendet auf die jeweilige Soziosphäre. Man stürzt sich auf alles, was sich irgendwie tribunalisieren lässt. Knie nieder, und bekenne, dass du ein schlechter Mensch bist!

Begrenzung der Kampfzone

Aus welchen Quellen speist sich diese Tendenz? Beigetragen hat sicher das Jahr 1989, das die Polarität zwischen West und Ost auflöste. Die Welt wurde dadurch unordentlich, moralisch neutral, der Raum der klaren Werte-Spannung leer. Hinzu kamen die Effekte der Globalisierung, die in den Augen vieler eine «Durcheinanderwelt» (Kaspar Villiger) schufen: Traditionen büssten ihre Klammerwirkung ein, Religionen ihre normierende Verbindlichkeit. Die Sinnangebote wurden kontingent, wählbar, verloren ihre zentripetale Kraft. Der Veränderungsdruck wuchs, nicht zuletzt der wirtschaftliche. Eine tief verunsicherte Gesellschaft ist die Folge.

Nun kann keine Gesellschaft ohne Moral funktionieren – also ohne einen Kodex, der das Verhalten jenseits des Gesetzes normiert. Diesen Kodex nennen wir Anstand. Wollen wir ihn erhalten, müssen wir ihn schützen vor der Moralisierung, vor der Ausweitung der Kampfzone auf alles und jedes, auf Vergangenes und Zukünftiges. Das verlangt erst einmal Begriffsarbeit.

Interessenkonflikte liessen sich ja aufklären und ausgleichen; Wertekonflikte kann man nur konstatieren.

Moral ist nicht leicht zu unterscheiden von der Moralisierung, wenn man nach Georg Christoph Lichtenberg «die Nase eher rümpfen lernt als putzen». Differenzieren kann man zwischen der Moral als Inhalt und der Moralisierung als Anwendung. Das trägt allerdings nicht weit, beobachtet man die springflutartige Moralkolonialisierung unserer Lebenswelt. Tragfähiger ist das Ungewollte der Moral. Moral entsteht. Sie wächst ohne intentionales Zutun heran als Folge lebenspraktischer, jahrhundertelanger Erfahrungen. Sie begrenzt menschliche Freiheit und ermöglicht sie zugleich. Sie ist dabei nicht als explizites Regelwerk gesetzlich einklagbar, sondern als impliziter Vertrag lediglich wünschbar.

Hingegen ist Moralisierung ein Instant-Werkzeug, das nicht historisch gewachsen oder naturrechtlich legitimiert ist. Moralisierung will Moral willkürlich herstellen. Sie ist selbstbegründend. Genau an diesem Punkt, wo die natürliche Grundlage von Moral (Traditionen, Naturrecht, Religion) fehlt, wird ein Werte-Überschuss erzeugt und konfrontativ ausgedehnt.

Die Interessen dahinter

Genaugenommen geht es den Moralisierern um Interessen. Sie giessen ihre Interessen einfach in «Werte» um. Dadurch verschleiern sie persönliche Vorteile und veredeln ihre Sozial-Imperative mit dem Glanz allgemeiner Zustimmung. Das immunisiert. Interessenkonflikte liessen sich ja aufklären und ausgleichen; Wertekonflikte kann man nur konstatieren. Will man sie lösen, muss man den anderen eliminieren. Das erklärt die Aggressivität der Moralisierer.

Die Vorteile, an denen die Moralisierer festhalten wollen, sind dabei keineswegs vorrangig materieller Natur. Wichtiger sind die mentalen Moralisierungserträge.

Erstens: Moralisierer wollen Ordnung schaffen. Sie machen aus dem«So-oder-So» einfach ein «Nur-So!» und gehen dann auf die «gute» Seite des Polaritätenprofils. Dafür verlagern sie den ehemals grossen weltpolitischen Dualismus in soziale Sub-Spannungen, etwa Frauen -Männer, Inländer - Ausländer, Traditionalisten - Progressive, Fleischesser - Vegetarier, Vielflieger - Velofahrer. Das gibt ihnen wieder Sicherheit und Überblick. Der ehemalige Sowjetführer Georgi Arbatow sagte: «Wir haben euch das Schlimmste angetan – wir haben euch den Feind genommen.» Die Selbstzerfleischung unserer Gesellschaft gibt ihm recht.

Zweitens: Moralisierer weisen auf sich selbst zurück. Indem sie andere explizit abwerten, erhöhen sie sich implizit selbst: Negation ist Affirmation. Das geht mit Machtrausch einher: Moralisierer sind übergriffig, respektieren keine Grenzen, schon gar nicht das Individuum, stellen sich immer über andere. Sie zielen auf Ausschluss: «Wir haben mehr Recht, dazuzugehören, als ihr!» Deshalb ist die Gestaltgeste der Moralisierer die Verengung. Sie wollen nicht die Wahlmöglichkeiten erhöhen, sondern verringern.

Drittens: Moralisierer kennen keine Individuen; sie denken in Kollektiven. Sie teilen die Gesellschaft in identitäre Gruppen auf, billigen der eigenen Gruppe Opferstatus und entsprechend höhere Ansprüche zu und stellen diese über das Wohl anderer Gruppen. Deshalb ist auch nicht relevant, was jemand sagt, sondern wer es sagt bzw. zu welcher Gruppe er gehört. Nur wer beim Opferwettbewerb ganz weit vorne ist, ist satisfaktionsfähig.

Und selbst, wenn sich die Moralisten sachlich irren – moralisch liegen sie richtig.

Viertens: Moralisierer denken nicht. Sie urteilen. Mehrdeutigkeit, Ambivalenz, Kontext- und Situationsbezug kennen sie nicht. Auch nicht das Gute im Schlechten. Deshalb kapseln sie sich gern ab in dogmatischen Selbstbestätigungsmilieus. Es fehlt ihnen nicht an plausiblen Gemeinplätzen. Diese aber blenden jede Form von Zweifel, von Aporie und Dilemma aus. Alles ist schwarz-weiss, einfach, eindeutig. Und publikumswirksam: Wo der Fluss breit ist, ist er meist auch seicht.

Das erinnert an Hermann Lübbes Diktum: «Moralismus ist der Triumph der guten Gesinnung über die Gesetze des Verstandes.» Zugleich sind sie hochenergetisch, wach, tätig, misstrauisch, versierte Erniedriger höherer Ideen und Menschen, erfüllt von menschenfreundlichen Theorien. Sie gehen nicht auf Argumente ein, sondern sind empört, dass sie überhaupt vertreten werden. Weil sie sich im Dienst einer höheren Sache wissen: Natur, Gemeinwohl, Nation, Staat, Frauen, Menschheit, Zukunft. Und selbst, wenn sie sich sachlich irren – moralisch liegen sie richtig.

Billige Empörung

Damit betreten wir – fünftens – das Gebiet der Paradoxie. Dass Moral sich in Unmoral, Recht in Unrecht wandeln kann, dass gute Absichten schlechte Folgen haben, egoistisches Verhalten umgekehrt sozialen Nutzen erzeugen kann – diese Gedankenwege beschreiten sie nicht. Im Regelfall wird ein Wert aus der Ambiguität herausgelöst und normativ so hoch aufgeladen, dass man sich aus der Solidargemeinschaft der Zivilisierten verabschiedet, hebt man gegen ihn die Stimme.

Wie bei der Nachhaltigkeit: Können wir sie nur moralisierend fordern, oder müssen wir ihre Implikationen nicht viel stärker am Kältepol diskutieren? Ist derjenige, der bei der Einwanderungspolitik auch die Interessen des aufnehmenden Staates berücksichtigt, ein pathologischer Fall von Antimodernität? Es ist billig, sich mit den Ärmsten der Armen zu solidarisieren, aber nichts zu tun, was ihren Zustand verbessert. Wer keine Tropenhölzer verarbeiten will, soll gleichzeitig zeigen, wie sich der Regenwald auf Dauer retten lässt, ohne dass man ihn forstwirtschaftlich pflegt. Das ist der Kern: Moralisierung wächst mit der Entfernung.

Ohne Moral geht es nicht. Aber ihre Überdehnung auf alle Lebensbereiche, die Segmentierung der Gesellschaft in Gute und Schlechte, zerstört den Wert der Moral: dem Zusammenleben zu dienen, nicht der Trennung.

Reinhard K. Sprenger ist Philosoph, Unternehmensberater und Autor u. a. von «Radikal digital: Weil der Mensch den Unterschied macht» (2018) und «Das anständige Unternehmen» (2016). Seine Bücher erscheinen bei Campus und DVA.