Amerika, du bist klüger und besser als das: Diesem Motto folgend, bittet ein Lokalradio in Seattle zum Beispiel Waffennarren und Waffengegner zum Gespräch. (Bild: Josh Edelson / AP)

Amerika, du bist klüger und besser als das: Diesem Motto folgend, bittet ein Lokalradio in Seattle zum Beispiel Waffennarren und Waffengegner zum Gespräch. (Bild: Josh Edelson / AP)

Wie ein amerikanischer Radiosender unversöhnliche Positionen zu versöhnen versucht

In den USA ist die Gesellschaft zutiefst gespalten. Ein Lokalradio will Fremde zu Gesprächen über heikle Themen animieren und so Misstrauen und Vorurteile abbauen – in einer Art Speed-Dating der Meinungen.

Romina Spina
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«Frag einen Trump-Wähler», so lautete der Aufruf des öffentlichen Lokalradios KUOW kurz nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl im Herbst 2016. In Seattle, einer der liberalsten Städte in den USA, sind Anhänger von Donald Trump eine unbeliebte Minderheit. Im sozialen Umfeld stossen sie fast ausschliesslich auf Unverständnis, nicht selten auf Verachtung und Feindseligkeit.

Radiozuhörerin Lucy Morse war unter jenen, die nicht verstehen konnten, was Wähler an Trump fanden. Perfekt, dachte sie: Bei der Aktion von KUOW würde sie eine Handvoll von ihnen treffen und im kleinen Kreis jeden Einzelnen ausfragen können. Sie meldete sich an, obwohl sie zwei Stunden nördlich von Seattle wohnt.

Morses Neugier machte sie zur Wunschkandidatin für die Veranstaltungsreihe «Ask A . . .», also «Frag einen . . .», die KUOW seit 2016 durchführt. Im Zentrum steht die direkte Begegnung mit Mitgliedern einer Gruppe, die im öffentlichen Diskurs als «Andere» wahrgenommen werden. In kurzen Einzelgesprächen mit Zuhörerinnen wie Morse beantworten Gruppenmitglieder Fragen wie «Traust du Donald Trump?» oder «Fühlst du dich als Muslimin bedroht?».

Fragen an den Muslim von nebenan

Bei den Live-Events sind jeweils sechzehn bis zwanzig Teilnehmer in Fragende und Antwortende aufgeteilt. Der Ablauf ist ähnlich wie beim Speed-Dating: Man sitzt sich gegenüber und redet sechs bis acht Minuten lang. Wenn die Zeit um ist, wechselt man zum nächsten Gesprächspartner.

Die Idee dafür entstand, nachdem der damalige Präsidentschaftskandidat Donald Trump ein Einreiseverbot für Muslime vorgeschlagen hatte. Radioproduzent Ross Reynolds, der bei KUOW für das Community-Engagement zuständig ist, stellte fest, dass sein Publikum wenig über die kleine muslimische Gemeinschaft der Stadt wusste. Also organisierte er im Radiostudio ein Treffen, wo Nichtmuslime selbst banale Fragen an Muslime stellen konnten.

Danach diskutierten die Teilnehmer darüber, was sie bei den Gesprächen gelernt hatten. Manche waren überrascht, dass viele Muslime säkular lebten oder sie auf offener Strasse beschimpft werden. Bei einem Essen lernte man sich anschliessend noch besser kennen.

Nach dem Erfolg von «Frag einen Muslim» organisierte KUOW achtzehn weitere Ausgaben. Die Bevölkerung sollte Menschen befragen können, mit deren Leben es wenig Berührungspunkte gab und die sich selber missverstanden und ausgegrenzt fühlten. Unter ihnen sind ehemalige Obdachlose, frühere Häftlinge, Waffenbesitzer oder Einwanderer. Dazu gehören auch Gruppen, die den meisten schlicht unvertraut sind, etwa autistische Erwachsene, Transgender oder Richter.

Die meisten Fragenden waren über die zum Teil sehr unterschiedlichen Ansichten und Erfahrungen der Befragten erstaunt. Sie hätten sich diese als einheitlichen Block vorgestellt, sagen viele im Gespräch mit der NZZ. Lucy Morse fand verblüffend, dass eine Trump-Wählerin aus Angst vor Angriffen fast nicht zum Treffen erschienen wäre. Chris Porter war überrascht und traurig, dass eine Transgender-Person schon als Teenager eine Waffe zur Selbstverteidigung besass. Die Schülerin Olivia Poolos beeindruckte, dass ein Afroamerikaner unschuldig im Gefängnis sass, nachdem er seinen Anwälten getraut und auf schuldig plädiert hatte.

Einfach nur zuzuhören, sei die grösste Herausforderung gewesen, erinnert sich Lucy Morse. «Ich war nicht da, um meine Meinung zu teilen. Ich wollte richtig zuhören, das Zuhören lernen und ausüben», sagt sie.

Es gibt ja Gemeinsamkeiten!

Basilia Brownell hatte bei «Frag einen Waffenbesitzer» einige Vorschläge für schärfere Waffenkontrollen parat, die vom psychologischen Gutachten bis zum subventionierten, obligatorischen Schiesstraining vor dem Waffenkauf reichten. Sie habe nicht gewusst, ob sich darüber mit Waffenbesitzern Gemeinsamkeiten finden liessen, erzählt sie. Dass sich die meisten für fast alle Vorschläge aussprechen würden, habe sie nicht erwartet. «Das waren einfach ganz normale Leute, die Waffen hatten», sagt die ehemalige Lehrerin.

Manchmal gibt es überraschende Reaktionen, selbst wenn man nichts Neues erfährt. Annette Cummings sprach mit einem ehemaligen Häftling, der aufgrund seiner Vorstrafe keine Mietwohnung fand. Von solchen Diskriminierungen hatte sie gewusst. «Das aber direkt von einem anderen Menschen zu hören und zu erfahren, wie es ihn betrifft . . . das schockierte mich», erzählt sie.

Die Gespräche lösen starke Gefühle aus. Manche Teilnehmer waren gerührt oder weinten sogar. Man sei ehrlich, schütte das Herz einem Fremden gegenüber aus, erzählen sie. Auch deshalb findet das Format enormen Zuspruch. Im Gegensatz zu Social Media, wo man unsichtbar bleibt und eine andere Meinung schon Hasstiraden auslöst, schaut man sich hier ins Gesicht. Man ist viel gehemmter, die eigenen Ängste oder den Frust an einem Menschen auszulassen, der einem direkt gegenübersitzt. So wollen sich viele Teilnehmer auch von der blinden Wut distanzieren, die sich im Netz in Sekundenschnelle verbreitet und den Graben in der Gesellschaft vertieft.

Man muss sich trotz Vorbehalten auf Unbekanntes einlassen und über den eigenen Schatten springen.

Wer hier teilnimmt, muss sich trotz Vorbehalten auf Unbekanntes einlassen und über den eigenen Schatten springen. Er muss bereit sein, einem Fremden in wenigen Minuten unbequeme Fragen zu stellen, etwa: «Wie hast du gemerkt, dass du nicht im richtigen Körper warst?» Oder: «Wie hast du dich gefühlt, als du obdachlos wurdest?»

Einige Teilnehmer sagen, sie hätten sich für die Einzelgespräche mehr Zeit gewünscht. Andere schätzen die Kürze, gerade wenn einmal die Chemie nicht stimmt. Sich mit so vielen Partnern auszutauschen, nennen die meisten als grössten Vorteil. Die tickende Uhr hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wer lang nach Worten suche, merke schnell, dass keine Zeit für Smalltalk bleibe.

Viele engagieren sich weiter nach den Gesprächen. Jemand hilft nun mit, Andersdenkende zu Mahlzeiten zusammenzubringen. Ein Student, der bei «Frag einen Muslim» dabei war, schwebt dasselbe an seiner Uni in New York vor. Lucy Morse möchte die Gespräche in ihrer Gemeinde nahe der kanadischen Grenze durchführen.

Messbar mehr Empathie

Diese Aussagen über das Format «Frag einen . . .» wurden von einer Untersuchung der University of Washington bestätigt, die der Radiosender KUOW in Auftrag gab. Die Umfrage mit Datenanalyse bei 113 Teilnehmern ergab, dass diese unmittelbar nach dem Treffen eine positivere Einstellung sowie eine erhöhte Empathie gegenüber den Gesprächspartnern zeigten. Das blieb sich auch nach drei Monaten gleich. Die Werte stiegen selbst bei Trump-Wählern und Waffenbesitzern, die anfangs am meisten Vorurteile hatten.

Aber nicht nur in den USA laufen landesweit Initiativen, um Menschen zum Dialog zu ermuntern. In Deutschland startete «Zeit Online» 2017 die Aktion «Deutschland spricht», die mittels einer Software zwei Wohnnachbarn mit unterschiedlichen politischen Ansichten paart, die sich zum Streitgespräch treffen. Auch hier konnte eine Studie nachweisen, dass bei Gesprächen unter vier Augen das gegenseitige Vertrauen steigt und man sich einander sogar politisch annähert.

Im letzten Herbst fand auch «Die Schweiz spricht» statt. Laut den Organisatoren arbeitet man bereits an einer zweiten Ausgabe.

Aus «Deutschland spricht» entstand die Plattform «My country talks», der sich Medienpartner in Italien, Grossbritannien, Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland und Norwegen anschlossen. Zu den Gesprächen meldeten sich Zehntausende von Menschen an. Im letzten Herbst fand auch «Die Schweiz spricht» statt. Laut den Organisatoren arbeitet man bereits an einer zweiten Ausgabe.

Bald virtuelle Begegnungen?

Radioproduzent Ross Reynolds sieht in «My country talks» ein vielversprechendes Modell, das auch bei KUOW und anderen öffentlichen Lokalradios in den USA funktionieren könnte. Denn bei allem Erfolg ist das Problem seines «Frag einen . . .» die limitierte Reichweite.

KUOW nutzt auch Synergien mit Lokalbehörden und Organisationen, etwa um Jungärzte des Kinderspitals mit Eltern oder Polizisten mit der Nachbarschaft zusammenzubringen. Das bewährte Frage-Antwort-Format könnte in verschiedenen Bereichen angewendet werden, beispielsweise in Firmen, Schulen, Vereinen oder Kirchgemeinden. Neu prüft KUOW eine virtuelle Version für «Frag einen . . .» mit Video-Anrufen. Dass der physische Kontakt dabei verloren gehe, nehme man in Kauf. Immerhin erlebe man auch so, dass einem gegenüber ein Mensch sitze, der Respekt und Achtung verdiene, auch wenn er anderer Meinung sei.