Halt auf freier Strecke: Im Osten breitete sich ein Gefühl von Zweitklassigkeit aus neben den weltläufigen Westlern (1990). (Bild: Raymond Depardon / Magnum)

Halt auf freier Strecke: Im Osten breitete sich ein Gefühl von Zweitklassigkeit aus neben den weltläufigen Westlern (1990). (Bild: Raymond Depardon / Magnum)

Vierzig Jahre Teilung brauchen vierzig Jahre Heilung

Die Deutschen haben eine lange gemeinsame Geschichte vormundschaftlicher Tradition und autoritärer Strukturen. Trotzdem sinkt das Ansehen der Demokratie mancherorts auf beängstigende Weise.

Marianne Birthler
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Als die Mauer gebaut wurde, war ich 13 Jahre alt und lebte mit meiner Familie in Ostberlin. Bis dahin war die Grenze noch offen, fünf Minuten zu Fuss war sie entfernt, und wir waren oft im Westen, besuchten Verwandte und Freunde, kauften ein, was es bei uns nicht gab, gingen ins Kino und besichtigten das neu gebaute Hansaviertel.

Im Sommer 1961 wurde unsere Welt von einem Tag auf den anderen sehr klein. Vom frühen Morgen des 13. August an wurden Strassen aufgerissen, Panzersperren errichtet, Bahnstrecken stillgelegt. Die SED liess die Berliner Grenze abriegeln, über die in den letzten Jahren immer mehr Bürger aus der ganzen DDR in den Westen geflohen waren. Auf beiden Seiten der Grenze standen Menschen mit fassungslosen Gesichtern. Manche hielten ihre Kinder in die Höhe, winkten einander zu und weinten. Die in der DDR lebenden Deutschen waren zu Gefangenen geworden.

Von Anfang an versuchten Menschen durch die noch verbliebenen Schlupflöcher in den Westen zu gelangen. Günter Litfin, 24 Jahre alt, wollte am 24. August durch den Humboldthafen in den Westen schwimmen und wurde von DDR-Grenzern erschossen. Er war der erste von mehr als hundert Menschen, die in den folgenden Jahren beim Versuch, in die Freiheit zu gelangen, an der Berliner Mauer ums Leben kamen. Viel mehr noch wurden bei Fluchtversuchen verletzt oder festgenommen. Zumeist wurden sie zu langen Haftstrafen verurteilt.

Der Grenzübergang «Checkpoint Charlie», Berlin 1960. (Bild: Hulton Archive / Getty)

Der Grenzübergang «Checkpoint Charlie», Berlin 1960. (Bild: Hulton Archive / Getty)

Doch die Mauer wurde nicht nur für diejenigen zum Verhängnis, die ums Leben kamen oder politisch verfolgt wurden. Sie beschädigte das Leben aller DDR-Bürger. Sie lebten ja nicht nur hinter einer Mauer, sondern auch in einer Diktatur: Als Untertanen der SED, der machthabenden Partei, wurden sie bevormundet, überwacht und, wenn sie nicht gehorchten, bestraft. Eigensinn, Individualität und die Sehnsucht nach Freiheit galten als verdächtig und wurden systematisch abtrainiert.

Die Angst vor Freiheit ist noch spürbar

Im Osten Deutschlands leben bis heute Millionen von Einwohnern, die die meisten Jahre ihres Lebens hinter realen und ideologischen Mauern verbracht haben. Nicht wenige von ihnen würden ihr Leben in der DDR völlig anders beschreiben, als ich das hier tue. Sie schätzen bis heute die Freiheit weniger als die vermeintliche Sicherheit der Diktatur, die Berechenbarkeit des Alltags und einen zwar dürftigen, aber für jeden erschwinglichen Lebensstandard.

Wie fast jedes autoritäre System entlastete auch die SED-Diktatur ihre Untertanen von Verantwortung und den Risiken und Anstrengungen, die das Leben in einem freien Land mit sich bringt. Wenn man das hinnahm oder sogar schätzte, lebte man vergleichsweise unbehelligt: Wer sich nicht bewegt, spürt keine Ketten. Kaum jemand im Osten Deutschlands wünscht sich heute wirklich, wieder in der DDR zu leben, aber die Sehnsucht nach Sicherheit und die Angst vor Freiheit und Verantwortung sind immer noch spürbar.

18. December 1963: Einwohner Westberlins stehen Schlange für ein Visum, um an Weihnachten Angehörige in Ostberlin zu besuchen. (Bild: Terry Fincher / Express / Getty)

18. December 1963: Einwohner Westberlins stehen Schlange für ein Visum, um an Weihnachten Angehörige in Ostberlin zu besuchen. (Bild: Terry Fincher / Express / Getty)

Natürlich gibt es solche Sehnsüchte und Ängste auch im Westen. Die Deutschen haben eine lange gemeinsame Geschichte vormundschaftlicher Tradition und autoritärer Strukturen. Sie teilen auch die Erfahrung der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs sowie das Wissen um den Holocaust und um Kriegsverbrechen. Doch schon in der Frage, wie in den beiden deutschen Staaten mit der Zeit des Nationalsozialismus umgegangen wurde, verfolgten die Bundesrepublik und die DDR völlig verschiedene Wege: Im Westen dauerte es mehr als eine Generation, bis Holocaust, Kriegsverbrechen und die Verfolgung und Ermordung zahlreicher Widerstandskämpfer zum öffentlich anerkannten Thema wurden.

Wo Hitler Westdeutscher war

Bis dahin hatten die Opfer der NS-Zeit einen schweren Stand, während viele Täter und Mitläufer des nationalsozialistischen Systems ihre beruflichen Karrieren nahtlos fortsetzen konnten. Dann aber entwickelte sich, vor allem aus der Zivilgesellschaft heraus, eine breitgefächerte Erinnerungskultur, in deren Folge die Verbrechen beim Namen genannt, die Opfer rehabilitiert und der Widerstand gewürdigt wurde.

Die DDR hingegen verstand sich seit ihrer Gründung als antifaschistischer Staat. Die früheren Konzentrationslager wurden zu Gedenk- und Pilgerstätten. Als Kinder legten wir Blumen an den Wohnhäusern nieder, an denen Gedenktafeln an Widerstandskämpfer erinnerten, die dort gewohnt hatten und von den Nazis ermordet worden waren. Freilich handelte es sich bei ihnen nahezu ausnahmslos um Kommunisten. Sozialdemokratischer, erst recht bürgerlicher oder christlich motivierter Widerstand spielte kaum eine Rolle. Auch die Millionen von ermordeten Juden waren zumindest in den 1950er und 1960er Jahren, als ich zur Schule ging, kein Thema.

Der Antifaschismus der DDR war schnell zum politischen Mythos geworden und vor allem zu einer mächtigen Waffe im Klassenkampf. Wer in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR gegen die neu errichtete Diktatur rebellierte, verschwand im Lager. Tausende starben, unter ihnen Hunderte junger Menschen, die Anfang der 1950er Jahre nach Moskau deportiert und erschossen wurden – zumeist unter dem Vorwand, dass es sich bei ihnen um Faschisten handelte. Das war ebenso falsch wie die Behauptung, der blutig niedergeschlagene demokratische Volksaufstand vom Juni 1953 sei faschistisch gesteuert gewesen.

Die Nazitäter – so lernte ich es in der Schule – waren inzwischen allesamt aus der DDR geflohen und lebten unbehelligt im Westen. Anscheinend auch alle Mittäter und Mitläufer, denn in der DDR schien es sie nicht mehr zu geben. Die Ostdeutschen waren die Guten, Hitler war Westdeutscher. Niemals zahlte die DDR auch nur eine Mark an Israel, und die Mauer wurde – logisch! – antifaschistischer Schutzwall genannt. Wie sollte unter diesen Umständen eine ehrliche Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung erfolgen?

Marx und sein Erbe hüben und drüben

Wer von den noch heute existierenden mentalen Mauern zwischen Ost und West spricht, darf diese historisch relevanten Unterschiede nicht missachten. Mindestens so wirksam war aber, dass sich zwei Gesellschaftssysteme entwickelten, die politisch, wirtschaftlich und ideologisch extrem gegensätzlich waren. Während sich in der Bundesrepublik unter dem Einfluss der Westmächte, verstärkt durch das Wirtschaftswunder, eine parlamentarische Demokratie und im Lauf der Jahrzehnte auch eine offene Gesellschaft entwickelte, wurde in der DDR eine kommunistische Diktatur nach dem Vorbild der Sowjetunion errichtet, ein Land der Mangelwirtschaft, aus dem Millionen in den Westen flohen, ein Land, in dem das Misstrauen regierte und die herrschende Partei das Volk immer stärker überwachte und kontrollierte.

Einer der vielen Witze, die in der DDR hinter vorgehaltener Hand weitererzählt wurden, ging so: Als Deutschland geteilt wurde, wurde auch das Erbe von Karl Marx aufgeteilt. Der Westen bekam das Kapital, und der Osten das Manifest.

Es gehörte seit je zu den Lieblingsbeschäftigungen der Ostdeutschen, sich mit dem Westen zu vergleichen. Dieser Vergleich weckte in ihnen aber zumeist keinen Stolz, sondern Sehnsucht und nicht selten Neid. Aber zu Mauerzeiten war das eben so: Der wohlhabende Westen und der schäbige Osten mit seinen grauen Städten – das waren halt zwei verschiedene Länder mit einer Grenze dazwischen, und wer es nicht aushielt, versuchte irgendwie in den Westen zu gelangen.

Erst der Fall der Mauer rückte die Unterschiede zwischen Ost und West in ein grelles, unbarmherziges Licht: Der Kontrast war offenkundig – mit Blick auf den Zustand der Städte und der Wirtschaft, die Einkommensverhältnisse und den Lebensstandard. Jetzt, im wiedervereinten Deutschland, zeigten sich auch die nicht so offensichtlichen, aber sehr spürbaren Unterschiede: Der Osten hatte eine andere Lebenskultur, andere Kommunikationsformen, und vielen mangelte es an der Fähigkeit, sich neben den selbstbewussten und konkurrenzerfahrenen «Wessis» zu behaupten. Hinzu kam ein Gefühl von Zweitklassigkeit neben den weltläufigen Westlern, die noch dazu keinen Anlass sahen, sich mit dem Erbe der SED-Diktatur auseinanderzusetzen – weder mit den Folgen der Unterdrückung oder dem Verrat, noch mit dem Abschied von lebenslangen Überzeugungen.

Einer 75-jährigen Frau wird beim Fluchtversuch durch den Tunnel an der Bernauer Strasse geholfen, wo 57 Ostberliner Anfang Oktober 1964 in den Westen flohen. (Bild: Fuchs / Three Lions / Hulton Archive / Getty)

Einer 75-jährigen Frau wird beim Fluchtversuch durch den Tunnel an der Bernauer Strasse geholfen, wo 57 Ostberliner Anfang Oktober 1964 in den Westen flohen. (Bild: Fuchs / Three Lions / Hulton Archive / Getty)

Gleichzeitig mit der Wiedervereinigung gab es im Osten noch einen anderen, sehr schmerzhaften Kampf: zwischen denen, die als Parteifunktionäre, Kaderleiter, Stasi-Offiziere, Schuldirektoren oder FDJ-Sekretäre die Diktatur gestützt hatten, und – auf der anderen Seite – jenen, die immer in Distanz zu den Machthabern gelebt hatten, als Akteure der politischen Opposition oder als Menschen, deren Leben durch Verfolgung, Haftstrafen, Bildungs- und Berufsverbote zerstört oder beeinträchtigt worden war.

Dazwischen die grosse Mehrheit derjenigen, die – mal mehr, mal weniger anständig – irgendwie durch die Zeit gekommen waren und jetzt versuchten, die eigene Biografie und Lebensleistung zu verteidigen, vor sich selbst, aber auch vor dem kritischen Blick des Westens. Dort gab es wenig Bereitschaft, sich differenziert mit den Biografien der Ostdeutschen zu beschäftigen, und manch Journalist oder auch Vorgesetzter witterte in jeder Lehrerin oder jedem Abteilungsleiter einen früheren Stasispitzel. Die Ostdeutschen reagierten gekränkt, oft auch wütend.

Mit dem Ende der SED-Diktatur war auch ein politisch gewollter und zweifellos sinnvoller Elitenwandel verbunden: Zahlreiche führende Mitarbeiter aus Justiz, Verwaltung, Polizei oder Universitäten, die ihre Funktionen nicht durch Qualifikation, sondern durch SED-Parteikarrieren erworben hatten, wurden völlig zu Recht abgelöst. Doch woher sollten neue, unbelastete Richter oder Verwaltungsfachleute kommen? In vielen Fällen wurden die frei gewordenen Stellen also nicht mit Ost-, sondern mit Westdeutschen besetzt.

Viel dramatischer als der politisch bedingte Elitenwechsel wirkten sich jedoch die rasend schnellen Veränderungen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt, aus. Sie hatten gravierende Brüche in den Berufsbiografien vieler Ostdeutscher zur Folge – entweder weil ihre Ausbildung und ihre Studienabschlüsse für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt nicht taugten oder weil ihre Arbeitsplätze nicht mehr existierten oder auch weil sie in der Konkurrenz mit aus dem Westen stammenden Bewerbern nicht mithalten konnten. Das wiederum lag nicht selten an gänzlich anderen Berufserfahrungen oder einer Arbeits- und Kommunikationskultur, die sich von der des Westens unterschied.

Die grosse Mehrheit der Ostdeutschen war von diesen Brüchen und Abbrüchen betroffen. Plötzlich wieder ganz am Anfang zu stehen, mit dem Gefühl, dass 20 oder 30 Jahre Berufserfahrung nichts mehr wert sind – das ist schwer in einem Alter, in dem andere die letzten Stufen einer erfolgreichen Karriereleiter erklommen haben und sich eines entsprechenden Einkommens und Ansehens erfreuen.

Auch die Statistiken zeigen deutliche Unterschiede: Durchschnittlich verdienen die Ostdeutschen 20 Prozent weniger als ihre Landsleute im Westen und verfügen über weniger als die Hälfte an Geld- und Immobilienvermögen. Und dort, wo in Deutschland Entscheidungen fallen – die grossen, wirklich wichtigen Entscheidungen –, kann man die Ostler mit der Lupe suchen. In den Top-Etagen von Universitäten, DAX-Unternehmen, Verlagen, Gewerkschaften, Bundeswehr und Medien regiert nach wie vor der Westen: Als Führungselite der Bundesrepublik gelten nach wissenschaftlicher Einschätzung zwischen 5000 und 10 000 Spitzenpositionen. Maximal zwei Prozent davon haben Ostdeutsche inne, obwohl diese etwa 17 Prozent aller Bundesbürger ausmachen.

Während von den 16 Mitgliedern der Bundesregierung immerhin zwei aus dem Osten kommen, sieht es auf der Ebene darunter anders aus: Von 35 Staatssekretären sind gerade einmal vier ostdeutscher Herkunft. Von den insgesamt 190 Vorstandsposten der DAX-Konzerne befinden sich nur drei in den Händen Ostdeutscher. Lediglich zwei von 200 Bundeswehrgenerälen sind ostdeutscher Herkunft, von den obersten Richtern der Bundesgerichte niemand.


Bemerkenswert ist auch die Machtverteilung im Osten selbst, also in den fünf neuen Bundesländern: Dort sind weniger als 25 Prozent der Positionen, die zur Führungselite gehören, von Ostdeutschen besetzt. Beispielsweise stammen in den dort ansässigen Unternehmen nur 25 Prozent der Leiter aus dem Osten. Nur drei von 14 Hochschulrektoren sind ostdeutscher Herkunft, und nur knapp 13 Prozent aller Richter an obersten Gerichten.

Warum ist das so? Mit dem Elitenwechsel nach dem Ende der Diktatur ist es nicht, jedenfalls nicht hinreichend, zu begründen. Vielmehr ist von Bedeutung, dass Karrieren über Jahrzehnte aufgebaut werden und von bestimmten Startbedingungen abhängen, nicht zuletzt von der Kultur, in der ein Mensch gross geworden ist und Verbindungen geknüpft hat. Ähnliche Erfahrungswelten, lebenslang wirkmächtige Verbindungen und eine gewisse, eher auf der Gefühlsebene angesiedelte kulturelle Nähe – all das begünstigt den Aufstieg. Die langwierigen Geflechte von Voraussetzungen und Bedingungen sind bei Ost- und Westdeutschen nach wie vor höchst unterschiedlich und wirken sich in hohem Masse aus, wenn es um die Besetzung von Top-Positionen geht.

Hinzu kommt, dass der Westen auch ohne den Osten, also auch ohne die Menschen aus dem Osten, gut funktionierte. Der Osten wiederum war vor und nach dem Mauerfall in hohem Masse auf den Westen angewiesen – auf sein Geld ebenso wie auf sein Know-how. Nach der Wiedervereinigung leisteten Abertausende von Beamten, Juristen, Verwaltungsfachleuten und Managern entscheidende Aufbauarbeit auf dem Gebiet der früheren DDR, um die Planwirtschaft in die Marktwirtschaft zu überführen, um das Land aus einer Diktatur in einen demokratischen Rechtsstaat zu verwandeln, um Strukturen, Gesetze und Verwaltungsverfahren an den Westen anzupassen.

Das war ein umfassender Prozess, der den Menschen viel abverlangte und alle Lebensbereiche wie auch den gesamten Alltag betraf. Einerseits stiess er auf viel Zustimmung – immerhin hatten ja die Bürgerinnen und Bürger der DDR selbst die Entscheidung getroffen, der Bundesrepublik beizutreten und möglichst schnell und umfassend deren Verhältnisse zu übernehmen. Andererseits aber brachte dieser Anpassungsprozess, so erfolgreich er auch war, Enttäuschungen mit sich. Sehr schnell stellte sich heraus, dass die Ostler als Konsumenten hochwillkommen waren, aber weniger als Arbeitskräfte. Und dass nichts, aber auch gar nichts von der DDR übrig bleiben sollte, auch nicht das, was ganz gut funktioniert hatte. Das wurde von vielen als Kränkung erlebt, wie der aus der DDR stammende «Zeit»-Journalist Christoph Dieckmann schreibt: «Der Westen brauchte keinen Osten; er war stabil und komplett. Er koppelte die ‹neuen Länder› an wie eine Lok die Wagen 12 bis 16. Bisweilen keuchte die Lok, doch fortan war der Osten Drittelland und Fünftelvolk und hatte sich der Mehrheitsgesellschaft und ihren Regularien zu fügen.»

Ja, die deutsche Einheit ist eine Erfolgsgeschichte. Und auf den ersten und vielleicht auch zweiten Blick sind die Deutschen zusammengewachsen. Ein gigantisches Sanierungsprogramm hat die zerfallenen Innenstädte wiederauferstehen lassen. Dort, wo Seen und Flüsse durch industriellen Dreck in stinkende Gewässer mit schillernder Oberfläche verwandelt worden waren, kann man heute wieder schwimmen gehen.

Die Frage der Herkunft ist noch von Belang

Und das Schönste und Wichtigste: Die einst hinter der Mauer gefangenen Ostdeutschen reisen durch die Welt und müssen sich auf der Strasse nicht mehr ängstlich umschauen, bevor sie einen politischen Witz erzählen. Für die Generation meiner Enkel, um die Jahrtausendwende herum geboren, sind SED-Diktatur und Teilung lang zurückliegende Geschichte, und die Frage, wer aus dem Osten und wer aus dem Westen kommt, entscheidet weder über ihren Bildungsweg noch über ihre Karrierechancen.

Und trotzdem ist die Frage immer noch von Belang. Die jungen Ostler fragen Opa und Oma nach deren Geschichten und versuchen, ihre Wurzeln zu finden. Und sie fragen sich, warum dort, wo ihre Eltern und Grosseltern den Niedergang einer Diktatur erlebten oder vielleicht sogar mit herbeiführten, das Ansehen der Demokratie beängstigend sinkt.

Angehörige der DDR-Grenztruppen tragen 1971 eine Person, die beim Fluchtversuch angeschossen wurde, durch die Grenzanlagen in Berlin. (Bild: AP)

Angehörige der DDR-Grenztruppen tragen 1971 eine Person, die beim Fluchtversuch angeschossen wurde, durch die Grenzanlagen in Berlin. (Bild: AP)

Neben den Erfolgsgeschichten der deutschen Einheit sind auch neue Mauern sichtbar und spürbar geworden. Mag sein, dass der Begriff «Mauer» für die nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West überzogen ist, zumal es ja kein tatsächliches Hüben und Drüben mehr gibt. Vielmehr leben viele ehemals Ost- und Westdeutsche heute in denselben Städten, sind Nachbarn oder Kollegen. Aber der Riss ist noch da. Und wenn man unter sich ist, nicht nur an den Stammtischen, wird – je nachdem – nach Kräften über die Westler oder die Ostler hergezogen.

Über die Ursachen der nach wie vor bestehenden Unterschiede in den Lebensverhältnissen einerseits und der mangelnden Repräsentanz Ostdeutscher auf der Ebene der Eliten andererseits mag es verschiedene Ansichten geben. Ihre Folgen jedoch beförderten seit Anfang der 1990er Jahre das Gefühl der Zurücksetzung und der Ungerechtigkeit.

Zwar zeigen Befragungen, dass Ost- wie Westdeutsche inzwischen eine «hohe allgemeine Lebenszufriedenheit» äussern. Doch während sich drei Viertel der Westdeutschen in der Bundesrepublik «politisch zu Hause» fühlten, bejahte dies nur knapp die Hälfte der Ostdeutschen. Und nicht nur das: Wahlergebnisse und Umfragen zeigen, dass das Verhältnis der Ostdeutschen zur Demokratie brüchig ist. Die Werte der Zustimmung zur Regierung und zu demokratischen Institutionen in Ostdeutschland unterscheiden sich deutlich von denen im Westen: Während im Osten deutlich mehr als die Hälfte der Menschen weniger oder gar nicht zufrieden mit der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland ist, sind es im Westen weniger – etwas mehr als ein Drittel.

Niemand ahnte in den glücklichen Tagen nach dem Fall der Mauer, dass deren Überwindung, ihre wirkliche Überwindung, nicht eine Frage von Jahren, sondern von Generationen ist. Und niemand darf erwarten, dass die Mauer irgendwann restlos aus unserer kollektiven Erinnerung getilgt sein wird, dass man sie ungeschehen machen könnte. Wenn eine tödliche Grenze durch ein Land geht, ist das wie eine grosse Wunde. Diese Wunde heilt nun schon seit 28 Jahren, aber sehr langsam. Und wenn die Ostdeutschen auch glücklich darüber sind, dass die Mauer schon so lange weg ist, spüren viele manchmal noch Trennung, Schmerzen, Trauer, Unverständnis. Und es werden Narben bleiben.

Eine meiner Enkeltöchter ist jetzt 13 Jahre alt – so wie ich damals, als die Mauer gebaut wurde. Und natürlich werde ich mit ihr immer mal wieder dorthin gehen, wo die Mauer stand – nur 300 Meter von meinem Haus entfernt. Ich wünsche mir sehr, dass meine Mauergeschichten ihr helfen, sensibel für Mauern jeglicher Art zu werden – und ihre Freiheit zu schätzen.

Die deutsche Politikerin Ma­ri­an­ne Birth­ler (Bündnis 90 / Die Grünen), 1948 in Ber­lin ge­boren, aufgewachsen in Ostberlin, ist durch die doppelte Erfahrung des Lebens in der DDR und im wie­der­ver­ein­ten Deutschland ge­prägt. Sie gehörte Mit­te der achtziger Jah­re zur Oppositionsbewegung ge­gen den SED-Staat. Nach der Wende leitete sie von 2000 bis März 2011 die Stasi-Unterlagen-Behörde. Ihre Erinnerungen «Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben» erschienen bei Hanser Berlin (2014). Der vorliegende Essay ist ein Vorabdruck aus dem Ausstellungskatalog «Unbuilding Walls. Vom Todesstreifen zum freien Raum» (Hrsg. v. Marianne Birthler, Lars Krückeberg, Wolfram Putz, Thomas Willemeit), der im Birkhäuser-Verlag im Rahmen der 16. Architekturbiennale in Venedig erscheint (22. Mai, ISBN 978-3-0356-1613-2, Fr. 22.90).

Marianne Birthler kuratiert an der diesjährigen Architektur-Biennale gemeinsam mit den Graft-Architekten Lars Krückeberg, Wolfram Putz und Thomas Willemeit den Deutschen Pavillon. Ihr Beitrag «Unbuilding Walls» reagiert auf gegenwärtige Debatten über Nationen, Protektionismus und Abgrenzung. Er legt besonderes Augenmerk auf herausragende stadträumliche und architektonische Beispiele, die sich mit Trennung oder Zusammenwachsen auseinandersetzen, wobei die innerdeutsche Grenze und die Berliner Mauer den Ausgangspunkt bilden.