Gastkommentar

Noch ist die Erinnerung heiss und national – das Jahr 1918, in dem die Imperien stürzten, sucht Osteuropa bis heute heim

Um zu verstehen, welche historischen Geister die Völker Osteuropas heute noch umtreiben, ist ein Blick auf 1918 unabdingbar. Stand das 100-Jahr-Gedenken an 1914 noch im Zeichen des europäischen Ausgleichs, lässt sich das, was auf das Ende des Ersten Weltkriegs folgte, nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen.

Oliver Jens Schmitt
Drucken
Zeichnung: Peter Gut

Zeichnung: Peter Gut

Geistig lebt Europa in einer Epoche der Gedenkjahre. Ihr Rhythmus bestimmt nicht nur den Buchmarkt, sondern auch den politischen Umgang mit der Vergangenheit. Das war auch 2018, hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, nicht anders. Auf den ersten Blick ging damit jene Entwicklung weiter, die 2014 begonnen hatte: die Wiederentdeckung des Ersten Weltkrieges als europäische Gedenkressource. Dennoch hat sich in den vier Jahren seit 2014 vieles im Umgang mit diesem Weltenbrand verändert.

2014 versammelte sich die politische Elite um eine Deutung des Geschehens von 1914, jene der «Schlafwandler», die gleichsam in den Krieg hineintaumelten, ohne dass die Schuldfrage eindeutig zu klären gewesen wäre. Christopher Clarks Buch schien eine Pflichtlektüre für jene zu sein, die staatstragend verkündeten, Europe dürfe und werde nie wieder in eine Krise geraten wie im Sommer 1914.

Kein europäischer Nenner mehr

Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die politische Debatte geprägt war vom Gefühl der Exotik. Die Welt von 1914 ist nicht die unsrige. Ihre gefährlichen Konstellationen der Macht gehören einer versunkenen Vergangenheit an. Mit dem Schauder über die Dramatik der Julikrise verbanden sich Selbstvergewisserung und Selbstgewissheit eines Nie-wieder. Clarks Deutung, die keiner der Mächte eine Alleinschuld am Kriegsausbruch zuwies, passte auch in das Selbstverständnis der EU. Diese meidet zwar in der Regel historische Bezüge. Eine wohltemperierte Deutung der europäischen Urkatastrophe wurde aber dankbar angenommen. 2014 war ein Gedenkjahr des europäischen Ausgleichs. Dies war auch möglich, weil inhaltlich nichts auf dem Spiel stand. Die Frage der deutschen Kriegsschuld weckt heute kaum mehr Emotionen.

Wer heute über die Friedens- und Territorialordnung von 1918 im politischen Raum spricht, muss dies mit Umsicht tun. Postimperiale Wunden sind kaum vernarbt.

Ganz anders ist die Bedeutung des Jahres 1918. Eine allgemeine, politisch ausgleichend wirkende Erzählung, auf die sich europäische Politiker beziehen, ist nicht entstanden. Denn beim Gedenken an 1918 geht es um viel mehr als bei der Debatte um 1914. Und es handelt sich um Entwicklungen, die nicht auf einen europäischen Nenner gebracht werden können. Zu tief ist der Gegensatz zwischen dem Westen einerseits, der Mitte und dem Osten des Kontinents andererseits sowie zwischen Siegern und Verlierern. Die Verbindung von 1918 zu heute ist unmittelbar. Damit entstand in Grundzügen die heutige politische Landkarte des Kontinents.

1918 beendete nur im Westen den Krieg. Gebietsverschiebungen im Westen des Kontinents waren vergleichsweise unbedeutend. Der Mitte und dem Osten des Kontinents hingegen brachte 1918 keinen Frieden. Von der entstehenden Sowjetunion bis nach Griechenland wurde weitergekämpft, in vielen Ländern vier bis fünf Jahre, also bis 1922/23. Im Osten war der Umsturz radikal. Zwischen 1917 und 1923 brachen die grossen Reiche zusammen, Russland, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, während das Deutsche Reich stark geschwächt wurde. Auf dem Boden der Imperien entstanden verschwundene Staaten wieder (Polen) oder neu (die baltischen Staaten, die Tschechoslowakei). Eine dritte Staatengruppe bestand aus stark erweiterten Vorkriegsstaaten (Rumänien, Jugoslawien). Einem vierten Typus hingegen gelang die Eigenstaatlichkeit nicht (Ukraine, Armenien, Georgien).

Neuer Bekenntniszwang

Was im Westen zumindest äusserlich Beruhigung bedeutete, war in der Mitte und im Osten eine Epoche des gesellschaftlichen Zusammenbruchs oder der politisch ebenso wirksamen Furcht vor einer bolschewistischen Revolution. Innenpolitisch kamen Verliererstaaten wie Bulgarien und Deutschland erst 1923 einigermassen zur Ruhe.

Den Westen und den Osten des Kontinents unterschied auch die Stabilität der Grenzen. Die deutsche Aussenpolitik der Weimarer Zeit erkannte die Westgrenze an, nicht aber die Grenze zu Polen. Als einziger Verliererstaat erzwang die Türkei schon früh militärisch eine Vertragsrevision. Auch andere Verlierer wie Bulgarien und Ungarn fügten sich nicht dem, was sie als Diktat empfanden. Der Vertrag von Trianon verpflichtete Ungarn zur Abtretung von zwei Dritteln seines Staatsgebietes und von Millionen ethnischer Ungarn. Österreich verzichtete mental auf das faktisch Deutschland übertragene Sorgerecht für die deutschsprachige Bevölkerung in der Tschechoslowakei und anderen Nachfolgestaaten, nicht aber auf die deutschen Südtiroler.

Ethnische Säuberungen, Vertreibungen und Massengewalt haben im 20. Jahrhundert viele Spuren der alten Imperien beseitigt. Diese hatten sich durch Vielsprachigkeit und komplizierte ethnische Siedlungsverhältnisse ausgezeichnet. Die Sieger von 1918 traten mit dem Anspruch auf, die Reiche, als Völkerkerker angesehen, durch demokratische Nationalstaaten zu ersetzen. Das Konzept der völkerrechtlich abgesicherten nationalen Minderheit wurde vertraglich festgelegt. Der Völkerbund sollte auf die Einhaltung dieser Rechte achten. Die neue Regelung aber schuf Bekenntniszwang und beseitigte Grauzonen, in denen Menschen sich situativ anpassen konnten. Andersartigkeit wurde sichtbarer denn je, der ethnisch andere zu einer Zielscheibe der neuen nationalen Mehrheiten.

Im östlichen Europa übernahmen die regionalen Sieger den französischen Verwaltungszentralismus, der die enorme ethnische und soziale Heterogenität nivellieren sollte. Polen, Jugoslawien, Grossrumänien und die Tschechoslowakei verstanden sich als Nationalstaaten. Tatsächlich waren sie nichts anderes als kleine Imperien, oftmals aus Gebieten mehrerer untergegangener Reiche hervorgegangen. Die meisten dieser kleinen Imperien wiesen bis zu einem Drittel der Bevölkerung auf, der offiziell als Minderheiten kategorisiert und tendenziell oder offen diskriminiert war.

Kleine statt grosse Imperien

Doch auch die Titularnationen waren alles andere als homogen. Rund 150 Jahre der Teilung hatten zu einer preussischen, österreichischen und russischen Sozialisierung von Polen geführt, die 1918 nicht einfach verschwand. Der Gegensatz zwischen ehemals habsburgischen Gebieten und Kernrumänien um Bukarest durchzieht die rumänische Gesellschaft bis heute. Während die Konstruktion einer staatstragenden Nation bei Polen und Rumänen vergleichsweise einfach verlief, scheiterte das Experiment einer tschechisch-slowakischen und einer südslawischen Nation, zu der Serben, Kroaten und Slowenen verschmelzen sollten, im 20. Jahrhundert gleich zweimal.

Die kleinen Imperien taten alles, um die grossen alten Imperien vergessen zu machen. Vor allem behaupteten sie, den Fortschritt darzustellen, Demokratie und Menschenrechte nach westlichem Muster zu bieten. Dieser Anspruch zerschellte rasch an der krisenhaften Realität. Mit Ausnahme der Tschechoslowakei glitten die kleinen Imperien, Polen zuerst, ab Mitte der zwanziger Jahre ab in autoritäre Diktaturen. Die so diversen Gesellschaften sollten gewaltsam zusammengezwungen werden. Demokratische Vielfalt schien ungeeignet bei einer Bevölkerung, die zu erheblichen Teilen einen als nationalen Gleichmacher auftretenden Staat ablehnte. Zwanzig Jahre nach 1918 fielen die kleinen Imperien unter dem Druck der totalitären Grossmächte Deutschland und Sowjetunion auseinander.

Im Zweiten Weltkrieg wurden parallel zum Ringen der Grossmächte zahlreiche regionale Kriege weitergeführt, die 1923 verebbt waren: Ungarn und Rumänien kämpften um Siebenbürgen, im östlichen Polen entbrannte ein erbarmungsloser ethnischer Krieg zwischen Polen, Ukrainern und Weissrussen, in der Shoah wurden Millionen Juden umgebracht, im Falle Rumäniens etwa in radikalisierter Kontinuität zu autoritären Regimen. In Jugoslawien schlug der Staatszusammenbruch 1941 in einen äusserst blutigen Bürgerkrieg um, der besonders im multiethnischen Bosnien ausgetragen wurde. Serben und Albaner massen sich in einer neuen Runde im Kampf um Kosovo. Gegen Kriegsende wurden zwölf Millionen Deutsche vertrieben.

Das kommunistische Experiment

Auf diese Massengewalt folgte das kommunistische Gesellschaftsexperiment, das in vielen Staaten die traditionelle ländliche Gesellschaft durch die Kollektivierung der Landwirtschaft zerschlug, gewachsene Eliten vernichtete oder marginalisierte und durch beschleunigte Urbanisierung und Industrialisierung die Gesellschaften tief veränderte. Die nach 1918 begonnene Nivellierung und Homogenisierung der Gesellschaften erreichte ihren Höhepunkt. Der Zusammenbruch des Kommunismus wurde auch deswegen bewältigt, weil strittige Grenzfragen von 1918 vielerorts nicht thematisiert wurden. Zu stark war die Verheissung von Wohlstand und Stabilität eines geeinten Europas. Die Gewalt vom Kaukasus bis nach Jugoslawien war mahnendes Gegenbeispiel.

Die Strahlkraft Europas hat stark abgenommen. Nationalistische Modelle werden von Russland und der Türkei nicht nur im Innern gepflegt, sondern nach Kräften exportiert. Nationalistisches Denken hat europäische Kerngebiete erfasst und ist nicht mehr als angebliches Spezifikum des Ostens. Wer heute über die Friedens- und Territorialordnung von 1918 im politischen Raum spricht, muss dies mit Umsicht tun. Postimperiale Wunden sind kaum vernarbt. Rumänien, Bulgarien und Ungarn verteilen Pässe an Landsleute jenseits der Grenzen, Österreich erwägt dies für Südtiroler. Kosovo und die Ukraine sind Beispiele für Konflikte, die auch auf die Entscheidungen der Sieger von 1918 zurückgehen. In Siebenbürgen schürt Budapest den ungarischen Nationalismus, während ethnische Rumänen immer mehr die Geduld mit einer korrupten südrumänischen Zentralregierung verlieren. Ehemalige imperiale Grenzen prägen immer noch innerstaatliche Mentalitätsräume von Galizien bis zur Vojvodina.

Hatte schon 2014 der Krieg im Osten im westlich dominierten Erinnern der EU kaum eine Rolle gespielt, so wird heute, in einer Zeit national zentrierter Erinnerung, in Brüssel, Paris und Berlin kaum verstanden, was 1918 im Osten bedeutet. Der Zusammenbruch der Imperien ist nirgends wirklich verarbeitet. Postimperiale Schmerzen sind in Russland, der Türkei und Ungarn besonders akut. Und ob multiethnische Staatsgebilde oder kompakte Nationalstaaten den historischen Fortschritt vertreten, wird kontroverser diskutiert denn je. 2014 war ein lauwarmes, doch europäisches Gedenkjahr. 2018 war für die Erinnerung heiss und national.

Oliver Jens Schmitt ist Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien.

Weitere Themen