Der dumpfeste Rausch von allen – Seite 1

Gerade ist das beliebteste Drogenfestival des Landes, das Münchener Oktoberfest, zu Ende gegangen. 6,2 Millionen Besucher wurden von den Veranstaltern gezählt, insgesamt 7,5 Millionen Liter Bier wurden getrunken. 85 Alkoholvergiftungen meldete die Münchener Universitätsklinik bereits zur Halbzeit des Festivals, der am stärksten betrunkene Patient hatte 3,14 Promille Alkohol im Blut. Zahlreiche Herzattacken mussten in der Klinik behandelt werden, die ein eigenes Ausnüchterungszentrum eingerichtet hatte.

Global Drug Survey 2018
ZEIT ONLINE ruft auf zur größten Drogenumfrage.

Zwei betrunkene Eltern warfen mehrmals einen Kinderwagen um, in dem ein Einjähriger lag, und wollten dann die Sicherheitskräfte verprügeln, die das Kind vor ihnen zu schützen gedachten. Betrunkene deutsche Männer versuchten sich gegenüber Frauen unterschiedlicher Nationalitäten an sexuellen Übergriffen. Andere betrunkene deutsche Männer zeigten den Hitlergruß. Der Münchener S-Bahn-Verkehr musste mehrere Male unterbrochen werden, weil betrunkene Oktoberfestbesucher sich auf den Gleisen verirrt hatten oder diese mit voller Absicht als Orientierung für den Heimweg benutzten. Unter dem Hashtag #leitkultur beschrieb ein Facebook-Nutzer seine Erlebnisse am nächtlichen Hauptbahnhof folgendermaßen: "Überall brüllende Besoffene, eine junge Frau kackt mitten zwischen den Fußgängern an die Laterne (keine Sorge, sie trug kein Kopftuch), alle taumeln hin und her wie bei einer Zombie-Invasion, Sicherheitsleute passen auf, dass die Zombies niemanden versehentlich auf die Gleise stoßen, überall schlafende Bierleichen, teilweise Kotze als Kissen." Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer lobte all dies als Ausdruck der deutschen Mehrheitskultur und forderte, dass der Begriff "Wiesn" endlich in den Duden aufgenommen wird.

"Eine gmiatliche Wiesn, eine wunderbare Wiesn", so lobte der Oktoberfestleiter Josef Schmid seine Veranstaltung zu ihrem Abschluss. Zur "Gmiatlichkeit" im Sinne der deutschen Leitkultur zählt also offenbar das uneingeschränkte Recht auf den Alkoholvollrausch, egal, welche Konsequenzen das für den Alkoholnutzer, seine Mitmenschen und seine Umwelt hat. Im Sinne einer liberalen Gesellschaft, die ihre Bürger als mündige Menschen betrachtet, ist diese Einstellung unbedingt zu begrüßen. Unverständlich bleibt allerdings der Umstand, dass sich das Recht auf Rausch auf dem Oktoberfest auch in diesem Jahr wieder auf die Einnahme einer einzelnen Substanz beschränkte. Im Gegensatz zum Alkoholsaufen war das Rauchen von Zigaretten, wie seit 2010 schon, außerhalb kleiner Sonderbereiche verboten, obwohl die durch Tabakgenuss erzeugten körperlichen Effekte weder zu sexuellen Übergriffen noch zu anderweitig aggressivem Verhalten verleiten. Ebenfalls nicht erlaubt war der Genuss von Marihuana, obwohl dieses – anders als der alkoholbedingte Rausch – den Nutzer meist friedfertig und sanftmütig stimmt. Dennoch meldete die Polizei schon zur Halbzeit des Oktoberfests doppelt so viele Festnahmen wie im Vorjahr wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, die meisten davon wegen Marihuana. Die Zunahme habe vor allem damit zu tun, dass die Wiesn nun flächendeckend mit Überwachungskameras versorgt sei.

Andere Städte, andere Drogen

Warum bloß werden harmlose Kiffer mit Überwachungskameras gejagt, während sich drumherum Horden aggressiver Trinker unbehelligt ins Koma bringen? Warum ist der eine Rausch erlaubt und der andere nicht? Das sind keine ganz neuen Fragen. Aber selten wird die Absurdität unseres gesellschaftlichen und kulturellen Umgangs mit Drogen derart sichtbar wie auf dem Oktoberfest im Besonderen und in München im Allgemeinen. Nirgendwo sonst wurden Kiffer schon seit Jahrzehnten so drakonisch verfolgt wie in der bayerischen Hauptstadt, und nirgendwo sonst wurde das Rauchverbot so früh und strikt durchgesetzt. Ich habe im vergangenen Jahr mehrmals versucht, im Münchener Nachtleben eine Bar zu finden, in der man rauchen darf, doch ohne Erfolg; selbst wenn sie wollten, könnten sie es nicht erlauben, klagten die Bar-Besitzer – ihre Nachbarn würden sie sofort beim Ordnungsamt anzeigen. München ist also nicht nur die Metropole des Vollsuffs, sondern auch das deutsche Kabul der Nichtraucher-Taliban. Wie kann es sein, dass ein gesellschaftlicher Konsens über den Drogenkonsum so inkonsistent und selbstwidersprüchlich ist?

Ich als Raucher bin jedenfalls froh, dass ich in Berlin lebe. Hier hat die Stadt ihre zaghaften Versuche, das Rauchverbot in Clubs und Bars durchzusetzen, schon vor einigen Jahren wieder eingestellt. Dazu ist das Publikum zu stoisch und renitent, und die soziale Kontrolle, die Blockwartmentalität der Bewohner scheint nicht so stark wie in München zu sein. Ähnlich ist es mit dem Marihuanakonsum. Wer etwas kaufen möchte, kann das im weltbekannten Görlitzer Park tun oder kommt auch schnell an einen Händler, der ihm höherwertige Substanzen zu beschaffen vermag; der Verfolgungsdruck durch die örtliche Polizei ist, sagen wir einmal, gering. Auch in Berlin darf man natürlich nicht darüber reden, welche Drogen man an welchen Orten nimmt, denn illegal ist das Ganze ja auch hier immer noch. Also lassen Sie es mich allgemein formulieren: Man vergleiche die von betrunkenen Männern beherrschte Stimmung auf dem Oktoberfest mit den entspannten Vibrationen in einem Berliner Technoclub, in dem das Publikum vor allem synthetische Drogen konsumiert hat, die das individuelle Glücksgefühl steigern sowie die Kontaktfreudigkeit und den Wunsch nach gemeinschaftlichem Erleben. Wenn man das tut, wird man sich hinterher fragen, warum gerade die Drogen, die euphorisch, weich und zugänglich machen, verboten sind – während die Droge, die einen aggressiv und zudringlich werden lässt, erlaubt und gesellschaftlich akzeptiert ist.

Drogen sind auch Mittel zur Selbsterkenntnis

An der Suchtproblematik kann es nicht liegen: Abhängig werden kann man von Alkohol ebenso wie von Ecstasy oder Marihuana oder von Koffein. Wäre es nicht vielleicht doch einmal an der Zeit für einen weniger absurden, weniger arbiträren Umgang mit Drogen? Sollte man nicht doch einmal neu darüber nachdenken, warum wir verschiedene Rauschmittel so ungleich behandeln? Wobei es ja durchaus Stimmen gibt, die für Gleichbehandlung plädieren – aber dann nur im Verbot. Kaum sind die Kohorten von Experten verstummt, die uns jahrelang auf allen Medienkanälen über die Gefahren des Nikotingenusses aufklärten, schwillt schon der Chor derjenigen an, die das Alkoholtrinken in der Öffentlichkeit verbieten möchten; sie wechseln sich mit jenen Experten ab, für die "Sitzen das neue Rauchen" ist; oder mit jenen, die den Konsum von Zucker generell verringern oder verbieten wollen. Wenn man all diese Vorschläge zusammennimmt, ergibt sich das puritanische Wunschbild eines dauerhaft nüchternen, stets in Bewegung befindlichen und zwischen Arbeitsstätte und Fitnessstudio hin und her hechelnden Menschen, der seine ganze Gesundheit und Körperkraft in den Dienst einer ebenso formierten wie freudlosen Gesellschaft stellt. Kann man das wollen? 

Nein. Drogen sind auch ein Mittel zur Selbsterkenntnis – und zu der Erkenntnis, dass das eigene Selbst sich eben nicht in den Zuschreibungen erschöpft, die ihm von der Gesellschaft aufgeprägt werden. Drogen bewirken eine "Disidentifizierung", wie der spanische Autor Paul P. Preciado in seinem Pamphlet Testo Junkie – Sex, Drogen und Biopolitik schreibt: "Disidentifizierung ist eine der Bedingungen des Auftretens der Möglichkeit, die Realität zu transformieren." Drogen können uns guttun; sie können uns dabei helfen, zu einem Menschen zu werden, der wir noch nicht sind und also mit unserer Subjektivität zu experimentieren – sofern wir selbstbestimmt und verantwortungsvoll mit ihnen umgehen. Aber den selbstbestimmten und verantwortungsvollen Gebrauch lernt man nicht in einer Umgebung, die den Drogenkonsum in rational nicht nachvollziehbarer Weise mit vielen Verboten und wenigen, ihrerseits nicht nachvollziehbaren Erlaubnissen reguliert. 

Immerhin, was den medizinischen Gebrauch von Cannabis und synthetischen Drogen angeht, setzt allmählich ein Umdenken ein. Für Schmerzpatienten ist Cannabis in einigen Ländern, seit Kurzem auch in Deutschland, erlaubt. Und Psylocybin – der Wirkstoff aus psychedelischen Pilzen – wird seit einer Weile in den USA zur Therapie von Angststörungen und Depressionen verwandt. Peter Gasser, ein schweizer Psychotherapeut, behandelt Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen erfolgreich mit LSD und MDMA. Der deutsche Autor Paul-Philipp Hanske hat vor zwei Jahren in seinem Buch Neues von anderen Seite sogar schon eine "Wiederentdeckung des Psychedelischen" konstatiert.

Für einen Relaunch der Drogendebatte

Psychedelische Drogen sind ohne Frage gefährlich. Wer nicht genau weiß, was er da nimmt; wer falsch dosiert oder die Drogen in der falschen Umgebung einwirft, kann auch auf sehr schlechte Trips kommen. Wer diese Drogen richtig benutzt, kann dabei aber auch tatsächlich – um ein Wort aus der heute so verpönten Hippie-Kultur der Sechziger- und Siebzigerjahre zu benutzen – bewusstseinserweiternde Erfahrungen machen, die ein ganzes Leben zum Positiven verändern können. Das belegen nicht nur die euphorischen Statements aus den Pionierjahren der psychedelischen Kultur von LSD-Aposteln wie Timothy Leary, sondern auch die Erfahrungsberichte, die der Psychotherapeut Gasser in den letzten Jahren von seinen Patienten gesammelt hat – von Menschen, die in Alter, Verhalten und sozialem Hintergrund denkbar weit von den "Turn on, tune in, drop out"-Hippies der Sechzigerjahre entfernt sind.  

Drogen sind gefährlich, schreibt auch Paul-Philipp Hanske, aber die Einschätzung ihrer Gefährlichkeit ist kulturell stark verzerrt. Dass LSD Ende der Sechzigerjahre verboten wurde, lag nicht an seinen physischen und psychischen Nebenwirkungen und Risiken, sondern an der Verbindung von LSD mit der von dem damaligen US-Präsidenten Richard Nixon entschieden bekämpften Gegenkultur; es war ja auch Nixon, der 1972 jenen nicht zu gewinnenden "war on drugs" entfachte, an dessen Folgen die Welt bis heute leidet. Das ist jetzt alles fünf Jahrzehnte her. Wäre es nicht an der Zeit für einen Relaunch der Drogendebatte? Für eine Deprogrammierung unseres immer noch vor allem an kulturellen Gewohnheiten orientierten und von den dazugehörigen politischen und industriellen Lobbys gesteuerten Diskurses darüber, welche Drogen man unter welchen Umständen nehmen darf oder sollte und welche nicht? Sicher wäre es kein gutes Zeichen für eine freie Gesellschaft, wenn man einen – mir und vielen anderen Menschen sehr unangenehmen – asozialen Exzess wie das Oktoberfest verböte. Sollen die Leute da halt saufen, grölen und kotzen. Aber mit welchem Recht dürfen dieselben Politiker, die diesen asozialen Exzess zum Bestandteil der deutschen Leitkultur verklären, mir und anderen Menschen jene Drogen verbieten, die uns aufgeschlossener machen: weicher, sozialer und veränderungsbereiter?