Viel Lärm um nichts: Künstliche Intelligenz wird nie ein eigenes Bewusstsein entwickeln, weil ihr die Neugierde fehlt

Der Mensch fürchtet sich vor den Maschinen, die er selbst geschaffen hat. Doch begeht er dabei einen folgenreichen Denkfehler: Wer viele Daten speichern und verarbeiten kann, ist deshalb noch lange kein eigenes bewusstes Wesen. Beitrag zu einer laufenden Debatte.

Hans Widmer
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Was versteckt sich hinter der Tür? Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Das unterscheidet ihn von der künstlichen Intelligenz. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Was versteckt sich hinter der Tür? Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Das unterscheidet ihn von der künstlichen Intelligenz. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Was künstliche Intelligenz (KI) alles kann, besser kann als Menschen, steht gegenwärtig in jedem Lokalblatt. Hier sei bloss zusammenfassend festgestellt: Diese vielbeschworene KI wird das menschliche Leben zünftig erleichtern, von der Bewahrung der Gesundheit bis zur Bewahrung der Artenvielfalt, aber sie wird die Quintessenz des menschlichen Daseins nicht einmal berühren. Der Mensch muss noch immer aufwachsen, werden, sich einfügen, lieben, Abschied nehmen.

Zwar beschwört manch ein Autor Gefahren herauf von einer totalen Überwachung des Individuums bis hin zu einem Bewusstsein der weltweit vernetzten Rechenmaschinen, denen es einfallen könnte, die Menschheit auszulöschen. Doch auch wenn diese hilfreichen Maschinen unendlich viel wissen werden, ein Bewusstsein werden sie niemals haben. Das stellt sich als trivial heraus, wenn man weiss, was denn eigentlich Bewusstsein ist.

Für ein unerschütterliches Verständnis genügen allerdings ein paar Stichworte nicht. Folgt man hingegen den grossen Entwicklungssprüngen von ersten Nervensystemen bis zum Bewusstsein, tritt dessen mit der KI inkommensurable Natur klar hervor – bei aller Verwandtschaft in puncto Datenverarbeitung.

Der Zweck der ersten Nervensysteme ist leicht einzusehen: Koordination von Organen – sonst könnten sie sich gar nicht erst ausbilden; sowie Koordination des Bewegungsapparates – sonst wäre Fortbewegung nicht möglich. Sie treten bei Mollusken auf. Wenn bei einer Seeschnecke die Röhre zur Einleitung von Atemwasser berührt wird, meldet das einer der Sensoren dem zuständigen Ganglion, dieses zieht den vorbereiteten Schluss, die Kiemen zurückzuziehen, um den Körper zu schützen, und gibt an die zuständigen Muskeln entsprechende Impulse. Die Seeschnecke verhält sich, als hätte sie einen «Willen»: Sie ist wach, beschliesst und setzt den Beschluss um.

Bewusstsein dockt an Lebensantrieb an

Doch Achtung: Der Ursprung des Willens der Seeschnecke liegt nicht in ihrem Nervensystem. Ein Wollen ist allem Lebendigen a priori eingeschrieben, definiert Leben – und Nervensysteme sind lediglich Hilfsorgane für die Umsetzung dieses Wollens. Woher denn die Verhaltensvorschrift im Ganglion? Sie hat sich im evolutionären Innovationsprozess über Jahrmillionen als das herausgebildet, was der Spezies die grössten Überlebenschancen gibt.

Der Urantrieb auch des Bewusstseins ist der Lebenswille des menschlichen Organismus, dem es aufgesetzt ist. Es spukt nicht, wie bisweilen der Eindruck entsteht, im Leerlauf durch das Gehirn. Das Geistige und das Körperliche sind keineswegs unabhängige Entitäten, womit sich nebenbei der von Platon und Descartes postulierte Dualismus als fundamental unhaltbar erweist.

Leben mit seinem Drang zu Fortpflanzung und Stoffwechsel kann die Wissenschaft beschreiben, dessen Genese jedoch nicht rekonstruieren, geschweige denn im Labor synthetisieren. Die unauflösbare Koppelung von Bewusstsein an Lebenswillen und zugleich das Unvermögen, Leben zu synthetisieren, nehmen der künstlichen Intelligenz von vornherein jede Chance, Bewusstsein zu erzeugen.

Leben ist Lernen

Leben ist durch stetes Lernen gekennzeichnet. Dafür gibt es zwei Zeithorizonte: den sich über Jahrmillionen erstreckenden der Evolution der Spezies und jenen der individuellen Exemplare, die sich in Realzeit an die konkreten Verhältnisse in ihren Nischen anpassen. Wenn die Seeschnecke wiederholt berührt wird und damit keine Belastung des Organismus einhergeht, mildert das Nervensystem die Heftigkeit des Kiemenrückzugs – ist umgekehrt eine Berührung mit einer schmerzenden Einwirkung verbunden, verstärkt es den Reflex. Physiologisch wird dies durch Verminderung oder Vermehrung der Nervenverbindungen vom Ganglion zum Muskel erreicht, nach dem Kriterium allen Lernens: Wenn es guttut, dann mehr davon.

So funktioniert auch das Lernen des menschlichen Säuglings: Erst schnüffelt er unbeholfen an der Brustwarze der Mutter, und allmählich merkt sich sein Nervensystem, welche motorischen Impulse den gewünschten Anschluss schaffen und dem Organismus guttun. Ebenso erlernt man erfolgreiches zwischenmenschliches Verhalten. Was sich als tragfähig erweist, lehrt Erfahrung, nicht Instruktion.

Kreativität ist Versuch

Das Schöpferische in Nervensystemen entspringt blinden Versuchen und dem Merken der erfolgreichen davon – genauso wie Mutation und Selektion in der Evolution.

Eine Labormaus findet den Ausweg aus einem Labyrinth, indem sie es in einer Sackgasse versucht, sich den Irrtum merkt und fortan vermeidet. Zwangsläufig engt sich ihre Wahl auf den richtigen Weg ein.

Das ist physisch noch ziemlich aufwendig. Der Hund kann es rationeller: Wenn er jenseits eines Hindernisses zum Meister gepfiffen wird, liest sein Gehirn das Gelände, legt probeweise Wege hinein, wägt ab und wählt den besten.

Noch besser kann’s der Schimpanse: Wenn er eine Banane in den Käfig holen will, die er mit den Armen nicht erreichen kann, erinnert er sich eines (versteckten) Stabes, probt in seiner Vorstellung, ob dieser den Zweck erfüllen würde, und holt damit die Banane herein. Der Schimpanse verarbeitet nicht nur das, was er sieht, sondern auch das, was in seiner Erinnerung gespeichert ist.

Ist das schon Bewusstsein? Nein, denn die Reaktionen sind noch stereotyp, auch wenn Erinnerung mitwirkt; es gibt kein Werweissen und, wenn eine Lösung gefunden ist, kein Zurück. Auch kann selbst der Schimpanse nicht «ich» sagen, obwohl er sich in einem Spiegel erkennt – was ja schon der Elster gelingt.

Dennoch ist es zum Menschen nur ein kleiner physiologischer Schritt. Dessen praktische Auswirkungen bedeuten allerdings einen gigantischen Sprung: der Ausbau der Speicherkapazität für Informationen. Wenn nämlich der Hund mögliche Wege zum Meister in die vorgestellte Landschaft legt oder der Schimpanse sich den Gebrauch eines Werkzeuges vorstellt, so sind das Probehandlungen, und Probehandlungen sind die Vorstufe zu Gedanken.

Die Speicherkapazität

Für wahrscheinlich gilt, dass eine winzige Genveränderung das Gehirnwachstum beim Menschen steigerte, sich der Erfolg davon mit sich selbst multiplizierte und zur dreifachen Kapazität gegenüber andern höheren Primaten führte. Die schier beliebig ausbaubare Datenbank im Neocortex speichert das, was eingelesen wird, und enthält – trotz permanentem Ausmisten – bald einmal sehr viel mehr als die Programme der Instinkte oder das, was unmittelbar gesehen, gehört, berührt, eingesehen wird. Sie enthält Erinnerungen, Erfahrungen, Eingeübtes, Wissen, Erkenntnisse, Überzeugungen.

Während alles Instinktive von Geburt an verfügbar ist, bauen sich diese Wissensbestände erst nach der Geburt auf, selbst Daten über den eigenen Körper müssen ab ovo eingelesen werden. Beispielsweise reagiert ein Säugling auf Berührung in den ersten Monaten diffus, weil er nicht ausmachen kann, wo genau er berührt worden ist. Noch mit zwei Jahren sagt ein Kind ohne weiteres, es habe Bauchweh, hat aber eine Mittelohrentzündung. Allmählich werden neben dem Körperbild, eigene Gefühle, Wissen, Herkunft eingespeist – die Ingredienzen zum Selbst.

Man darf, was Datenmenge und -zugang angeht, gewiss an Google denken, doch würde das wesentliche Stück fehlen: die Neugier auf die Daten. Diese kann nur einem Wollen entspringen – dem Lebenswillen des Organismus, dem das Bewusstsein aufgesetzt ist.

Der zweite Schritt hin zum Bewusstsein ist die Datenverarbeitung. Informationen, die übergeordnete Handlungen erfordern, gehen direkt zur Schaltzentrale, die den Zugriff auf die Datenbank hat – nicht wie beim Tier, zu den Instinkten und ihren Sofortprogrammen. Diese kann ein ungleich grösseres Universum an Problemlösungen abrufen bzw. durch Rekombination von Bewährtem erzeugen.

Durch die vor 100 000 Jahren aufkommende Sprache wird das Vermögen der Schaltzentrale noch um Grössenordnungen potenziert. An die Stelle von Probehandlungen durch vorgestellte Bildfolgen und Bildkombinationen treten Begriffe und ihre logischen Verknüpfungen zu Sätzen und Schlüssen. Nun können Experimente ausgedacht, Gedankengebäude, ganze Theorien errichtet werden.

Zum Schluss: das Selbst

Die Fähigkeit der Schaltzentrale, Gedanken hervorzubringen, heisst Bewusstsein. Dieses kommt nicht umhin, alle Daten über eigenen Körper, Gefühle, Wissen, Herkunft zu einem Selbst zusammenzufassen. Es denkt das Selbst, spricht davon als «ich», bezieht, was ihm begegnet, auf diese Instanz.

Ein Reflex hält es im Wachzustand permanent am Denken – so wie das Reh auch beim Äsen permanent die Umgebung nach Gefahren absucht. Das Selbst kann frei durch seine gespeicherten Informationen wandern, vorwärts und rückwärts, kann zu Schlüssen kommen oder nicht, kann Schlüsse umstossen, Handlungen aufschieben, kann fokussieren bis hin zu sich verbeissen. Dabei ist es nicht gewahr, dass die Aufträge letztinstanzlich vom Unbewussten kommen. Ohne diese zwar irritierbare, aber unbestechliche Oberinstanz wäre es verloren – und die Menschheit längst in den Binsen.

Diese drei: Speicherkapazität, Rekombination von Wissensbeständen und Ausbildung eines Selbst verstärken einander reihum in den paar Millionen Jahren der Autodomestikation des Menschen. Wenn sich auch seine Fähigkeiten hoch über jene der Vorfahren ausbilden, führen sie zunächst nicht weiter als zum trickreicheren Primaten. Was zum Menschen noch fehlt, ist Gratifikationsaufschub: Investitionen ohne Gewähr auf Dividende.

Häufig verwechseln Menschen Wollen und Wünschen. Wünsche entspringen Neigungen, Antrieben, Trieben, deren Ausleben wohl Spannungen abbaut; sind sie jedoch abgebaut, ist nichts da, keinerlei Erfüllung, keinerlei Zuwachs an Persönlichkeit. Wille hingegen ist die Resultante eines Abwägens zwischen unmittelbarem Gewinn und höheren Zielen, die nur mit Vorleistungen zu erreichen sind. Erst wenn Menschen ihre Kräfte auf ihnen angemessene Ziele lenken und die Spannung von den Vorleistungen bis zum vielleicht ausbleibenden Ertrag aushalten, wachsen sie zu dem heran, was sie sein können.

Nicht nur hat der Mensch seine Bedürfnisse und Sehnsüchte vom Unbewussten, sondern dieses spendet dann auch die Empfindung von Erfüllung, und über die ganze Lebensspanne von Glückseligkeit. Da kommt künstliche Intelligenz nicht mit, auch wenn sie die Datenverarbeitung, der wir auf dem Weg zum Bewusstsein begegnet sind, besser kann als das menschliche Gehirn.

Hans Widmer ist promovierter Nuklearphysiker, Unternehmer und freier Autor. Zuletzt erschienen: «Das Modell des konsequenten Humanismus» (Rüffer & Rub, 2013).