Mit dem Aloisiuskolleg verschwindet das älteste Jesuiteninternat Deutschlands

Das älteste Jesuiteninternat in Deutschland schliesst. Es ist nicht nur das jüngste Opfer des grossen Internatesterbens, mit ihm verschwindet aus Bonn ein letzter Glanz der alten Bundesrepublik. Ein Ehemaliger berichtet.

Moritz Eichhorn
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Das Internat ist frisch verwaist. Die Luft in den Zimmern verrät, dass hier letzte Nacht noch geschlafen wurde. Am Eingang zur Mensa ist eine Stoffserviette mit frischen Flecken zurückgeblieben. Doch weit und breit keine Seele. Es sieht am Bonner Aloisiuskolleg (Ako) mehr oder weniger so aus, wie wohl an jedem ersten Tag der grossen Ferien seit seiner Eröffnung 1927. Nur ist die Leere diesmal nicht vorübergehend: Das älteste Internat in jesuitischer Trägerschaft in Deutschland wurde Mitte Juli geschlossen.

Für sich genommen ist das nichts Ungewöhnliches. In Deutschland schliessen viele Internate. Genaue Zahlen gibt es zwar nicht, aber gut ein Drittel der katholischen Einrichtungen musste in den vergangenen zehn Jahren dichtmachen. Doch dieses Internat verstand sich nie als Teil von Trends. So wie es auf dem Berg über dem ehemaligen Bonner Diplomatenviertel thronte, so schien es auch über den Dingen zu stehen. Es gehörte zum Inventar der alten Hauptstadt. Man konnte nicht vollständig von ihr erzählen, ohne es zu erwähnen. Und nachdem alle anderen Souvenirs aus Hauptstadtzeiten nach und nach verschwunden waren, haftete am Kolleg auf dem Berg der letzte Glanz der Bonner Republik.

Latein als erste Fremdsprache

Zu deren Zeiten galt das Ako als erste Schule am Ort. Damals nur für Buben. Hier machte Philipp von Boeselager, einer der Verschwörer des Hitler-Attentats, das Abitur. Auch Thomas de Maizière, später Verteidigungs- und Innenminister, war am Ako. Der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff ging mit dem Entertainer Stefan Raab in den Unterricht. Der Trompeter Till Brönner und der Oscarpreisträger Florian Henckel von Donnersmarck lernten ebenfalls auf dem Berg. Herzstück war eine ehemalige Villa des Bankiers von der Heydt. Rilke dichtete darin. Von der Terrasse blickte man auf den Rhein. Zu ihren Füssen erstreckte sich das Schulgelände mit Pferdekoppel, Tennisplätzen und der grossen Kirche. Eine Sternwarte krönte einseitig das Schulgebäude. Latein war für die meisten erste Fremdsprache, wer wollte, konnte das Graecum erwerben. Ein Austausch mit Eton gehörte dazu und das Gefühl: So wird es bleiben.

Auch deshalb kam die Ankündigung der Schliessung im Frühjahr – keine zwei Monate vor Schuljahresende – für viele überraschend. Die zurückgehenden Anmeldezahlen waren zwar bekannt, aber so lange schon, dass sie ihre Bedrohlichkeit verloren hatten. Noch zu Weihnachten schrieb Rektor Martin Löwenstein zur Zukunft im jährlich erscheinenden Kollegsheft: «Nach allem, was ich sehe, bin ich da sehr optimistisch.» Was nun auch die Spitze des Berges erreicht hat, galt im Tal seit Jahren.

Seit 1999 halbierten sich die Ministerien. Die wichtigen Teile zogen nach Berlin. In Godesberg, Bonns «guter Stube», bestimmte der Geschmack der höheren Beamten und Hauptstadtentourage nicht mehr die Auslagen der Geschäfte. Wo früher Boutiquen britischer Männermode ein gutes Auskommen fanden, siedelten sich Nippesläden und Hörgerätespezialisten an. Die Stadt suchte nach neuen Einkommensquellen und fand sie beispielsweise im Medizintourismus. Bis vor kurzem rangierte man bei der Zahl der Medizintouristen nur hinter München. Auf dem Theaterplatz im Zentrum versammelten sich an den Sommerabenden nun vollverschleierte Frauen aus den Emiraten. Der öffentliche Raum veränderte sich. Auf dem Berg schien die Zeit stillzustehen.

Bonn wird Provinz

Mit den Botschaften verschwanden kaufkräftige Kunden, sie hatten dem Ort eine Weltläufigkeit verliehen, die ihrer Grösse spottete. Aber wichtiger noch, auch die vielen Polizisten, die bis dahin alles bewacht hatten, waren plötzlich weg. Das Gefühl umfassender Sicherheit verflüchtigte sich. Zurück blieben viele Ortskräfte der Auslandsvertretungen. Sie trugen dazu bei, dass sich die Koblenzerstrasse, die sich durch den Stadtkern zieht, nur noch Bagdad-Allee nennt. Shisha-Bars und Handyshops mit arabischen Schildern säumen sie heute. In die SPD-Baracke zog ein «Vapiano». Die ehemalige Parteizentrale der CDU wurde gesprengt.

Am Ako stellte sich heraus, dass es korrumpiert war. Anfang 2010 machte der Rektor des Berliner Jesuitenkollegs Canisius systematische Missbrauchsfälle der siebziger und achtziger Jahre an seiner Schule öffentlich. Daraufhin brachen auch Betroffene der beiden anderen deutschen Jesuitenschulen ihr Schweigen. Auch in St. Blasien und am Ako hatte es sexuelle Übergriffe gegeben. Gegen Pater S., der vierzig Jahre am Ako in leitender Funktion gewirkt hatte, wurde bis zu seinem Tode ermittelt. Sein Ziehson, Pater Schneider, der damals Rektor war, musste zurücktreten. Vor Gericht versuchten Betroffene die Schliessung der ganzen Schule zu erzwingen. Die Institution wankte. Doch sie stürzte nicht.

«Aber davon haben wir uns nie wirklich erholt», sagt Johannes Siebner, der Obere der deutschen Jesuiten, im Hinblick auf die sinkenden Anmeldezahlen fürs Internat. Siebner kam nach der Katastrophe 2011 als Rektor nach Bad Godesberg, damals noch als Pater Siebner. Seit 2017 steht er als Provinzial allen Jesuiten in Deutschland, Dänemark und Schweden vor. Siebner sollte am Ako aufräumen. Er sorgte für Transparenz. Zuvorderst beendete er die Vermischung von pädagogischer Arbeit und Freizeit der Erzieher. Das Problem daran war, dass gerade diese Intimität einen grossen Teil der Anziehungskraft ausgemacht hatte. Charismatische Erzieherpersönlichkeiten konnten sich in Freiräumen entfalten. Sie zogen die Jugendlichen in ihren Bann, gaben ihnen das Gefühl, Teil von etwas Besonderem zu sein. Doch ohne Kontrolle ermöglichten diese «Machtinseln», wie einer der Missbrauchsberichte sie nennt, erst die Übergriffe. «Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille», sagt Siebner.

Missbrauchsskandal als Todesstoss

Die Organisation der Betroffenen, der Eckige Tisch, hat die Schliessung begrüsst. Andere Ehemalige finden, wenigstens hinter vorgehaltener Hand, hier werde absichtlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. «Der Orden will wohl Busse tun, oder er hat einfach die permanent schlechte Presse satt», sagt einer. Teile der Stadtgesellschaft haben über die Jahrzehnte das Gefühl entwickelt, das Internat gehöre auch ihnen. Das können andere nicht einfach schliessen.

Doch die Zahlen sprachen gegen eine Fortsetzung. «Das Internat hat Kapazitäten für 100 Schüler, bei 80 ist es wirtschaftlich, bei 60 hätten wir weitergemacht, aber es gab nur noch 50 Anmeldungen», heisst es am Ako. «Wirtschaftlich und pädagogisch wäre das nicht mehr zu verantworten gewesen», sagt Löwenstein. Nur die Internen in ihrem letzten Jahr können noch im Rahmen einer Art Wohngemeinschaft nächstes Jahr das Abitur ablegen.

Provinzial Siebner und Rektor Löwenstein sehen den Hauptgrund in der Grosswetterlage: flächendeckender Ausbau der Ganztagsbetreuung, ein massiver Zuwachs von Privatschulen, demografischer Wandel. Der Missbrauchsskandal hat dem Internat nach dieser Lesart nur den Todesstoss versetzt. Aber auch die unerschütterliche Selbstsicherheit auf dem Berg hatte ihren Anteil. Viel zu lange verliess man sich auf den guten Ruf. In Blasien waren schon in den späten achtziger Jahren Mädchen zugelassen worden, in den frühen neunziger Jahren hatte man sich auch für eine internationale Klientel geöffnet. Der Verband katholischer Internate hat die Schliessung in einer Pressemitteilung bedauert. Teile des Textes lesen sich aber auch wie verblümte Kritik: «Viele unserer Mitgliedseinrichtungen haben die vergangenen Jahre dazu genutzt, sich inhaltlich neu aufzustellen, und gewannen dadurch an Attraktivität.»

Realschule und neue Vielfalt

Solange am Aloisiuskolleg alles gut lief, mischte sich niemand ein. «Der Orden hat sich sehr viele Jahre überhaupt nicht ums Ako gekümmert», sagt Löwenstein. Doch seit den Missbrauchsfällen hat sich das geändert. Und mit ihrer Aufarbeitung kamen auch neue Fragen auf den Tisch: Wer wird hier ausgebildet? Was ist mit der sozialen Frage? Vielleicht auch: Was springt eigentlich noch für den Orden dabei heraus? Die Söhne und Töchter der heutigen Abteilungsleiter und Staatssekretäre gehen aufs Berliner Canisius. Ob Nachwuchs für den Orden noch aus der Schule kommen kann, ist fraglich.

Früher gingen die Veränderungen am Ako zu langsam. Jetzt gehen sie sehr schnell. Unter Siebner wurde ein Plan entwickelt, einen Realschulzweig einzurichten. Es liegt eigentlich nur an den Schulbehörden, ob das geschieht. «Der Bedarf in der Stadt ist da», sagt Löwenstein. Er fand auch die Idee seines Kollegen am Canisiuskolleg, eine Lehrerin mit Kopftuch einzustellen, nicht schlecht. Während Kollegshefte früher exzellente akademische Leistungen dokumentierten und das aussergewöhnliche Angebot abbildeten, steht das neueste Heft unter dem Motto «Vielfalt». Deren Mangel am Ako hatte Löwenstein, der vorher am kulturell bunten «Kleinen Michel» in Hamburg als Pfarrer gearbeitet hatte, gleich zu Anfang überrascht. Bei seiner Vorstellung als neuer Rektor auf dem Kollegsfest vor einem Jahr rutschte ihm als Erstes heraus: «Ihr seht ja alle gleich aus.»

Der Autor war selbst mehrere Jahre Schüler am Aloisiuskolleg in Bonn.