2. These zur Zukunft: Kinder sind Sklaven ihres Handys

Drohen sie ­dadurch wirklich, geistig zu verarmen?

Rolf Degen
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Anna Haas

Das Smartphone, für viele Jugendliche längst zu einem zweiten Gehirn geworden, wendet sich gerade in einem heimtückischen Sabotageakt gegen das körpereigene Denkorgan und richtet dessen Leistungsfähigkeit zugrunde. Untergangspropheten malen mit Statistiken und Diagrammen die verheerenden psychohygienischen Folgen einer gesellschaftlichen Umgestaltung an die Wand, die mit Steve Jobs’ denkwürdiger Vorstellung des iPhones im Jahr 2007 begann. Doch trotz ausgefuchsten wissenschaftlichen «Belegen» tragen diese Mahnrufe häufig die Züge einer übersteigerten moralischen Panik, ähnlich jener, die frühere Elterngenerationen satanische Botschaften an Teenager in rückwärts abgespielten Rockmusik-Schallplatten fürchten liess.

Die demographischen Eckdaten lassen keinen Zweifel daran, dass das Smartphone bei Heranwachsenden in wenigen Jahren den Rang eines unabdingbaren Alltagsbegleiters eingenommen hat. Rund 80 Prozent aller Deutschen ab 14 Jahren besitzen ein Smartphone, 85 Prozent davon haben es, unabhängig vom Alter, stets griffbereit. Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 verbringen täglich gut zweieinhalb Stunden in den sozialen Medien, die meiste Zeit via mobiles Internet.

Jeder fünfte Nutzer inspiziert kurz nach dem Aufwachen sein Handy, knapp 70 Prozent erweisen ihm in den Minuten vor dem Schlafengehen die letzte Ehre. Die Hälfte lässt sich sogar freiwillig von Mitteilungen aus dem Tiefschlaf reissen. Nach ihren eigenen Schätzungen starren Jugendliche 37 Mal täglich aufs Display, doch Wissenschafter wiesen ihnen gar 85 Blickkontakte nach.

Laut einer Umfrage des Mobilfunk-Fossils Motorola befällt zwei Drittel aller Nutzer Panik, wenn sich der «Knochen» gerade einmal nicht da befindet, wo er eigentlich hingehört. Und eine Studie an der Universität München zeigt auf, wie schmerzhaft der Gedanke an eine auch nur vorübergehende Abnabelung geworden ist: Nicht einmal für einen ganzen Tag mit ihrem Lieblingskinostar hätten 74 Prozent der Nutzer einen Monat lang Smartphone-Verzicht geübt.

Angesichts der obsessiven Bindung und dem opulenten Digitalkonsum stellt sich die Frage, ob da nicht ein Tsunami auf die Gesellschaft zurollt. Eine eindeutige Antwort gibt seit Jahren der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer, der in einer Serie apokalyptischer Bestseller immer wieder gegen das Abrutschen der modernen Welt in die «digitale Demenz» anschimpft. Auch sein neuestes Opus, «Die Smartphone-Epidemie», zieht über die jugendverderbende Seuche her. «Smartphones machen weder schlau noch glücklich, sondern bewirken das genaue Gegenteil.» Sein US-Pendant, die Psychologieprofessorin Jean Twenge, stösst mit Büchern und Magazinbeiträgen ins gleiche Horn: «Die Diagnose ist nicht übertrieben, dass die iPhone-Generation am Rande der schlimmsten geistigen Gesundheitskrise seit Jahrzehnten steht.»

Untergangsprophetie

Die Schwarzseher gehen im Kern immer gleich vor: Sie registrieren eine Assoziation zwischen zwei Variablen – etwa Smart­phonegebrauch und Depression, Selbstmordrate oder Einsamkeit – und leiten daraus ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis ab, kritisiert Twenges amerikanische Kollegin Sarah Rose Cavanagh. Nach dem Muster: Der Rückgang der Störche führt zur Verminderung der Kinderzahl. Andere Einflussfaktoren, die zur gleichen Zeit auftreten, und positive Veränderungen, die den vorgefertigten Schuldspruch trüben, werden ausgespart.

Ein schönes Beispiel ist das Beweisstück, das Spitzer in seiner aktuellen Anklageschrift gegen die verdummende Wirkung des Smartphones anführt. Ausgangspunkt ist eine überraschende Beobachtung, die Psychologen erst vor einigen Jahren machten: Die Punktwerte, die Menschen in den Industrienationen beim Lösen von Intelligenztests erzielen, hatten seit der Einführung der Tests kurz nach Beginn des 20.Jahrhunderts unentwegt zugenommen. Dieser nach seinem Entdecker, dem australischen Sozialwissenschafter James Flynn, benannte Flynn-Effekt sorgt unter den Experten immer noch für Rätselraten. Weniger bekannt dürfte jedoch die Tatsache sein, dass der scheinbar unaufhaltsame Intelligenzzuwachs etwa um 1999 zum Erliegen kam und sich in einen gegenläufigen Trend verkehrte. Laut einer statistischen Gesamtschau über 13 Länder und Hunderttausende Personen büssen die gleichen Nationen jetzt pro Dekade etwa 1,5 IQ-Punkte ein.

Über die möglichen Ursachen dieses Anti-Flynn-Effekts, der bei jüngeren Personen stärker ausfällt, wird in der Fachpresse gerade lebhaft diskutiert. Allerdings besteht unter führenden Intelligenzforschern Einigkeit, dass von allen vorgeschlagenen Ursachen keine einzige den Trend stringent erklären kann: schlechtere Schulbildung, sinkende Lesefreude, Zuwanderung oder Dysgenik, das heisst höhere Fortpflanzungsrate unter weniger Intelligenten. Die Forscher stehen vor einem intellektuellen Scherbenhaufen. Was aber Spitzer nicht daran hindert, den schwarzen Peter triumphierend auf den zeitgleich gestiegenen Digitalkonsum zu schieben. Die Logik wäre etwas eleganter, wenn sich das Einsetzen des IQ-Schwunds mit Steve Jobs’ legendärem Auftritt von 2007 decken würde.

Wie willkürlich und beliebig diese korrelative Schuldzuweisung ist, lässt das Fazit einer Studie ahnen, die die Österreicher Demographin Valeria Bordone unlängst im Fachblatt «Intelligence» publizierte. Grosse Testreihen in England und Deutschland hatten ergeben, dass bei den über 50jährigen der ursprüngliche Flynn-Effekt fröhliche Urständ feiert. Diametral entgegengesetzt zu Spitzer argumentiert Bordone: «Die Verbreitung von Computern und Mobiltelefonen im Alltag scheint für die ältere Bevölkerung eine kognitive Herausforderung mit positiven Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung ihrer kognitiven Fähigkeiten darzustellen.»

Instrument der Verdummung

Die seltsam ambivalente Sicht auf die Digitaltechnologie als Instrument der Verdummung und Gehirnverstärker spiegelt sich auch in dem von den Medien gehätschelten Klischee der Digital Natives wider. Beim Gedanken an die erste Generation, die unmittelbar in die Welt der IT hineingeboren wurde, kommt vielen das Bild des Whizz Kid in den Sinn, das in den Tiefen der Elektronik orgelt und ganz nebenbei die Firewall des Pentagons aushebelt. «Die Digital Natives haben die Generation vor ihnen überholt, wissen meist viel mehr über Technik und Social Media als die Personen, die ihnen eigentlich etwas beibringen sollten», käut gerade Deutschlands führendes Medienportal «Meedia» das Klischeebild wieder.

Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, unkte kürzlich die Zeitschrift «Nature»: «Der Digital Native ist ein Mythos, ein Yeti mit Mobiltelefon.» Das Blatt beruft sich dabei auf den US-Erziehungswissenschafter Paul Kirschner, der nach einer riesigen Literaturbeschau die ernüchternde Diagnose stellt: «Nach dem magischen Jahr 1984 Geborene verfügen nicht über ein tieferes Wissen über digitale Technologie.» Das Wissen, das sie haben, sei meist auf den Einsatz oberflächlicher Gerätefunktionen beschränkt.

Wenn überhaupt, waren es ausgerechnet ältere Semester, welche die den Digital Natives zugeschriebene Kompetenz besassen. Sie hatten sich vermutlich ihre Sporen in der Frühzeit der Digitalrevolution verdient, als das Equipment noch nicht mit der heutigen, benutzerfreundlichen «Usability» zur Passivität verführte. Die meisten Mitglieder der digital versierten Generation benutzten die Technologie genauso wie ihre Altvorderen: um sich passiv «Content» reinzuziehen.

Ein ewig wiederkehrendes Motiv in der Besichtigung der Jüngeren durch die Älteren besteht halt darin, dass letztere ihre verborgenen Angst- und Wunschvorstellungen auf erstere projizieren. Womöglich führte diese verborgene Dynamik Spitzers Feder, als er folgende Behauptung auftischte: «Smartphones fördern Risikoverhalten, vom Simsen während des Fahrens bis zum ungeschützten Geschlechtsverkehr.»

Was den Jugendsex angeht, könnte der Professor nicht weiter daneben liegen. Hatte seine Mitstreiterin Twenge doch erst kürzlich aus einer Studie, an der 26620 Amerikaner teilnahmen, den Schluss gezogen, dass heutige Jugendliche deutlich seltener Geschlechtsverkehr haben als frühere Generationen, geschützten und ungeschützten. Die Zahl der jungen Männer Anfang 20, die noch keinen Intimpartner hatten, war zum Beispiel von 8 Prozent 1972 auf 14 Prozent 2014 angestiegen.

Erlahmende Libido

Trotz gelockerten Sitten in allen Industrienationen, die darauf abgeklopft wurden, ist die Sexualfrequenz in den vergangenen Jahren zurückgegangen – quer durch die Altersklassen, aber am stärksten bei jugendlichen Probanden. Zu diesem Schluss kam der schwedische Ökonom Jeff Hearn. Gerade erst hat der Mainzer Mediziner Manfred Beutel die Flaute unter der Bettdecke in einer grossangelegten Studie für die Jahre von 2005 bis 2016 für Deutschland nachgewiesen: Sowohl das sexuelle Verlangen als auch die sexuelle Aktivität hatten in diesem Zeitraum, besonders in den jüngsten der befragten Altersgruppen, nachgelassen. Bei jungen Männern etwa hatte die Koitushäufigkeit um 9 Prozent abgenommen.

Mehr als der Hinweis auf die erlahmende Libido schockierte indes Twenges Verkündigung, dass junge Menschen heute einsamer, depressiver und selbstmordgefährdeter seien als frühere Kohorten. Schuld daran: das Smartphone, speziell der mobile Konsum sozialer Medien. Nach der Bekanntmachung hagelte es allerdings Kritik von Fachkollegen. Der Trend habe bereits deutlich vor dem Siegeszug des Handys eingesetzt und lasse alle alternativen Erklärungen ausser Acht. Den US-Medienpsychologen Andrew Przybylski stört es am meisten, dass die Angabe der Effektstärke fehlt: «Der Kontakt mit sozialen Medien erklärt in Wirklichkeit nur gerade 0,36 Prozent der Unterschiede in der Depressivität.» Kartoffeln zu essen sei genauso gefährlich.

Unmut erregt auch die notorische Weigerung der Untergangspropheten, von Ergebnissen Notiz zu nehmen, die nicht in ihr pessimistisches Weltbild passen. So fand der amerikanische Psychologe Christopher Ferguson bei einer Befragung von rund 20000 Eltern keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Konsum digitaler Medien dem Wohlbefinden und der seelischen Gesundheit ihrer Kinder schade. Aber selbst wenn die finsteren Diagnosen einen wahren Kern enthalten, sollten wir nicht jene Entwicklungen unter den Teppich kehren, die einer optimistischen Sichtweise Vorschub leisten. In der gleichen Zeit, in der der Einsatz der digitalen Technologie in die Höhe schnellte, sind viele Symptome destruktiver Rebellion im Teenageralter stark zurückgegangen. Und auch diese Veränderungen werden von einigen Wissenschaftern, mit mehr oder minder grosser Berechtigung, auf das Konto des digitalen Geräteparkes geschrieben.

Die Rate von Gewalt- und Eigentumsdelikten unter Jugendlichen ist um mehr als die Hälfte gesunken. Die Rate der Verurteilungen für Vandalismus verringerte sich in den USA zwischen 1994 und 2015 um 75 Prozent. Der Konsum von Alkohol, Nikotin und illegalen Drogen ausser Marihuana erreichte 2017 den niedrigsten Stand seit 40 Jahren. In den USA erreichten Schwangerschafts-, Geburts- und Abtreibungsraten von Teenagern historische Tiefststände. Schliesslich ist die Zahl der Todesfälle im Strassenverkehr unter Jugendlichen um etwa die Hälfte zurückgegangen; auch ihr Fahrverhalten wurde vorsichtiger.

Eine Ursache, die diesen Trends zugrunde liegen könnte, findet auch in Twenges Streitschriften Widerhall: dass Jugendliche heute später erwachsen werden. Nicht undenkbar, dass Smartphones und Spielkonsolen sie von den Lastern Erwachsener abhalten. Vielleicht reifen sie aber auch einfach in kleiner werdenden Familien immer behüteter heran. Wegen längerer Ausbildungszeiten benötigen sie grössere elterliche Fürsorge und werden erst später fähig, Verantwortung zu übernehmen.

Aber gerade diese Entwicklung versetzt Eltern in die Lage, ihren Kindern beim Umgang mit einer chancenreichen Technologie beizustehen, meint der Berliner Psychiater Jan Kalbitzer. Statt sich von Apokalyptikern einschüchtern zu lassen, sollten sie Smartphones lieber als ein enormes Potential ansehen und ihren Nachwuchs für eine zunehmend digitalisierte Zukunft rüsten. Und wenn es einmal Probleme gebe, sollten sie an den Schweizer Gelehrten Conrad Gessner denken, der schon 1565 vor den «verwirrenden und schädlichen» Folgen eines handlichen Gerätes warnte. Er meinte das gedruckte Buch.

Rolf Degen ist Wissenschafts­journalist und Sachbuchautor; er lebt in Bonn (D).

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom Dezember 2018 zum Thema "Kindheit in der Schweiz". Sie können diese Ausgabe bestellen oder NZZ Folio abonnieren.