Alles Gute schon vergessen? Die AfD konterkariert bewusst die deutsch-deutsche Erzählung von Stabilität und Wohlstand: Dresdner am Rande einer Kundgebung für eine offene Gesellschaft. (Bild: Gabriel Kuchta / Getty)

Alles Gute schon vergessen? Die AfD konterkariert bewusst die deutsch-deutsche Erzählung von Stabilität und Wohlstand: Dresdner am Rande einer Kundgebung für eine offene Gesellschaft. (Bild: Gabriel Kuchta / Getty)

Dieser Streit ist überfällig: Was ist los mit Ostdeutschland?

Mit den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen gab es eine weitere Verschiebung hin zum Rechtspopulismus. Kann die AfD dort, wo einst DDR war, überhaupt noch besiegt werden? Welches sind die historischen Erblasten, dass der Rechtspopulismus dieser Partei im Osten verfängt?

Claudia Schwartz
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Seit 1990 begeht Deutschland den Tag des Mauerfalls. Am 9. November jährt sich das historische Ereignis zum 30. Mal, aber von Feierlaune ist derzeit kaum etwas zu spüren. Damit unterscheidet sich 2019 eklatant von den 29 Jahren zuvor.

Noch zum 25. Erinnerungstag herrschte ausgelassene Freude darüber, dass die deutsche Spaltung so glücklich ausgegangen war. Das einst geteilte Berlin liess sich anrühren von einer Kunstinstallation, welche die Mauer als Lichtgrenze so wunderbar nachvollzog. Nicht nur die Deutschen, die Welt schaute «auf ein strahlendes Symbol des Friedens und des Lichts» (BBC). Das ist fünf Jahre, eine Flüchtlingskrise, den Aufstieg der AfD und – ja: eine Ewigkeit her.

Wie sehr sich nun wieder Ressentiments Luft machen, zeigt in diesen Tagen das «Spiegel»-Magazin mit seiner Coverstory. Unter dem Motto «So isser, der Ossi» prangt da jenes Deutschland-Käppi, wie es vergangenes Jahr in Dresden ein krawalliger Pegida-Demonstrant trug, der bundesweit Schlagzeilen machte. Die Ostdeutschen sind alles krakeelende Rechtsextreme, soll das wohl heissen. Man fühlt sich zurückversetzt in Zeiten unmittelbar nach der Wende, als intellektuelle Vertreter der alten Bundesrepublik wie Arnulf Baring ganz selbstverständlich von ehemaligen DDR-Bürgern als «charakterlich Belasteten» schrieb.

Die AfD macht Stimmung

Offene Grobheiten sind also wieder salonfähig. Grund dafür ist vor allem das schrille, destruktive Nein zum bundesrepublikanischen Konsens, das unaufhörlich aus dem Osten erschallt. Es wird befeuert vom autoritären Populismus der AfD, die hier gezielt ihre Identitätspolitik betreibt mit Angstmache, Hetze, Rassismus. Nach den Europawahlen und einer drohenden weiteren Verschiebung hin zum Rechtspopulismus liegt seit den bevorstehenden Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern die Frage in der Luft, ob, wo einst DDR war, die AfD bereits unbesiegbar sei.

Und wenngleich sich die Mehrheit weiterhin für Demokratie und Freiheit ausspricht, so ist doch in der allgemeinen Wahrnehmung die AfD längst die Partei des Ostens, den man im Übrigen noch nie so richtig verstanden hat. Zumindest hält man sich in jenem Teil Deutschlands, wo die rechtspopulistische Partei nicht die gleiche Wirkung erzielt, gern an diese Zuschreibung, die sich gerade der «Spiegel» im tiefsten Westen Hamburgs auf die Fahne schreibt. Chemnitz beispielsweise gilt spätestens seit dem Aufmarsch der Rechten im Spätsommer 2018 als AfD-Hochburg, obwohl die meisten Bürger dort mit dieser Partei überhaupt nichts zu tun haben.

Zunehmend im Zwist liegen aber auch die Ostdeutschen untereinander. Ehemalige Bürgerrechtler sehen derzeit ihr vorrangiges Verdienst an der Wende, ihr historisches Erbe infrage gestellt und empören sich über jene, die feststellen, dass die friedliche Revolution eine Massenbewegung gewesen sei. Hundert DDR-Oppositionelle wehren sich zudem in einem offenen Brief gegen die «Geschichtslüge» im Wahlkampf der AfD, welche die Gegenwart mit Slogans wie «Vollende die Wende» zur DDR zusammenschrumpfen lässt. Hier wie da wird man dabei den Eindruck nicht los, dass die Bürgerrechtler schon mehr gegen den eigenen Bedeutungsverlust ankämpfen, als dass sie in der aufgeheizten Stimmung dieses Wahlkampfs zu dringenden politischen Fragen etwas Vernünftiges beitragen.

Im Westen alles besser?

Wo sich nun also im Vorfeld des runden Jubiläums alle schon gegenseitig das geblümte Porzellan an den Kopf werfen, das normalerweise den fein gedeckten Erinnerungstisch der friedlichen Revolution ziert, wird das Gedenken 2019 zum Lackmustest.

In diesem Kontext ist es bemerkenswert, dass jene, die sich derzeit mit differenzierten Voten zu Wort melden, unisono kritisieren, dass die ostdeutsche Erfahrung in der Auseinandersetzung und im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik bis heute keinen festen Platz hat. Eine dringende Notwendigkeit, darüber miteinander ins Gespräch zu kommen, hatte indes bis anhin niemand gesehen. Denn die Wiedervereinigung war auch eine Einigung darüber, dass im Osten alles schlecht war und im Westen alles besser. Die meisten Westdeutschen hätten «bis heute nicht verstanden, was die Nachwendezeit wirklich für die Menschen im Osten bedeutete», stellt die sächsische Gleichstellungsministerin Petra Köpping (SPD) fest und fordert eine «gesamtdeutsche Aufarbeitung» der Verwerfungen und Verletzungen der Nachwendezeit.

Das ist richtig und wichtig, wobei man hinzufügen muss, dass die Ostdeutschen die Einheitsbedingungen kräftig mitgestaltet haben, woran sich heute viele einfach nicht mehr erinnern wollen. Es würde es den Ostdeutschen leichtermachen, sie könnten sagen: «Wir hatten damals eine klare Haltung zu unserer DDR – politisch, wirtschaftlich, alltagskulturell.»

Aber dem war nicht so, als in jenem Herbst vor dreissig Jahren aus «Wir sind das Volk» schnell «Wir sind ein Volk» wurde. Wer 1990 direkt nach der Währungsunion in einer Randgegend wie Görlitz in ein Geschäft ging, konnte selbst dort keine Ostprodukte mehr finden, weil die eben keiner mehr kaufen wollte. Damit sorgte der Osten selber dafür, dass die eigenen Waren auf dem Markt keine Chance hatten, was wiederum den Unternehmen, die überlebt hatten, bald den Garaus machte.

Bürgerliche Kontrollinstanzen gegenüber dem Staat heben Diktaturen mit der Organisation von Massenkundgebungen auf. Im Bild eine DDR-Veranstaltung in Weimar im Jahr 1975, im Hintergrund ein Bild von Ernst Thälmann, der in der DDR als Held und Märtyrer verehrt wurde. (Bild: Thomas Hoepker / Magnum)

Bürgerliche Kontrollinstanzen gegenüber dem Staat heben Diktaturen mit der Organisation von Massenkundgebungen auf. Im Bild eine DDR-Veranstaltung in Weimar im Jahr 1975, im Hintergrund ein Bild von Ernst Thälmann, der in der DDR als Held und Märtyrer verehrt wurde. (Bild: Thomas Hoepker / Magnum)

Das Opfergefühl

Das alles stellte die eigene Lebensleistung infrage. Die berühmten Tempolinsen wurden zum Sehnsuchtsort für die eigene untergegangene Welt. Die deutsche Wende hat die Biografien der Ostdeutschen umgekrempelt, sie fühlten sich übervorteilt, abgehängt, viele haben es nicht verkraftet, nicht wenige, es ist so, haben sich umgebracht.

Heute sehen sich viele, die geblieben sind, als Opfer – von der Politik verlassen, des eigenen Lebens beraubt. Die Mehrheit, welche die Ideologie der AfD nicht teilt, ist eben auch durch diese Erfahrungen gegangen. Für sie ist es umso bitterer, dass Ostdeutschland heute als Landesteil angesehen wird, wo nichts als der Rechtsradikalismus blüht, wie es der «Spiegel» nun mit dem Klischee des primitiven «Ossis» gerade wieder beschwört.

Die AfD holt derweil die Ostdeutschen äusserst geschickt bei ihrer Umbruchserfahrung ab. Dass man eine Krise der Gegenwart heraufbeschwört, als wäre die DDR zurückgekehrt, offenbart nur einmal mehr den bodenlosen Zynismus dieser Partei im Umgang mit der deutschen Geschichte. Konterkariert wird damit nicht zuletzt und ganz bewusst die deutsch-deutsche Erzählung von Stabilität und Wohlstand.

Mit dem Hinweis auf den Transformationsschock, den vergeblichen Kampf um Selbstanerkennung, mit der wachsenden Unzufriedenheit in der Gesellschaft wäre aber der soziokulturelle Humus, in dem die AfD ihre populistische Saat anzusetzen vermag, nur unzureichend erklärt.

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk weist darauf hin, wie sich der Begriff der «Zivilgesellschaft» unter dem Eindruck der osteuropäischen Umbrüche nach 1990 etablierte, worunter «Selbstorganisierung, Selbstkontrolle, Selbstermächtigung in der Demokratie» fallen. Genau diese Kontrollinstanzen gegenüber dem Staat heben Diktaturen in der Organisation von Massenorganisationen und Massenaufmärschen auf, unter der Folge leidet Ostdeutschland bis heute.

Bleibt die Frage nach dem demokratischen Verständnis. Aber politische Standards «existierten nicht», wo auf den Nationalsozialismus sogleich die kommunistische Diktatur folgte, schreibt die Autorin Ines Geipel. Anhand ihrer Familiengeschichte macht sie deutlich, wie über fünfzig Jahre repressive Herrschaft sich auswirkten und die Bereitschaft zu rassistischen und autoritären Einstellungen sich über Jahrzehnte verfestigen konnte.

Bevormundung und Unterdrückung war die normale Erfahrung – es ist das Gegenteil von Demokratie. Viele Menschen wollten genau aus diesem Grund nach 1990 mit Politik und Parteien nichts mehr zu tun haben. Auf diese Weise verstärkt sich aber nur nochmals das Gefühl, abgehängt zu sein, weil in einer parlamentarischen Demokratie gesellschaftliche Willensbildung durch Teilnahme stattfindet.

Demokratie heisst mitdiskutieren, mitbestimmen, andere Meinungen aushalten – im Osten ist das immer noch nicht selbstverständlich. So bleibt Raum für die «nicht aufgearbeiteten Traditionen von Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus» (Kowalczuk). Es sei nichts als logisch, dass die AfD dieses politische «Experimentierfeld für rechte Gesinnungen» annektiert habe, so Geipel.

Enorme Verdrängungsleistung

Selbst der Umgang mit dem Holocaust, die Vergangenheitsbewältigung, mit der die Bundesrepublik sich nach der Wiedervereinigung auf eine neue Identität verständigte, wurde dem Osten übergestülpt. Dabei ging vergessen, dass man dort damit nichts anfangen konnte, wo die kommunistische Legendenbildung vierzig Jahre davon erzählt hatte, dass der Faschist drüben im Westen wohne.

Zwei deutsche Diktaturen liessen das Individuum im Kollektiv untergehen. Man gab vor, alle würden am selben Strang ziehen, und kultivierte jene Vorstellung vom Fürsorgestaat, die bis heute als Anspruchshaltung in der ostdeutschen Gesellschaft fortlebt.

All dies hat zu einer enormen Verdrängungsleistung geführt, mit der Folge, dass mancher sich wieder mit der DDR identifizieren kann. Die AfD macht sich diesen verklärenden, ungesunden Patriotismus, der wenig zu tun hat mit der Realität in der DDR, im derzeitigen Wahlkampf geschickt zunutze.

Nach dreissig deutsch-deutschen Jahren lässt sich sagen, dass es bis anhin beim Ost-West-Thema auf beiden Seiten der einstigen innerdeutschen Grenze wenig Bereitschaft zur Differenzierung gibt. Geredet wurde im vereinten Land kaum über die tiefer liegenden Probleme, die dazu führen, dass der von der AfD geführte Kulturkampf im Osten gegen die liberale deutsche Gesellschaft überhaupt greifen kann.

Der Streit, der jetzt ausbricht, war überfällig. Die Aufforderung, miteinander zu reden und die Dinge beim Namen zu nennen, kommt indes derzeit von Leuten mit Ostbiografie wie Geipel, Köpping oder Kowalczuk. Interessieren sich die Westdeutschen für dieses Thema?

Es bricht hier etwas auf. Im Jubiläumsjahr scheint die Zeit gekommen, dass sich die Deutschen ernsthaft gemeinsam anstrengen.

Weiterführende Literatur: / Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. Verlag C. H. Beck, München 2019. 319 S., Fr. 24.90. / Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 256 S., Fr. 31.90. / Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten. Christoph-Links-Verlag, Berlin 2018. 208 S., Fr. 27.90.


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