Der Rechtsstand der EU ist festgezurrt, das spürt auch die Schweiz. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Der Rechtsstand der EU ist festgezurrt, das spürt auch die Schweiz. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Gastkommentar

Die EU, Brexit und die Schweiz: Wer nicht drinnen ist, ist draussen

Ist die EU im Brexit-Prozedere zu stur? Das vielfach übersehene Problem: Die 28 Mitgliedsregierungen können nicht andauernd um den Verhandlungstisch sitzen.

Beat Kappeler
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Unnachgiebig bis stur erscheint die Position der EU gegenüber dem Brexit, vorher gegenüber den Bitten David Camerons um mehr Flexibilität, sodann gegenüber dem Rahmenvertrag der Schweiz oder den bankrotten Griechen. Schuld daran ist jedoch nicht ein schlechter Charakter der Unterhändler der EU, wie leichtfertige Kritiker meinen. Sondern die EU kann nicht anders. Der heutige Integrationsstand der EU rührt von den jahrzehntelangen Kompromissen im Ministerrat («Rat der EU») her, von den gewundenen, langjährig erdauerten Maastrichter und Lissabonner Verträgen, von wegbestimmenden Einzelentscheiden des Gerichtshofs und der daraus abgeleiteten, weitgehenden Zuständigkeit der Kommission in Brüssel.

Fehleinschätzungen

Schon von Anfang an war die Kommission allein zuständig für den Aussenhandel der Zollunion EWG-EG-EU, nicht mehr die Mitgliedsländer. Hinzu kamen die laufend neu übertragenen Kompetenzen aus Rat und Verträgen, aber vor allem auch einsame Entscheide des Gerichtshofs, die nur durch einstimmige Vertragsrevisionen rückgebaut werden könnten – ein fast aussichtsloses Unterfangen. Solche Entscheide schufen den Vorrang des EU-Rechts vor nationalen Verfassungen, sie erlaubten der Kommission, viele neue Bereiche zu regeln, weil der Wettbewerb durch nationale Regeln verzerrt sein könnte. Die Kommission kann dank Gerichtsurteilen die individuellen Grundrechte extensiv auslegen und über nationale Regeln stellen.

Hinzu kommt die praktische Seite – die 28 Mitgliedsregierungen können nicht andauernd um den Verhandlungstisch sitzen. Die Kommission ist täglich am Werk, die Minister tagen nur alle paar Wochen im Rat. Premierministerin Theresa May hat daher die rechtliche wie die praktische Seite falsch eingeschätzt, als sie den einzelnen Hauptstädten nachreiste und dort Kompromisse suchte. Genauso irreal verhielt sich sodann das britische Parlament, als es über vier Verhandlungsvarianten abstimmte – als ob 650 Parlamentarier auf der einen Seite und Monsieur Barnier für die EU auf der andern Tischseite verhandeln könnten. Die Wünsche des Bundesrates vor einem halben Jahr, mit einsichtigen EU-Instanzen das Rahmenabkommen nachbessern zu können, waren ebenso illusionär. Der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis beschreibt diese Mauer, gegen die auch er anrannte, unter dem Titel «Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment». Auch er merkte spät, dass die EU – nicht das Establishment – weder vorwärts noch rückwärts kann.

Denn die vielen Gräben in materiellen Fragen der letzten 20 Jahre, mühselig gekittet, würden jederzeit wieder aufbrechen, falls die Kommission nachgäbe. Diese Streitpunkte in materiellen Fragen waren etwa die Dienstleistungsrichtlinie 2006, heikel zwischen Liberalisierung und Zulassungsregeln balancierend. Man stritt sich um Fischereirechte in der Nordsee. Frankreich und Dänemark kämpften immer wieder um ihre Landwirtschaftsinteressen. Der ganze Osten der EU schert bei Migration weitgehend schon aus, verficht aber die Freizügigkeit für seine entsandten Arbeitnehmer. Undenkbar also für die Kommission, nun nachzugeben, vor allem gegenüber einem untreuen, austretenden Mitglied, gegenüber dem Nichtmitglied Schweiz oder damals gegenüber dem sündigen Mitglied Griechenland. Nachverhandeln würden dann alle andern Mitglieder auch wollen.

Allerdings bewegt sich das ganze weitere Umfeld gegenüber dem festgezurrten Rechtsstand der EU. Bisher galt «der immer engere Zusammenschluss» als Devise, und der Euro wurde sogar ausdrücklich als «unwiderruflich» bezeichnet. Als dennoch Krisen diese Fixierung infrage stellten, konnte die EU nur mit Rechtsbrüchen reagieren. Die Maastricht-Kriterien wurden und werden nicht angewandt, das Beihilfe-Verbot an Euro-Mitglieder wurde materiell gebrochen mit den Hilfspaketen, die Freizügigkeit und die Migration aus den Schengen- und Dublin-Verträgen sind vielfach umgangen.

Festgefahrene Imperien

Zwei Folgerungen sind zu ziehen: Wer nicht drinnen ist, ist draussen. Dieser nicht immer bequeme Realismus lenkt den Blick auf den Freihandel durch die Welthandelsorganisation, auf andere Handelspartner, auf den Drittland-Zustand immerhin der meisten anderen Länder in der Welt, die damit auch leben. Die oft protektionistischen Binnenregeln der EU behindern diese oft auch selbst.

Der zweite Schluss ist unbequem für die EU. In ihren Regeln erstarrte Imperien erlebten den Wandel schliesslich als Eruption – die Habsburger, die Zaren, das Osmanische Reich, die Sowjetunion, Frankreich 1789. Alexis de Tocqueville schrieb in seinem weniger bekannten Buch über das Ancien Régime, der gefährlichste Moment festgefahrener Staaten komme, wenn man dann doch reformieren wolle – dann komme die Eruption. Reformen oder Rechtsbrüche bahnen dies an. Viele raten der EU nach dem Brexit nun zu innerer Flexibilität. Kein schlechter Rat, wenn er zeitig kommt.

Beat Kappeler ist Ökonom und Buchautor. Seine jüngste Veröffentlichung: «Staatsgeheimnisse. Was wir über unseren Staat wirklich wissen sollten». NZZ Libro, 2016.