Stadler Rail in Brasilien: das Wunder von Rio de Janeiro

In der krisengeschüttelten brasilianischen Grossstadt liefert Stadler Rail die neue Zahnradbahn zur Christusstatue. Für den Schweizer Bahnhersteller und den deutschen Kreditgeber ist das ein Prestigeprojekt. In Rio ist man euphorisch, dass alles geklappt hat.

Alexander Busch, Rio de Janeiro
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Über eine Million Besucher sollen jährlich mit der renovierten Bahn zum Cristo Redentor hochfahren. (Bild: Henry Romero / Reuters)

Über eine Million Besucher sollen jährlich mit der renovierten Bahn zum Cristo Redentor hochfahren. (Bild: Henry Romero / Reuters)

Regenwolken verhüllen die Cristo-Redentor-Statue. Trotz Frühlingsbeginn ist es in Rio de Janeiro mit 22 Grad empfindlich kalt. Und doch scheint es, als leuchte ein Lichtstrahl durch die tiefliegenden Wolken, als der Schweizer Bahnhersteller Stadler Rail am Mittwoch die neuen Züge der Corcovado-Bahn dem Betreiber übergibt. «Ich bewundere alle Unternehmer, die in Rio bleiben und sogar investieren», ruft ein Staatssekretär euphorisch beim Festakt in der Talstation. Ein Tourismusbeautragter der Regierung wünscht sich, dass endlich auch gute Nachrichten «wie diese» über Rio verbreitet würden. In der von der Krise, von Korruption und Kriminalität gebeutelten Stadt am Zuckerhut ist es eine Art Wunder, dass ein Schweizer Bahnhersteller eine nagelneue Zahnradbahn fristgerecht entwickelt, liefert – die dann auch noch funktioniert. Auch dass die komplexe Finanzierung durch die deutsche Landesbank Baden-Württemberg steht und der private Betreiber die neuen Züge in Empfang nimmt, ohne selber bereits angeschlagen oder in Skandale verwickelt zu sein – auch das scheint erstaunlich in einer Stadt, in der mehrere Gouverneure und ein Dutzend der führenden Unternehmer im Gefängnis sitzen und die ansässige nationale Entwicklungsbank BNDES wegen fehlender Mittel nur noch ein Schatten ihrer selbst ist.

Die Bahn und der Cristo sind einerseits für Rio de Janeiro Wahrzeichen der Stadt und gehören zu den führenden Touristenzielen Südamerikas. Andererseits stehen sie für den technischen Fortschritt Brasiliens. 1884 wurde die knapp vier Kilometer lange Zugstrecke zum Corcovado von Kaiser Pedro II eröffnet. Damals noch mit einer Dampflokomotive, mit der dann auch die Bauteile der Christusstatue hinauftransportiert wurden. Zahlreiche Prominente seien schon in der Bahn gefahren, wie – so wirbt die Betreibergesellschaft Esfeco – Papst Johannes Paul II., Prinzessin Diana und Albert Einstein. Es geht also um Tradition, nationale Symbolik und Geschäft – die perfekte Mischung, um ein Projekt zum Scheitern zu bringen. Nicht nur in Brasilien.

Als der Betreiber 2005 die ersten Gespräche mit Stadler Rail aufnahm, um die seit 1976 genutzte dritte Generation des Rollmaterials zu erneuern, zogen sich die Verhandlungen rund zehn Jahre hin bis zur Auftragsvergabe. Zeitweise waren die Beteiligten nicht mehr sicher, ob das alles funktionieren würde.

Die Zahnradbahn arbeitet sich zum Gipfel vor. (Bild: Oskar Sjostedt / Trem do Corcovado)

Die Zahnradbahn arbeitet sich zum Gipfel vor. (Bild: Oskar Sjostedt / Trem do Corcovado)

Der Betreiber Esfeco wollte mit der Renovierung zum einen die Lizenz verlängern und zum andern die Umsätze steigern: Rund 800 000 Besucher nutzen jährlich die Bahn. Eine Fahrt kostet derzeit rund 15 Fr. Eine Million Fahrgäste peilt Sávio Neves, der Sohn der Betreiberfamilie, als Jahresziel an. Denn wegen der langen Schlangen in der Saison und am Wochenende fahren viele Tourveranstalter inzwischen mit Kleinbussen zum Cristo hoch. Dieses Publikum will Sávio Neves zurückgewinnen. Doch um überhaupt den Zuschlag für eine verlängerte Lizenz zu bekommen, musste Neves sich verpflichten, die Bahn zu modernisieren.

So wandte sich Neves an Stadler Rail. Die Firma hatte 1998 den Zahnradbahnbereich der ehemaligen Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) von Sulzer übernommen, welche die Zahnradbahn 1979 für die Strecke produziert hatte. Inzwischen ist Stadler Rail weltweit der einzige Anbieter solcher Vehikel.

Die Aufgabe sei herausfordernd gewesen, sagt Dirk Vogt, der Projektleiter. Die Fahrzeuge durften nur wenig vergrössert werden, weil der Schienenstrang schmal durch den Regenwald führt und die Bahnhöfe unter Denkmalschutz stehen. Ausserdem betrage die Steigung teilweise über 30% im oberen Segment. Stadler Rail steigerte die Geschwindigkeit, wodurch sich in gleicher Zeit mehr Fahrgäste befördern lassen. Statt mit 15 Kilometern pro Stunde hochzuzockeln, zieht sich die neue Bahn nun mit 25 Kilometern pro Stunde aufwärts. Nur noch knapp 15 Minuten braucht sie für die Auffahrt. Bei der Abfahrt wird die Bremsenergie eingespeist, was zu einer Ersparnis von 75% beim Stromverbrauch führt.

Die Bahn wurde für den Betreiber massgeschneidert. Fast alle Teile kommen aus der Schweiz, hergestellt in Bussnang. Keine Vorschriften für lokale Herstellung behinderten das Projekt. Auch die sonst üblichen Zölle entfielen, weil es in Brasilien keinen Hersteller gibt. Für Stadler Rail sei das ein wichtiges Prestigeprojekt. Die Marge bei dem Auftragswert von rund 25 Mio. Fr. sei «nicht astronomisch». Man wolle vermeiden, mit überhöhten Preisen Konkurrenten anzuziehen, heisst es beim Hersteller. Wenn man zu teuer sei, bestehe zudem die Gefahr, dass die Bahnstrecke geschlossen oder eine Seilbahn errichtet werde. Und auch in China werde an Zahnradtechnik getüftelt.

Nachgefragt bei Neves, was er davon halte, mit einem Monopolisten zu verhandeln, sagt er: «Da wird nicht viel verhandelt.» Der charismatische Unternehmer, der auch politische Ambitionen hat und in mehrere Tourismusprojekte Rios investierte, erklärt: «Ich bezahle, was die verlangen.»

Schwierig war es zudem, die Finanzierung zusammenzubekommen. Dies gelang erst, nachdem sich Esfeco 2014 die Lizenz für den Weiterbetrieb erneut hatte sichern können. Bis 2039 kann das Unternehmen nun die Bahn betreiben. Cristian Oppen, Geschäftsführer der Landesbank Baden-Württemberg in Brasilien, schusterte die Finanzierung mit Vorlauf über 16 Jahre zusammen. Das sei eher eine Projekt- als eine Export-Import-Finanzierung. Das Wechselkursrisiko liegt jedoch beim Kunden. Auch für die schwäbische Bank ist das ein Leuchtturmprojekt. Dazu Oppen: «Wenn wir ein Zementwerk in den Anden finanzieren, bekommt das keiner mit – in Rio sind wir sichtbar.»

Als die erste Komposition in der verregneten Abenddämmerung mit den Gästen losfährt, ist noch nicht viel zu sehen von dem legendären Blick auf die Stadt am Zuckerhut. Doch dann, oben angekommen, löst sich der Regennebel plötzlich auf, und der Art-déco-Erlöser leuchtet im Scheinwerferlicht wie eine Erscheinung – das Wunder von Rio, es scheint es zu geben!

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