Luftaufnahme vom Ätna nach einer Phase der Aktivität im November 2018. (Bild: Fabrizio Villa / Getty)

Luftaufnahme vom Ätna nach einer Phase der Aktivität im November 2018. (Bild: Fabrizio Villa / Getty)

Der Ätna spuckt nicht nur Lava, sondern auch Wasser

Der Vulkan auf der Insel Sizilien ist einer der aktivsten der Erde. Seine Regungen werden darum rund um die Uhr überwacht. Ein Besuch vor Ort.

Kurt de Swaaf
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Der erste Schuss verhallt noch ungehört. Rund 15 Kilometer ist die Aussichtsplattform am Forte Mulino a Vento vom Gipfel entfernt – zu weit für diese eher kleine Entladung. Man sieht sie dafür umso besser. Eine dicke, graue Aschewolke quillt hervor und wird sofort vom Wind ostwärts gelenkt. Boris Behncke lächelt. «Das könnte was werden», meint er. Die letzte Eruption fand vor gut einer Woche statt, seitdem war es ruhig. Ob der Berg nun wiedererwacht? Wie zur Antwort folgen der Aschefahne ein paar weisse Dampfschwaden. Behncke deutet derweil auf die diversen kleineren Kegel, die sich in der Landschaft erheben. «Das sind alles Kinder der Mama Ätna.» Jeder dieser Minivulkane steht für einen Flankenausbruch.

Der Monpeloso beim Dorf Nicolosi zum Beispiel spie im Jahr 253 einen mächtigen Lavastrom in Richtung Catania. Um die Stadt zu schützen, habe man den Schleier der heiligen Agathe vor die Tore getragen, erzählt Behncke. Das wirkte, wie es schien. Der Legende nach gebot die Reliquie der Glut Einhalt. Es sollte nicht das letzte Wunder dieser Art sein. Himmlischer Beistand wird am Ätna immer mal wieder benötigt.

Ätna

Deformation am Speckgürtel

Für Boris Behncke ist der Umgang mit der Naturgewalt praktisch Alltag. Der deutsche Vulkanologe lebt seit 1997 auf Sizilien und arbeitet als Wissenschafter am Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologica (INGV), in der Zweigstelle Catania. Die dort tätigen Fachleute haben die Aufgabe, den Feuerberg nicht nur zu erforschen, sondern ihn vor allem zu überwachen. Knapp 900 000 Menschen leben in seinem Umfeld, 312 000 von ihnen in Catania. Das Gebiet zwischen der Grossstadt und dem Südhang hat sich während der letzten Jahrzehnte in einen dicken Speckgürtel verwandelt. Diese Urbanisierung ist ein stetig wachsendes Sicherheitsrisiko, wie Behncke betont. Ein hier durchziehender Lavafluss würde gewaltige Schäden anrichten – vom menschlichen Leid ganz zu schweigen.

Im Dezember 2018 schien eine solche Katastrophe zu drohen. Damals registrierte das INGV eine Bodendeformation an der Südflanke. Ein Teil des Hangs blähte sich auf. «Wir befürchteten einige Tage lang, dass sich dort ein neuer Krater öffnen würde.» Der Zivilschutz war knapp davor, die Alarmstufe Rot auszurufen, womit er vor einem unmittelbar bevorstehenden Ausbruch warnt. Zum Glück hielt die Schwellung danach inne.

Wäre der Ernstfall eingetreten, hätte man dank moderner Technik schon zu Beginn des Ausbruchs ein erstaunlich präzises Bild der Lage gehabt. Die Gefahrenpotenziale der gesamten Ätna-Region seien bestens kartiert, erklärt Boris Behncke. «Wir haben in den letzten 20 Jahren für jeden Punkt in einem Raster von 50 Metern Simulationen gemacht.» Falls sich also an einer Stelle X die Erde öffnet und eine Menge Y an Lava freisetzt, lässt sich deren weiterer Weg gut vorhersagen. Das ermöglicht vor allem schnelle und effiziente Evakuierungsmassnahmen. Sämtliche Szenarien wurden in einer riesigen Datenbank zusammengefasst, auf die natürlich auch der Zivilschutz Zugriff hat.

Ätna, die weibliche Macht

Die Morgensonne steht inzwischen über den Bäumen, und oben am Gipfel steigt weiterhin Qualm auf. Die Dämpfe scheinen an verschiedenen Stellen zu entweichen, wie aus einem undichten Kessel. Kein Wunder: «Der Berg ist im Dezember regelrecht auseinandergerissen worden», berichtet Behncke. «Der Osthang rutschte zwei Meter in Richtung Meer.» Das blieb nicht ohne Folgen. Mehrere Erdbeben erschütterten die Region, das schwerste mit einer Stärke von 4,9 liess am zweiten Weihnachtsfeiertag zwei Glockentürme einstürzen und beschädigte diverse weitere Gebäude, zum Teil erheblich. Im Dörfchen Fleri liegen die Trümmer noch immer herum. Die dortige Kirche hatte man gerade restauriert. Sie wurde bereits vom Ausbruch im Jahr 1984 heimgesucht. So ist das eben am Ätna, wo die Menschen seit eh und je mit den Launen des Vulkans leben müssen. Für die Einheimischen sei «la montagna», «die Bergin», übrigens eine eindeutig weibliche Macht, erklärt Behncke. Er selbst spricht stets von «Ätna», ohne Artikel, als wäre es der Vorname einer vertrauten Person.

Kurz nach zehn bekommt der Wissenschafter einen Anruf aus dem Institut. Eine neue Eruption hat tatsächlich begonnen. Nur wenig später erscheint an der Südwestseite der Spitze eine langgezogene, weisse Wolke. Wie sich herausstellen wird, öffnet sich dort ein Riss. Lava tritt aus und fliesst herab. Richtig sehen kann man sie aus der Distanz noch nicht, aber das wird sich ändern. «Früher hatte Ätna oben nur einen einzigen Krater», erzählt Boris Behncke. Mittlerweile sind es fünf. Der jüngste, Neuer Südostkrater genannt, brach erst 2011 auf. «Dieser Berg ändert sich ständig.» Der Forscher zeigt auf die dunkelgraue Masse neben dem alten Gipfel – ein gut 240 Meter hoher Haufen aus 150 Millionen Kubikmetern Gestein, der den Neuen Südostkrater umgibt. «Das ist fast alles in den letzten acht Jahren entstanden. Man hat nur wenige Vulkane auf der Welt so schnell wachsen sehen.» Insgesamt erhebt sich der Ätna mehr als 3300 Meter über dem Meeresspiegel und ist damit der höchste Berg einer Mittelmeerinsel.

Durchschlagene Sedimente

Im Altpleistozän, vor 1,8 bis 0,8 Millionen Jahren, sah die Gegend noch ganz anders aus. An der Stelle des Vulkans lag damals eine breite Meeresbucht. Darunter regte sich allerdings die Erde. Die afrikanische Kontinentalplatte prallte im zentralmediterranen Raum auf ihr eurasisches Gegenstück. Diese Kollision in Zeitlupentempo brachte jede Menge Dynamik in die Erdkruste und öffnete dem Magma vermutlich einen Weg nach oben. «Wie ein Reissverschluss», meint Behncke. Die ersten Ausbrüche gab es vor rund 540 000 Jahren, doch sie fanden nur sehr sporadisch statt. «Dann, vor etwa 100 000 Jahren, hat Ätna beschlossen, ein Berg zu werden.» Seine Aktivität nahm stark zu.

Der Vulkanschlot indes durchschlug eine dicke Schicht mariner Sedimente, die sich in der besagten Bucht gebildet hatte. Über diesen Tonablagerungen deponierte der Ätna nun sein poröses Gestein. Die Folgen sind heute ein Segen für die Region. Der ganze Berg, sagt Behncke, habe sich mit Wasser vollgesogen wie ein Schwamm. Durch den Ton kann das kostbare Nass nicht in die Tiefe entweichen. Es muss seitlich abfliessen und tritt darum aus Tausenden Brunnen aus. Abgesehen davon fängt der Ätna durch seine schiere Grösse vor allem am Osthang viele Wolken ab. Die daraus entstehenden Niederschläge sichern den Wassernachschub. «Das ist das grösste Geschenk, was uns diese alte Dame machen kann.»

Am frühen Nachmittag ist die Eruption in vollem Gange. Der Berg rumort jetzt wie ein schlecht gelaunter Drache, das tiefe Grummeln ähnelt einem heraufziehenden Gewitter. Alessandro Logenco ist nicht beeindruckt. Der Agronom der «Cantina Nicosia» stapft durch einen Weinberg und erklärt die Vorzüge des vulkanischen Sandbodens. «Er ist arm an organischem Material, aber reich an Spurenelementen.» Die körnige Struktur gewährleistet zudem eine gute Drainage – beste Bedingungen für eine robuste Entwicklung der Rebstöcke. Geschmacklich zeichneten sich die hier angebauten Weine besonders durch ihren Mineralgehalt aus, sagt Logenco. Dem Vulkan sei Dank. Doch dessen Gaben hätten mitunter einen Preis, betont der Fachmann. Steht der Wind falsch, ziehen die Ausdünstungen manchmal in Bodennähe über die Hänge. Die Gase sind nicht nur für Menschen gesundheitsschädlich, sie greifen auch die Pflanzen an. Smog aus dem Erdinnern sozusagen.

Die Eruption des Ätna auf einer Illustration von Achille Beltrame (ca. 1910). (Bild: Leemage / Imago)

Die Eruption des Ätna auf einer Illustration von Achille Beltrame (ca. 1910). (Bild: Leemage / Imago)

Lava im Dunst

Der Lavastrom kriecht über die Südwestflanke talwärts. Abends, nach Einbruch der Dunkelheit, ist er mehr als zwei Kilometer lang und sein Glühen sogar von den Strassen Catanias aus zu sehen. Am Gipfel des Ätnas leuchten währenddessen die Wolken auf. Das pulsierende Orange sendet eine unmissverständliche Botschaft: Das Inferno hat seine Pforten geöffnet. Ein paar kleine Lavafontänen durchbrechen die Dunstschwaden. Auswärtige mag das Schauspiel in seinen Bann ziehen, die lokale Bevölkerung dagegen nimmt vom heutigen Geschehen kaum Notiz. Eruptionen dieses Formats sind ziemlich häufig. Bei richtig spektakulären Ausbrüchen schiesse die Lava in stehenden Säulen mehrere hundert Meter hoch, erklärt Boris Behncke. «Das ist dann schon eine Erfahrung.»

Über Nacht beruhigt sich die Lage. Die Hangstrasse bleibt offen, und am Morgen wird auch der Zugang zu den oberen Bergetagen teilweise wieder freigegeben. Jetzt schlägt die Stunde der Touristen. Ganze Bataillone Buntgekleideter lassen sich zu horrenden Preisen mit einer Seilbahn in 2500 Meter Höhe transportieren. Von dort aus geht es per Geländebus weiter – heute allerdings nur bis Belvedere, eine Klippe mit freier Sicht auf die Vulkanspitze und das Valle di Bove. Genervte Bergführer halten Selfie-Shooter vom Sturz in die Tiefe ab. Das Gelände gleicht einer Mondlandschaft. Graues Gestein überall. Ein Damm aus erstarrter Lava durchzieht das Terrain. Die Wölbung des Neuen Südostkraters ist weiterhin von Dampfwolken umflort. Wieder drängt sich der Vergleich mit einem überdimensionierten Schnellkochtopf auf. Die Wasserdampfemissionen sind tatsächlich extrem hoch und betragen ein Vielfaches der Menge, die physikalisch gesehen in Magma enthalten sein könnte. Der Geologe Carmelo Ferlito bezeichnet den Vulkan deshalb provokatorisch auch als «gigantischen Geysir». Ganz ernst dürfte das allerdings nicht gemeint sein.

Boris Behncke hat an diesem Sonntag Spätschicht. Zusammen mit einem Kollegen sitzt er bis Mitternacht im oberen Stock des INGV-Gebäudes und lässt Daten über den Bildschirm laufen. Das Innere des Kontrollraums könnte kaum verschiedener sein als der Rest des neoklassizistischen Palais. Zwei Wände sind voller Monitoren. Sie zeigen die Kurven diverser Messgeräte und Live-Aufnahmen von Wärmebildkameras. Auf einem ist ein Querschnitt des Vulkans mit farbigen Punkten zu sehen. Jeder Tupfen zeige das Epizentrum eines kleinen Erdbebens, erklärt Behncke. Davon gab es alleine in den vergangenen 24 Stunden gleich mehrere Dutzend. Die meisten dieser Bewegungen werden allerdings nur von der Technik registriert, die Bevölkerung merkt nichts. «Ab Stärke 2,5 müssen wir es melden.» Typische Ätna-Beben treten oft in geringer Tiefe auf, ihr Zentrum liegt manchmal nur einen Kilometer unter der Erdoberfläche. In solchen Fällen kann auch eine relativ schwache Erschütterung schon Schäden anrichten.

Knisterndes Gestein

Zur ständigen Überwachung des Feuerbergs haben die Vulkanologen mächtig aufgerüstet. Die klassischen Seismografen und Geophone sind nur ein Teil ihres Arsenals. GPS-Stationen, Neigungsmesser und satellitengestütztes Radar melden auch die geringsten Deformationen der Erdoberfläche, während Gasmesser die Ausdünstungen an den Hängen analysieren. Weitere Spezialsensoren erfassen den Infraschall – gewissermassen das Rumoren im Bauch des Ätnas. Sogar winzige Veränderungen in der Schwerkraft werden aufgezeigt.

Das Geschehen haben die Experten also bestens im Blick, aber lässt sich ein Ausbruch damit auch vorhersagen? Nicht wirklich. Für eine Eruption braucht es in erster Linie jede Menge Magma. Das Aufsteigen dieser höllischen Masse im Röhrensystem eines Vulkans löst den sogenannten vulkanischen Tremor aus, und der ist leicht zu erkennen. «Das Gestein knistert und knackt», wie Boris Behncke erzählt. Doch auch wenn der Tremor ins Crescendo geht, kommt es oft nicht zum Ausbruch. Fachleute sprechen dann von einer «failed eruption», einer «misslungenen Eruption» also. «Wie ein gescheiterter Nieser», meint Behncke. Ursache unbekannt. «Das ist eines der grossen Probleme der modernen Vulkanologie.» Es zu lösen, wäre nicht nur ein wissenschaftlicher Durchbruch. Auch der Zivilschutz will Fehlalarme unbedingt vermeiden, sonst nehmen die Menschen die Warnungen irgendwann nicht mehr ernst.

An diesem Abend bleibt es ruhig. Die Monitoren melden nur schwache Signale, Boris Behncke wird sogleich per Communiqué das offizielle Ende des Ausbruchs bekanntgeben. Das Inferno indes schläft nicht. Unterirdisch pressen unvorstellbare Kräfte stetig neues Magma nach oben. Seit Jahresbeginn schwelle die Ostflanke des Vulkans erneut an, berichtet Behncke. «Ätna ist dabei, nachzuladen.» Zuvor war sogar ganz Catania um einen halben Zentimeter angehoben worden. «Es ist offenbar ein recht grosses Reservoir», meint der Forscher trocken. Sant’Agatas Schleier wurde 1886 zum letzten Mal gegen das vulkanische Wüten in Stellung gebracht. Hoffentlich wird die Heilige nicht bald wieder ihre Wunder vollbringen müssen.

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