Frauen und Kinder haben in patriarchal geprägten Gesellschaften im Vergleich zu Männern wenig Rechte: Ein Bub verkauft in Aleppo Joghurt. (Bild: Mahmoud Hebbo / Reuters)

Frauen und Kinder haben in patriarchal geprägten Gesellschaften im Vergleich zu Männern wenig Rechte: Ein Bub verkauft in Aleppo Joghurt. (Bild: Mahmoud Hebbo / Reuters)

Abdullah aus Aleppo erinnert sich – wenn Traumatisierungen in der Herkunftsfamilie zum Fluchtgrund werden

Flüchtlinge leiden oft unter mehrfacher Traumatisierung. Neben dem Krieg entfliehen manche der Gewalt, die sie in ihrer Heimat in der Schule, im Militär oder in der Familie erleben. Der Syrer Abdullah ist einer von ihnen.

Necla Kelek
Drucken

Viel ist die Rede von Traumatisierungen der Flüchtlinge, die vor allem seit 2015 aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Deutschland gekommen sind. Die Gründe liegen in Krieg und Flucht. Wenig thematisiert wird dabei, dass manche dieser Migranten schon vor dem Ausbruch des Krieges durch Gewalterfahrungen in ihren patriarchal geprägten Gesellschaften traumatisiert wurden. Die deutsche Soziologin Necla Kelek hat für ihr soeben erschienenes Buch «Die unheilige Familie – wie die islamische Tradition Frauen und Kinder entrechtet» (Verlag Droemer) mit vielen Migranten geredet. Hier erzählt sie die Geschichte des 28-jährigen Syrers Abdullah (Name geändert), der 2016 aus Aleppo nach Deutschland kam. Die Gespräche mit ihm führte sie in einem Übergangswohnheim in Berlin.

Abdullahs Schulzeit: «Meine erste richtige Erinnerung ist meine Einschulung mit sieben. Ich hatte mich sehr auf die Schule gefreut. Mein Vater hatte mir einen Anzug, ein Heft und einen Bleistift gekauft. Ich war aufgeregt und dachte, nun wird es gut. Mein Vater hatte meine Mutter verstossen. Sie musste zu ihrer Familie zurück und durfte uns nicht mehr sehen. Ich habe elf Geschwister. Meine Schwestern kümmerten sich um uns.

Mein Vater brachte mich bis vors Schultor. Wir wurden in die Klasse gerufen, die mit dreissig bis vierzig Kindern überfüllt war. Die Lehrerin begrüsste uns und rief unsere Namen auf, dann durften wir wieder in den Hof. Ich war ausgelassen und spielte mit zwei Freunden Fangen. Das sah der Rektor und beorderte uns in sein Zimmer. Er sah uns an, sagte etwas von Unruhestiftern und rief nach ein paar älteren Schülern aus der siebten Klasse. Sie kamen mit Stöcken und spannten eine Schnur dazwischen zu einem Bogen. Sie schubsten uns auf den Schulhof, wo sie schon einen Bock aufgestellt hatten. Ich musste meine Schuhe und Strümpfe ausziehen und mich bäuchlings auf den Bock legen. Sie schoben den Bogen über meine Füsse oberhalb der Knöchel und drehten ihn, so dass sich das Blut in meinen Füssen staute. Dann schlugen sie mir mit einer Rute auf die Fersen. Alle Kinder mussten bei der Falaka, wie man diese Bestrafungsmethode nennt, zusehen. Meine Schwester trug mich nach Hause.

Aus meiner heutigen Sicht war die Schule dazu da, uns zu demütigen. Für jede Kleinigkeit wurden wir geschlagen. Kamen wir zu spät, schlugen die Lehrerinnen uns auf die Hände, was im Winter, wenn die Finger verfroren waren, besonders weh tat. Es ging nicht darum, uns etwas beizubringen, sondern uns das Lernen auszutreiben. Ich konnte nach fünf Jahren weder lesen noch schreiben.»

Die Familie: «Mein Vater liebte mich, weil ich gerissener war als meine Brüder und Tricks kannte, um bei Geschäften mehr herauszuholen. Doch er hat uns geschlagen. Als mein Bruder einmal Brot kaufen ging, wollte ihm ein Junge auf der Strasse das Brotgeld stehlen. Mein Bruder wehrte sich, die älteren Brüder des Jungen kamen und brachen ihm den Arm. Er musste ins Krankenhaus. Aber das war nicht sein Kummer. Er sagte: ‹Das verzeiht mir Vater nie.› Als er wieder nach Hause kam, beachtete mein Vater ihn zuerst nicht. Erst als er den Arm wieder bewegen konnte, rief ihn der Vater zu sich und schlug ihn mit einem Stock, weil er ihm Schande bereitet hatte. Ich fand das ungerecht. Aber ich liebe meinen Vater, weil er mein Vater ist, und würde ihn nie infrage stellen.»

Abdullahs Familie wohnte in einem zweistöckigen Haus, das zwei Türen hatte: die Haupttür für die Männer und eine kleinere Tür für die Frauen.Wenn einer der Brüder Lebensmittel eingekauft hatte, klopfte er an die Tür der Frauen. Dann kam die Älteste herunter und nahm die Sachen in Empfang. Die Jungen gingen niemals in den Frauenbereich. Die Männer und Jungen wohnten im unteren Bereich und konnten das Haus verlassen und betreten, ohne dass sie den Frauen begegneten. Die Jungen waren draussen auf der Strasse und kamen erst nach Hause, wenn auch die Älteren von der Arbeit zurückkehrten. Die Männer bekamen dann von den Frauen das Essen serviert.

Auch im Haus wichen sich Männer und Frauen aus. Zu ihrem Schutz seien Kontakte zwischen den Geschlechtern vermieden worden, sagt Abdullah. Meist waren die Männer am Morgen fort, bevor die Frauen am nächsten Morgen herunterkamen, um aufzuräumen oder sauber zu machen. «Meine Schwestern hatten kein eigenes Leben», sagt er. Sie mussten im Haushalt arbeiten und gingen nur die obligatorische Zeit zur Schule. Sie warteten darauf, verheiratet zu werden. Das war meist mit dreizehn oder vierzehn Jahren.

Die Arbeit: Sobald sich Abdullah eine Gelegenheit bot, brach er die Schule ab. Da war er zwölf. «Ich konnte die Grausamkeiten nicht mehr ertragen. Da ich bei meinen Cousins in der Polsterei schon während der Schulzeit als Laufbursche ausgeholfen hatte, wurde das zu meiner Hauptarbeit. Ich holte Tee, räumte die Werkstatt auf, putzte, brachte den Müll raus. Drei Cousins betrieben die Polsterei, der Älteste war der Chef, auch Abi genannt. Er redete mit den Kunden, teilte die Arbeit ein und kassierte das Geld. Die beiden anderen nähten und bezogen die Möbel und freuten sich, dass ich nun ständig da war.

Nach etwa einer Woche befahl mir der Abi, an einem Sessel, der eigentlich abholbereit war, ein paar Fransen abzuschneiden. Er selber war im Teehaus verabredet. Ich hatte noch nie eine Schere in der Hand gehabt, wagte ihm das aber nicht zu sagen. Prompt rutschte die schwere Schere aus und stach ins Polster – eine Katastrophe. Ich weinte. Der Abi packte mich am Nacken und schubste mich ins Lager. Er nahm einen Massstab und schlug so lange auf mich ein, bis ich das Bewusstsein verlor. Die offene Wunde am Rücken verheilte schwer, weil niemand sie richtig versorgte. Als ich hier in Deutschland einmal zur Untersuchung war, fragte die Ärztin, ob ich die Narbe vom Krieg hätte. Ich sagte: ‹Ja, Krieg ist schrecklich!› Und schämte mich.

Mein Cousin hat sich nie entschuldigt. ‹Das soll dir eine Lehre sein›, sagte er nur. Er war noch brutaler als mein Vater. Wenn mich mein Vater schlug, rief er mich nach ein oder zwei Tagen zu sich und streckte mir die Hand hin, damit ich sie küssen konnte.»

Das Militär: «Als ich erfuhr , dass ich zur Armee muss, war ich neunzehn Jahre alt. Ich freute mich und hoffte, nun würde sich mein Leben ändern. Diese Hoffnung war das Schönste in meinem Leben. Mit der Einberufung zum Militär änderte sich mein Ansehen in der Familie. Plötzlich gehörte ich zu den echten Männern und wurde von meinem Vater, den Brüdern und Cousins entsprechend behandelt.

Ich kam mit etwa 2000 anderen Rekruten in ein Camp. Drei Tage lang passierte nichts. Wir bekamen altes Brot und mal ein Ei zu essen und warteten. Dann plötzlich kam morgens um 5 Uhr der Befehl, im Hof anzutreten. Wir mussten alle in Reihe stillstehen. Dann kam der Kommandant, stellte sich vor uns hin und schrie: ‹Ihr seid hier, weil ihr lernen müsst, gegen unseren Feind Israel zu kämpfen. Nur die Besten können das. Beweist, dass ihr die Kraft habt, sonst seid ihr hier falsch.›

Es war Februar, gefühlte null Grad, und es regnete nassen Schnee. Ich fror. Der Offizier brüllte: ‹Alle ausziehen!› Ein Feuerwehrwagen fuhr vor, ein Löschschlauch wurde ausgerollt. Wir zogen uns bis auf die Unterhosen aus und legten unsere Kleider auf den Boden. Der Kommandant nahm den Schlauch und begann den Wasserstrahl auf uns Männer zu richten. Einige, die vom eiskalten Wasser getroffen wurden, fielen hin. Sie wurden von Soldaten aus der Reihe gezerrt und zur Seite getreten. Ich zitterte am ganzen Körper vor Kälte und Angst.

Ich sah Kameraden sterben. Nicht durch den Feind, sondern durch die unmenschliche Behandlung der eigenen Offiziere. Wenn jemand umkam, und das waren einige, schickte man den Eltern eine Nachricht und als Trost einen Kanister Schafskäse. Das war alles.

Als ich vom Militär zurückkam, bot mein Vater mir an, mit ihm eine Wasserpfeife zu rauchen. So wurde ich in die Männergemeinschaft aufgenommen. Ab da durfte ich mitreden, wenn die Männer abends im Hof sassen und erzählten.»

Die Heirat: «Eines Tages, ich war inzwischen 21, bekam ich im Militär von meinem Abi einen Anruf. Er sagte: ‹Es gibt gute Nachrichten. Du bist verlobt worden, und wenn der Wehrdienst vorbei ist, wird geheiratet.› – ‹Wen denn?›, fragte ich. Er antwortete: ‹Selma, die kleine Schwester meiner Frau.›»

Abdullah hatte das 13-jährige Mädchen noch nie gesehen. Die Verbindung wurde vorbereitet. Abdullahs Mutter – der Vater hatte sie zurückgeholt – ging zur Mutter der zukünftigen Braut, die gleichzeitig ihre Schwester war. Die Tradition verlangt, dass zuerst die Mütter miteinander reden. Am Anfang forderte die Familie der Braut ein Brautgeld von umgerechnet rund 5000 Franken. Geeinigt haben sie sich dann auf die Hälfte, für die Aussteuer der Braut. Es gab keine grosse Hochzeitsfeier, sondern nur ein gemeinsames Essen der Familien. Abdullah war ganz zufrieden mit seiner Braut.

Die Flucht: Abdullah floh 2012 nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien mit seiner Frau und ihrer Familie in die Türkei und arbeitete dort als Polsterer in einem Möbelladen. 2016 machte er sich allein mit der Hilfe eines Schleppers über Griechenland auf den Weg nach Deutschland. Die 4ooo Euro «Reisekosten» zahlte er von seinen Ersparnissen.

Weitere Themen