Erwin Schrödinger bei einer philosophischen Vorlesung an der Universität Wien am 13. April 1956. (Bild: AKG)

Erwin Schrödinger bei einer philosophischen Vorlesung an der Universität Wien am 13. April 1956. (Bild: AKG)

Als ein Physiker Ordnung ins Leben brachte

Vor 75 Jahren erschien das Buch «Was ist Leben?» von Erwin Schrödinger. Es ist ein Klassiker der Wissenschaft. Zugleich ist es aber auch ein Paradox der Wissenschaftsgeschichte: Obwohl fehlerhaft, hatte es eine immense Wirkung.

Karl Sigmund
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Gleich in der Einleitung hält Erwin Schrödinger fest: Wenn ein Wissenschafter die Grenzen seines Fachs überschreite, riskiere er, sich lächerlich zu machen. Aber, so meint Schrödinger entwaffnend, irgendwer müsse es ja tun: «So viel zu meiner Entschuldigung.» Ein Physiker, der sich in die Biologie vorwagt, muss Kritik vertragen können. Und die kam dann auch.

Was in Schrödingers Buch richtig sei, sei nicht neu, und das Neue sei schon beim Erscheinen als falsch bekannt gewesen, meinte der Nobelpreisträger Max Perutz. «Vermutlich ein negativer Beitrag zur Biologie», ätzte der Nobelpreisträger Linus Pauling. Und Sydney Brenner, auch er Nobelpreisträger, prangerte lauthals «Schrödingers fundamentalen Irrtum» an. Das alles wurde allerdings erst Jahrzehnte im Nachhinein geäussert, als längst feststand, dass «Was ist Leben?» zu den wichtigsten Wissenschaftsbüchern aller Zeiten zählt.

Vorwegnahme der DNA

Die Bedeutung des Buches liegt weniger in seinem Inhalt – der war fehlerhaft – als in seiner stupenden Wirkung. Es bestimmte den Lebensweg einer ganzen Kohorte von brillanten Köpfen, die eine neue Wissenschaft schufen – die Molekulargenetik. Diese erreichte ihren ersten, inzwischen legendären Höhepunkt im März 1953: Fast punktgenau zehn Jahre nach den Vorträgen, die Schrödinger später in seinem schmalen Buch zusammenfasste, entdeckten James Watson und Francis Crick die Doppelhelix – ein Molekül, das wie eine Strickleiter ausschaut, die sich um die eigene Achse schraubt. Die Anordnung der Sprossen, von viererlei Typ, codiert die Erbinformation.

Das war eine spektakuläre Bestätigung von Schrödingers Vermutung, dass die Gene «aperiodische Kristalle» seien, die «in einer Art Code», vergleichbar mit einer Morsebotschaft, die Entwicklung der Zelle steuerten. Im Nachhinein wirkt der Gedanke nicht mehr so revolutionär. Doch im Jahr 1944 konnte Schrödinger weder von Informationstheorie noch von Computerprogrammen wissen. Manche Chemiker monieren, dass er statt Kristall besser Polymer gesagt hätte, aber auch hier war Schrödinger fast hellsichtig. Denn es stellte sich bald heraus, dass die Erbsubstanz aus DNA-Polymeren besteht, die unter Laborbedingungen, also fern ihres Alltags in der lebenden Zelle, tatsächlich kristallisiert werden können. Diese Kristalle lieferten Maurice Wilkins und Rosalind Franklin die Daten, die zur Doppelhelix führten.

Francis Crick schickte Schrödinger Sonderdrucke der epochalen Arbeiten und fügte im Begleitschreiben hinzu, dass «Was ist Leben?» sowohl James Watson als auch ihn selbst, Francis Crick, stark beeinflusst habe. «Es schaut aus, als ob Ihr Ausdruck vom ‹aperiodischen Kristall› sich als ungemein treffend erweisen wird», fügte er hinzu.

Schrödinger antwortete nicht. Noch sonderbarer: Er äusserte sich nie wieder zu dem Thema, zumindest nicht schriftlich. Bis zu seinem Tod im Jahr 1961 verfasste er noch allerhand, über Materie, Bewusstsein, die alten Griechen und sich selbst, aber auf den Höhenflug der Molekularbiologie reagierte er nicht.

Im Exil in Dublin

Liefert die Vorgeschichte eine Erklärung? Schrödinger, der aus Wien stammte, war durch die statistische Mechanik Ludwig Boltzmanns geprägt und durch dessen Hang zur Philosophie. Als Professor in Zürich wurde Schrödinger Mitte der zwanziger Jahre zu einem der Begründer der Quantenphysik. Das brachte ihm einen Ruf nach Berlin. Doch nach der Machtergreifung durch Hitler im Jahr 1933 entschied er sich für Oxford. Im selben Jahr erhielt er den Nobelpreis für Physik. Drei Jahre später wechselte er zurück nach Österreich. Dort holte ihn Hitler ein. Wieder zog Schrödinger ins Exil – diesmal ans Dublin Institute for Advanced Studies, das der irische Premierminister Eamon de Valera zu dem Anlass gründete. Die Lehrverpflichtung bestand statutengemäss aus einer öffentlichen Vorlesung pro Jahr. 1943 wählte Schrödinger das Thema «Was ist Leben?». Eigentlich ging es dabei um die Frage: Was ist ein Gen? Schrödinger hatte sich mehr als ein Jahrzehnt lang mit dem Thema befasst.

Zwar lieferte er keine Antwort, doch der Erfolg der Vorträge war phänomenal. An drei aufeinanderfolgenden Freitagen füllten 400 Zuhörer das Auditorium, der Premierminister vorneweg. Im November des folgenden Jahres erschien das Buch, nicht weniger als 93 Seiten lang. Die Rezensionen waren grösstenteils begeistert, sieht man von kirchlichen und kommunistischen Organen ab. Im Wissenschaftsjournal «Nature» hob der berühmte Biologe J. B. S. Haldane launig hervor, dass in einer Zeit, da die meisten Physiker mit militärischen Aufgaben beschäftigt gewesen seien, Schrödinger drüben im neutralen Irland die Musse gefunden habe, sich der Genetik zuzuwenden. Schrödinger habe dieses Fach als «das wohl interessanteste unserer Zeit» bezeichnet. Noch interessanter als die Physik? Ob das die Nachwelt bestätigen würde? Der Genetiker Haldane deutete höfliche Zweifel an.

Seine Zweifel waren unbegründet. Die Genetik wurde in den Nachkriegsjahren zur interessantesten Wissenschaft, und das nicht zuletzt dank Schrödingers Buch. Es war genau im rechten Augenblick erschienen. Junge Physiker wie Francis Crick und Maurice Wilkins waren der militärischen Forschung überdrüssig geworden, ob sie nun Seeminen betraf oder Atombomben. Sie wechselten ihr Fach nach der Lektüre von «Was ist Leben?». Aber auch Chemiker wie Erwin Chargaff oder Gunther Stent, Mikrobiologen und Ärzte wie Jacques Monod und François Jacob und nicht zuletzt ein achtzehnjähriger Vogelkundler namens James Watson machten sich unter Einfluss des Buches daran, das Geheimnis der Gene zu entschlüsseln.

Die Suche nach dem Unbekannten

Doch ihre Antwort entsprach keineswegs Schrödingers Erwartungen. Er hatte zur Treibjagd geblasen, aber auf anderes Wild. Schrödingers Absicht war es nämlich zu zeigen, dass «die heutige Physik und Chemie offenbar nicht erklären kann», was räumlich und zeitlich innerhalb eines lebenden Organismus geschieht. Dort herrscht eine Ordnung, die sich dauerhaft dem Zugriff der Unordnung widersetzt, also der Boltzmannschen Entropie. Das lasse sich nicht auf die bekannten physikalischen Gesetze zurückführen, meinte Schrödinger.

Er glaubte dies aus den Experimenten des Berliners Max Delbrück herleiten zu können, eines ehemaligen theoretischen Physikers und zukünftigen Nobelpreisträgers. Aus dessen Treffertheorie für genetische Mutationen schloss Schrödinger, dass die Gene zu klein seien, als dass sie über längere Zeiten der thermodynamischen Unordnung standhalten könnten. Die Erbsubstanz gehorche vielmehr «bisher unbekannten anderen Gesetzen».

Mit dieser Auffassung stand Schrödinger nicht allein. Auch andere Väter der Quantenphysik, wie Niels Bohr oder Pascual Jordan, waren überzeugt, dass es neuer physikalischer Gesetze bedürfe, um das Leben zu erklären. Sie stellten sich darunter etwas ähnlich Tiefgründiges vor wie das Prinzip der Komplementarität beim Licht – ob es Welle oder Teilchen ist, hängt von der Versuchsanordnung ab. Schrödinger hatte für diese «Kopenhagener Deutung» nichts übrig, doch auch er suchte nach unbekannten Prinzipien. Er verglich den Unterschied zwischen lebender und unbelebter Materie mit jenem zwischen einer Dampf- und einer Elektromaschine. Etwas ganz Neues gehörte her.

Doch die Doppelhelix braucht keine neuen Naturgesetze. Die altbekannten Gesetze der Quantenmechanik reichen aus, um die trickreiche Vorrichtung zu verstehen. Der Kopiermechanismus der Gene beruht auf chemischen Bindungen und damit letztlich auf der Schrödinger-Gleichung. Ausgerechnet!

Paradoxerweise scheint das Schrödinger eine Enttäuschung bereitet zu haben, die das Aufspüren des aperiodischen Kristalls nicht aufwiegen konnte. Jedenfalls verlor er alles Interesse an der «wohl interessantesten Wissenschaft unserer Zeit».

Die Geschichte der Wissenschaft kennt derlei Ironie. Die Entdecker sind oft hinter etwas anderem her. So war Kolumbus bis zuletzt überzeugt, den Seeweg nach Indien gefunden zu haben. Fermi spaltete den Urankern und vermeinte ihn stattdessen vergrössert zu haben. Und Arthur Koestler schrieb von seinen Schlafwandlern, Kopernikus, Kepler und Co.: «Während ein Teil ihres Geistes nach mehr Licht verlangte, rief ein anderer nach mehr Dunkelheit.» Schrödinger muss diesen inneren Zwiespalt gespürt haben. Er zitierte in seinem Schlusskapitel den Philosophen Unamuno: «Wenn ein Mensch sich niemals widerspricht, dann wohl, weil er nie etwas zu sagen hat.»

Ausserdem hatte Schrödinger ja schon in der Einleitung um Entschuldigung gebeten.

Der Autor ist Professor für Mathematik an der Universität Wien.