Ob mit Laptop, Tablet oder Smartphone – im Internet sollten sich alle auf Augenhöhe begegnen. Aber dieses Modell wird zunehmend unterlaufen. (Bild: Aidan Crawley / Bloomberg)

Ob mit Laptop, Tablet oder Smartphone – im Internet sollten sich alle auf Augenhöhe begegnen. Aber dieses Modell wird zunehmend unterlaufen. (Bild: Aidan Crawley / Bloomberg)

Die Tech-Giganten predigen Demokratie – aber leben im alten Preussen

Die digitale Welt sollte flach werden, mit mehr Freiheit und Mitbestimmung. Ironischerweise züchtet sie nun eine gnadenlos effiziente – und vollautomatische – Bürokratie heran. Der Mensch gerät dabei ziemlich schnell und komplett aus dem Blickfeld.

Evgeny Morozov
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Drei Jahre nach Donald Trumps Amtsantritt hat sich die moralische Panik angesichts von Fake-News und des «postfaktischen Zeitalters» mitnichten gelegt. Vielmehr steigerte sie sich zum eigentlichen Kulturkrieg. Die Konservativen behaupten, dass Twitter und Facebook ihre Meinungen unterdrücken; Progressive werfen denselben Plattformen vor, sie täten nicht genug, um Hassreden und Wahlmanipulationen fremder Mächte zu verhindern.

Mark Zuckerbergs jüngste Anhörung im US-Kongress – bei der die Politiker darum wetteiferten, ihm den rhetorischen Todesstoss zu versetzen – ist kein gutes Omen für das Silicon Valley. Dessen einziger Retter ist zur Stunde die Kommunistische Partei Chinas. Nur ein endloser Handelsstreit mit China kann Amerikas Gesetzgeber daran hindern, den «strategisch relevanten» Technologiesektor zu regulieren; würde dieser Industrie der Teppich unter den Füssen weggezogen, bedeutete dies auch eine Schwächung von Washingtons Position im globalen Machtgefüge. Die Regierung Trump verschliesst die Augen nicht vor diesem Risiko.

Nur ein Teil der Geschichte

Die Beschwörung der Gefahr aus China hat den Technologiefirmen etwas Luft verschafft, aber ewig wird das nicht funktionieren. Wenn die Tech-Blase erst einmal platzt, wird der Hass auf das Silicon Valley noch wachsen; der Ruf nach Massnahmen wird lauter werden. Die öffentliche Demütigung von Wework und Uber, den einstigen Lieblingen der Tech-Investoren, ist ein Hinweis, dass die Toleranz gegenüber der Anmassung der Serviceplattformen (und ihrer Betreiber) im Schwinden begriffen ist. Mit stärkerer behördlicher Regulierung ist also zu rechnen – und der Flut von Fake-News einen Riegel zu schieben, wird dabei eine der höchsten Prioritäten sein.

Aber wie mächtig ist diese Flut? Was in der öffentlichen Debatte, aber auch in akademischen Diskussionen über das «Postfaktische» in der Regel unhinterfragt bleibt, ist die Annahme, dass wir in einer ausser Rand und Band geratenen Postmoderne leben: einer Zeit, in der es keine verbindliche Wahrheit mehr gibt, da keine einzelne, konsistente Erzählung mehr dem Ansturm radikal unterschiedlicher Weltsichten widerstehen kann, die von einer Vielzahl materiell, kulturell und ethnisch bedingter Erfahrungen geprägt sind.

Ehrlicherweise muss man zugeben, dass dies zu einem gewissen Grad zutrifft. Die Geschäftsmodelle der digitalen Plattformen, die algorithmischen Nudges, mit denen sie uns lenken, und die Filterblasen, die sich infolgedessen bilden, tragen einiges zu dieser Entwicklung bei. Aber die Fragmentierung der Wahrheit ist nur ein Teil der Geschichte, und vielleicht nicht einmal der wichtigste.

Kontroverses wird verborgen

Ein wenig wahrgenommenes Paradox der digitalen Welt liegt heute darin, dass sie zugleich das Postfaktische und das Hyperfaktische feiert. Während Erzählungen sich aufsplittern und konkurrierende Wahrheiten sich mehren, laufen parallel dazu Bemühungen, mithilfe von Bots, Ledgers und Algorithmen eine einzige, objektive und ewige Wahrheit zu generieren.

Die erste Stufe dieser «Objektivierung» begann mit Wikipedia. Obwohl die Plattform es ermöglicht hätte, unterschiedliche Lesarten und Interpretationen eines Themas oder Phänomens einzubringen, beschloss man irgendwann, dass eine Community von Herausgebern und Autoren, gestützt auf vertrauenswürdige und verlässliche Quellen, sich auf eine einzige Auslegung der Geschichte einigen sollte.

Kritiker von Wikipedia fokussierten vor allem auf die Tatsache, dass die Produktion von Wissen hier auf wahrhaft radikale Weise demokratisiert wurde: Jeder kann mitmachen! Dabei entging ihnen jedoch ein tiefer liegender und wesentlich konservativerer Aspekt des Projekts: Während bei vielen kontroversen Themen langwierige und oft bittere Debatten zwischen den Herausgebern entbrannten, wurde dies in der Präsentation der Artikel meist in keiner Weise sichtbar gemacht. Kontroverse und Uneinigkeit blieben dem Durchschnittsnutzer verborgen.

Stattdessen sorgte eine Flut von editorischen Richtlinien und Bestimmungen dafür, dass das Reglement als Massgabe für den Inhalt eines Eintrags sogar verbindlicher wurde als Informationen, welche die in einem Eintrag dargestellte Person selbst einbrachte. Daher klagen nicht wenige, dass Wikipedia Fehlinformationen über sie verbreitet, die sie aber nicht korrigieren können, weil sie offenbar keine «verlässliche» Quelle sind, wenn es um ihre eigenen Belange geht. Diese Verpflichtung auf Vernunft und Regeln ist das wahrhaft Moderne an Wikipedia, und sie hat bei Beobachtern einige Verwirrung ausgelöst.

Die Blockchain weiss alles

Die zweite Stufe der «Objektivierung» von Erzählungen begann mit der schnellen Expansion der Blockchain-Technologie. Diese schuf die Illusion, dass alles in Zahlenfolgen gepackt und irgendwann in unveränderlicher Form im Ledger (d. h. auf einer Datenbank) abgelegt werden kann: die perfekte Wahrheit, in Stein gemeisselt, an die niemand mehr rührt.

Diese Technologie, welche die Korrektheit finanzieller Transaktionen verifiziert, kann auch Produkte während ihrer ganzen Reise durch die Wertschöpfungskette kontrollieren (ob sie beispielsweise das Fair-Trade-Label wirklich verdienen) oder überprüfen, ob ein Markenartikel echt oder gefälscht ist. Sie besteht letztlich darin, dass in unveränderbaren Protokollen festgehalten wird, wer was wann getan hat; die Blockchain erfährt und weiss alles.

Solange das nur im begrenzten Bereich der kommerziellen Transaktionen und Computer-Ereignisse gilt, wirkt diese Annahme harmlos. Wenn man sie aber auf Substanzielleres überträgt – Politik, Kunst, Journalismus –, dann weckt diese «Epistemologie der Blockchain» die ziemlich perverse Erwartung, dass alles, was nicht auf Blockchain-freundliche Weise verpackt ist, per se durch Subjektivität, Bestechlichkeit oder eine tendenziöse Haltung korrumpiert ist. Subjektivität ist der Feind; Undurchsichtigkeit ist Sünde.

Mit anderen Worten: Hier wird eine Ironie der «postfaktischen» Welt sichtbar. Die Demokratisierung des Wissens ging einher mit einer Stärkung des bürokratischen Modells. Allerdings gilt dabei die menschliche Seite der Bürokratie als archaisch und uncool; man setzt auf «objektive» Algorithmen und Ledgers. Das wahre Utopia dieser Denkungsart – da und dort, etwa in Singapur und Estland, wird seine Kontur schon sichtbar – ist ein vollautomatisiertes bürokratisches System, das die Regeln mit preussischer Effizienz durchsetzt.

Populistischer Modernismus

Die digitale Kultur, die sich daraus ergibt, ist ein ziemlich seltsames Ding. Kein Wunder, dass sie die kognitive Dissonanz befördert, von der Bewegungen wie die Alt-Right zehren. Einerseits wird in populistischer Manier, die an Wikipedia erinnert, das Expertenwissen verabschiedet: Jeder ist gleich wie jeder andere, genau wie die Knotenpunkte im Blockchain-Netzwerk (ein weiterer Mythos). Anderseits wird der moderne Glaube an Vorschriften und Regulierungen gestärkt; obendrein meint man, mit quantitativen Mitteln lasse sich eine letztgültige Wahrheit finden, die anschliessend allen verfügbar gemacht werden könne – einzig kraft der Technologie und ganz ohne andere Vermittler. Wollte man dieser Ideologie einen Namen geben, dann würde «populistischer Modernismus» nicht schlecht passen.

Die Widersprüche in diesem bizarren ideologischen Mix sind offensichtlich: Man schiebt die Experten beiseite und ersetzt sie durch den Glauben an «Technologie» und «Fortschritt». Eine solche Auffassung verzichtet in der Regel auf jede vertiefte Diskussion über die politische Ökonomie der Technologie (und erst recht des Fortschritts); man hat nichts bei der Hand, um historischen Wandel zu erklären. Aber was steht letztlich hinter all den Technologien, die uns umgeben, was entwickelt und formt sie?

Die skizzierte Denkweise nutzt das Wort «Technologie» letztlich als Euphemismus für eine Klasse von Übermenschen – Wissenschaftern und Entwicklern, die in ihrer Freizeit gleich noch die Welt retten, indem sie neue Apps und Produkte erfinden. So kommen die Experten durch die Hintertür wieder ins Spiel – aber ohne formelle Anerkennung (und ohne dass die Möglichkeit besteht, sie auf demokratischem Weg anzufechten). Diese Experten – seien sie Redaktoren bei Wikipedia oder Blockchain-Entwickler – werden uns wie blosse Anhängsel der Triebkräfte von Technologie und Fortschritt präsentiert; faktisch sind oft sie es, die am Steuer sitzen.

Das ist nun schwerlich die sichere, verlässliche Grundlage, auf der eine demokratische Kultur florieren kann. Es ist eines, nach bewährter postmoderner Art «situiertes Wissen» und «multiple Episteme» zu feiern und jegliche Berufung auf eine letztgültige Wahrheit in den Wind zu schlagen – jeder Besuch in einem geisteswissenschaftlichen Seminar wird zeigen, dass dieses Vokabular an Hochschulen immer noch Konjunktur hat. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man dies tut und gleichzeitig ein System errichtet, das die Wahrheit algorithmisch durchsetzt – unter eifriger Anwendung bürokratischer Vorschriften und Regulierungen, die Bismarck wie einen Bastler aussehen lassen.

Schizophrener Effort

Facebook geht von der Annahme aus, dass die horizontale Kommunikation zwischen den Nutzern besser ist als die vertikale Beziehung zwischen Experten und Laien; damit ist es ein gutes Beispiel für dieses Dilemma. Aller Volksnähe zum Trotz müssen die Betreiber der Plattform jetzt nämlich der beneidenswerten Aufgabe nachkommen, ihre Algorithmen zur Bekämpfung von Fake-News einzusetzen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn man den Wert der Expertenmeinung anerkennt und der eigenen Tätigkeit eine einzige und einheitliche Weltsicht zugrunde legt.

Das Problem von Facebook ist, dass man sich dort des Problems nicht einmal bewusst ist. So wird das Unternehmen mit aller Wahrscheinlichkeit seine schizophrenen Bemühungen fortsetzen, weiterhin im Dunkeln herumstolpern und genau jene von Experten geführte Bürokratie errichten, die es eigentlich zerschlagen wollte.

Diese Anstrengungen werden zwar zu nichts führen, aber zumindest rücken sie eine fundamentale Wahrheit ins Bewusstsein, die wir anscheinend vergessen haben: Sowohl Fake-News als auch ihr Gegenteil, das exzessive Bemühen um Hyperrationalität, sind die Folgen – und nicht die Ursachen – unserer Probleme. Die Postmoderne hat nicht erst in Mark Zuckerbergs Zimmer im Studentenheim begonnen.

Evgeny Morozov ist Autor und Blogger. Er beschäftigt sich seit Jahren mit neuen Technologien und Medien, die er im Kontext von Ökonomie und Politik kritisch reflektiert. – Aus dem Englischen von as.